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Einunddreißigstes Kapitel.
Vater und Sohn

Das Gefängnis aller auf ihr gerichtliches Verhör wartenden Verbrecher war in Schloß Ruschen in Castletown. Dan Mylrea jedoch wurde nicht dorthin gebracht. Anläßlich der Einführung der Kupfermünze hatte im Süden der Insel ein allgemeiner Aufstand stattgefunden, und die vielen gefangen genommenen und dem allgemeinen Gericht überlieferten Aufrührer hatten das Gefängnis von Ruschen überfüllt. Zwanzig Männer mußten den Ort Tag und Nacht bewachen, um alle vierundzwanzig Stunden von einer abwechselnd aus den verschiedenen Parochien herzugezogenen und manchmal den Freunden und Verwandten der Gefangenen angehörigen gleichen Anzahl abgelöst zu werden, denen allen ihre Vorladung, dem alten Gebrauche gemäß, durch ein während der Nacht über ihrer Türe befestigtes hölzernes Kreuz zuging.

Dieser Umstand veranlaßte den Deemster zu dem außerordentlichen Versehen, seinen Untersuchungsrichter zu beauftragen, Dan nach dem unter dem verfallenen Schloß in Peeltown befindlichen Kerker zu schicken. Das Gefängnis auf der kleinen St. Patricks-Insel war schon seit Jahrhunderten unter der Obergewalt des geistlichen Gerichtshofes und stand demselben auch jetzt noch für Verbrecher kirchlicher Vergehen zur Verfügung. Der Kirchendiener war zugleich der Gefangenwärter, und der Bischof der alleinige Oberbefehlshaber und Gouverneur desselben. Alles dies war dem Deemster wohlbekannt, teils aber aus Trotz, teils aus Verachtung gegen seines Bruders Autorität, hauptsächlich aber aus bitterem Zorn über dessen gänzliche Hilflosigkeit der offenkundigen und eingestandenen Schuld seines Sohnes gegenüber, hatte er sich, da das zivile Gefängnis gefüllt war, ohne Zustimmung der geistlichen Gewalt das Recht angemaßt, Dan dem Kirchengefängnis zu überliefern.

Es war ein garstiger und ekelhafter unterirdischer Kerker, von dem Bischof Mylrea nur einmal Gebrauch gemacht hatte. Düster, enge, modrig, durch eine schmale Stiege erreichbar, unter dem Gewölbe der Kirche, über die vom Meer in die Felsen gewaschenen Rinnen, war es eine so entsetzliche Gruft, wie die Tyrannei der Kirche sie nur je zur Bestrafung der ihrer Autorität sich Widersetzenden in ein Gefängnis verwandelt hatte.

Der mit seiner Verwaltung betraute Kirchendiener war der alte Paton Gorry von Kirk Patrick, eine schwache Seele, voller Ehrfurcht vor aller Autorität, dem jegliches Unterscheidungsvermögen zwischen seinen Vorgesetzten abging. Als ihm vom Deemster Dans Verhaftungsbefehl zugegangen war, bezweifelte er dessen Gültigkeit keinen Augenblick, und als Quäl, der Untersuchungsrichter, seinerseits hinzusetzte, der Gefangene sei in der Einzelhaft des unterirdischen Kerkers zu halten, fügte er sich dieser Anordnung ohne weitere Einrede.

Wenn alle Demütigungen Dans stolzen und widerspenstigen Geist bis dahin noch nicht zu Galle und Wermut verbittert hatten, so lag die Schuld nicht an Quäl dem Raufbold. Jede Entwürdigung, die einem unwilligen Gefangenen zuteil werden kann, hatte Dan zu erdulden. Seit dem Moment, da er das Rathaus von Ramsey verlassen hatte, wurde er herumgestoßen und so unnötig und vernunftwidrig mit ihm verfahren, daß schließlich die sich auf den Straßen drängenden oder aus ihren Fenstern schauenden Leute – dieselben, die bei seinem Betreten der Stadt vor ihm zurückgewichen waren – nun dem Untersuchungsrichter eine drohende Haltung zeigten. Dan selbst, der nie vorher einen Streich, ohne ihn zu erwidern, hingenommen hatte, ging fügsam neben diesem her, ihn mit seiner hohen Gestalt überragend und seine rauhe Behandlung mit Lammesgeduld ertragend.

An der Türe des Gefängnisses, wo Quäls Amtsverrichtung endete, nahm die des Gefängniswärters, des alten Gorry, der ein ganz anders gearteter Mensch war, ihren Anfang. Zwanzig Male wohl waren ihm Leute der Unmäßigkeit wegen für sechzig Tage überliefert worden, und einmal hatte er die Frau des Gouverneurs zwölf Tage wegen Verleumdung und auch einmal einen kampflustigen Geistlichen, der mit Rom geliebäugelt hatte, sieben Tage wegen Ketzerei gefangen gehalten; nie vorher jedoch hatte er Mann, Weib oder Kind in dies verpestete Loch unter dem Gewölbe der alten Kapelle gesteckt. Er erinnerte sich Dans als kleines Buben in Manchester-Hosen, und als der verrostete Schlüssel sich knirschend im Schloß gedreht hatte und er selbst schaudernd in seine Wachstube zurückgekehrt war, ein Feuer angezündet und sich mit seiner Pfeife niedergesetzt hatte, gewann das unter einem rauhen Äußeren verborgene gute Herz des Alten den Sieg über den schlechten Gefangenwärter. Er ging wieder hinunter und sagte in dem halb verlegenen, halb komischen, halb pathetischen Bestreben, seiner amtlichen Würde nichts zu vergeben, er würde keine Einwendungen erheben, wenn Dan nach oben kommen und sich wärmen wollte. Dan jedoch lehnte mit kühlem Dank ab.

»Nein, Gorry,« sagte er, »ich glaube nicht, daß ich die Kälte fühle.«

»O, schon gut, schon gut; bleibt wo Ihr seid, bleibt wo Ihr seid,« sagte Gorry unter einer so erheuchelten Wichtigtuerei, wie er sie nur immer heraufbeschwören konnte, und kletterte, eine Melodie vor sich hinsummend und mit den Schlüsseln klappernd, die Stiege wieder hinauf. Während er sich jedoch am Feuer wärmte, begann die arme menschliche Natur in seiner Brust den alten Mann entsetzlich zu quälen. Die Erinnerung an jene Tage, da ihn Dan, der tolle, fröhliche kleine Wicht gar arg geplagt hatte, ließ ihm keine Ruhe. Er erhob sich und ging von neuem in das Verlies.

»Ich habe eine große Hochachtung vor dem alten Bischof,« sagte er als Entschuldigung, »und wenn auch ein Mensch wirklich Unrecht getan hat, so sehe ich nicht ein – sehe ich nicht ein,« fuhr er stammernd fort, »so ist es unnatürlich, daß er bei lebendigem Leibe begraben werden sollte, noch dazu an einem so kalten Winterabend.«

»Es ist nur, was ich verdiene,« sagte Dan leise; und wie vorher kehrte der alte Gorry sich bei diesen Worten kurz ab und wiederholte von oben herab: »Bleibt wo Ihr seid, bleibt wo Ihr seid.«

Es sollte ihm nicht einfallen, einen Gefangenen anzuflehen und zu quälen, aus dem stinkenden Loch nach oben zu kommen, o bewahre! bewahre! nein; und des Bischofs Kirchendiener warf sich in die Brust und ging zu seiner Pfeife zurück. Eine halbe Stunde später, als die Dunkelheit angebrochen war, stand er jedoch mit einer Laterne in der Hand wieder an der Kerkertüre.

»Die Wahrheit zu gestehen, Sir, ich kann oben keinen Moment Ruhe finden, und wenn Ihr durchaus nicht in die Wärme kommen wollt, wird mir nichts anderes übrig bleiben, als ebenfalls hier unten in der Kälte zu bleiben.«

Ehe Dan antworten konnte, erschallte oben ein lautes Klopfen. Im nächsten Augenblick knarrte der Schlüssel von außen im Schloß, und Gorrys unsicherer Tritt verhallte auf der Treppe.

Nachdem Dan zuerst in seiner dunklen Zelle allein gelassen worden war, hatte er sich auf die ihm als Bett und Ruhebank dienende, aus dem Felsen gehauene breite Steinplatte geworfen. Alle Hindernisse waren überwunden, der Druck der Ungewißheit ihm vom Gehirn genommen, und er versuchte sich einzureden, daß er recht gehandelt habe. Er gedachte Ewans nun mit anderen Gefühlen als vorher – seiner Rechtschaffenheit, Herzenszärtlichkeit, seiner brüderlichen Liebe und häufigen Fürsprache und nicht geringeren Selbstaufopferung. Dann gedachte er seiner eigenen unbesonnenen Torheit, seines gänzlichen Gefühlsmangels, seiner kalten Undankbarkeit und schließlich seiner blinden Leidenschaft und seiner wahnsinnigen Wut. Alles übrige war von beiden Seiten in jener Stunde dunkler Selbstprüfung aus seinem Gedächtnis ausgelöscht. Allein mit seinem Verbrechen – durch keine falsche Hoffnung des Entrinnens oder peinigende Zweifel über das Maß seiner Schuld gequält – verlangte sein Herz in tiefem, stummem Jammer und bitterer Reue nach dem einen wahren Freund, dessen Leben er genommen hatte. Keine herzlose Stimme flüsterte in Beschönigung seines Verbrechens ihm jetzt ins Ohr, daß es kein Mord, sondern ein Unfall während seiner Selbstverteidigung gewesen sei. Er hatte den mit Ewans Tode endenden Kampf vorgeschlagen, und als Ewan denselben hatte aufgeben wollen, war er seinerseits zu keinem Frieden zu bewegen gewesen. Es war Mord, und wie schlecht jeder Mord im besten Falle auch immer sein mag, dieses war von allen der schlechteste und niedrigste. Ja, er hatte richtig gehandelt. Hier allein würden seine marternden Gedanken ihm einen Augenblick Ruhe gönnen. Diese finstere Gruft war der einzige Friedenshafen für ihn, bis er auf dem letzten aller Friedenshäfen daliegen würde. Es gab keinen Rückweg mehr, das Leben hatte sich ihm verschlossen. Er hatte das Blut des Mannes vergossen, der ihm in mehr als brüderlicher Liebe zugetan gewesen, an den seine eigene Seele mit eisernen Banden gekettet gewesen war. Dies genügte, und die Gewißheit des ihm bevorstehenden elenden Verdammungsurteils war die am leichtesten zu ertragende Strafe.

Mit derartigen Gedanken verbrachte Dan seine ersten paar Stunden im Gefängnis, und als der alte Gorry ihn immer von neuem mit armseligen kleinen Quälereien über die erstarrende Kälte des verpesteten Ortes gestört hatte, durchschaute er kaum, welch ein Stück liebevoller menschlicher Natur hinter des alten Mannes Heuchelei verborgen lag.

Wenige Minuten, nachdem Gorry in Antwort auf das laute, die oberen leeren Räume durchhallende Klopfen die Zelle verlassen hatte, hörte Dan ihn in langen, durch gemurmelte Bemerkungen ausgefüllten Zwischenpausen, als ob er jemandem die Stiege herableuchtete, zurückkommen.

»Ja, Mylord, es ist finster, sehr finster. Ich werde, während ich aufschließe, die Laterne hierher setzen.«

Im nächsten Augenblick stand der alte Gorry an Dans Seite und sagte im furchtsamen Flüsterton: »Der Herr steh uns bei! 's ist der Bischof in höchsteigener Person. Ich habe ihm das Blaue vom Himmel vorgelogen, ja, das habe ich – aber alles vergebens. Ich sagte ihm, Ihr schliefet, es nützte aber nichts. Er wollte sich nicht beruhigen, ehe er Euch gesehen hätte. Hier ist er. – Tretet ein, Mylord.«

Fast ehe Dans durch andere Sorgen gequälter Geist Gorrys Worte erfassen konnte, hatte der alte Schließer seine Laterne auf den Fußboden der Zelle gestellt und war, Dan mit seinem Vater allein lassend, wieder verschwunden.

»Bist du wach, Dan?« fragte der Bischof mit leiser, hastiger Stimme. Seine Augen hatten sich noch nicht an das Halbdunkel des finsteren Ortes gewöhnt, und er konnte seinen Sohn nicht erkennen. Dan dagegen sah seinen Vater nur zu genau, und ein einziger im ersten Moment seines wiedererlangten Bewußtseins auf ihn geworfener Blick genügte, um die tröstliche Beruhigung, der er sich im innersten Herzen gerade hingegeben, daß das, was er getan hatte, das Richtige sei, als leere Sophistereien zu verbannen.

Der Bischof sah wie ein ausgewechselter und gebrochener Mann aus. Seine ganze Gestalt schien eingeschrumpft, und sein Jupiterhaupt hing ihm auf die Brust herab. Sein gebieterisches, ruhiges Auftreten war verschwunden, und in dem schwachen Licht der auf dem Fußboden stehenden Lampe schien der Ausdruck seiner Augen ein gänzlich veränderter, und sein ganzes Gesicht mit tiefen Falten der Angst, ja selbst der Hinterlist durchkreuzt. Sein unentschlossener Mund war halb geöffnet, als ob er gerade einen Entsetzensschrei ausgestoßen habe. In der einen Hand hielt er ein mit einem breiten Riemen fest umschnalltes kleines Paket, und die andere focht nervös vor ihm in der Luft herum.

Dan sah alles dieses auf den ersten Blick. Dies also war die Erstlingsfrucht seines heutigen Tagewerks. Er stand von seinem Sitze auf.

»Vater!« rief er mit schwacher, zitternder Stimme.

»Mein Sohn!« antwortete der Bischof, und auf einen flüchtigen Moment war die so bittere Vergangenheit für beide ausgelöscht.

Das süße Vergessen war von grausamer Kürze. »Warte,« flüsterte der Bischof, »sind wir allein?« Und mit diesen Worten schlich der einstmals so stolze Gottesmann wie eine Katze auf den Zehen nach der Zellentüre und lauschte mit vorgebeugtem Kopf nach draußen.

»Seid Ihr da, Paton Gorry?« rief er und versuchte seinen gewohnten Ton ruhiger Autorität anzunehmen.

Der alte Gorry antwortete von der andern Seite der Türe, daß er draußen auf den Stufen säße und nicht eingeschlafen sei, sondern auf Mylords Rückkehr warte.

Der Bischof schlich mit demselben katzenartigen Schritt wie vorher zu Dan zurück.

»Du bist gerettet, mein Sohn,« flüsterte er mit seiner leisen, hastigen Stimme. »Du sollst diesen Ort verlassen, dieser Kerker gehört mir, und er soll sich dir öffnen.«

Dan hatte seines Vaters Bewegungen mit einem Gefühl der Widerwärtigkeit beobachtet.

»Dann wißt Ihr nicht, daß ich mich dem Gericht gestellt habe?« fragte er.

»Ja, ja, o ja, ich weiß es. Aber das geschah, als deine Gefangennahme sicher war. Nun aber – höre zu.«

Dan war zumute, als ob sein Vater ihm ins Gesicht geschlagen habe. »So sagte der Deemster,« begann er, »aber er ist im Unrecht.«

»Höre – sie haben keinen einzigen Beweis gegen dich – ich weiß alles. Sie können dich nur auf dein eigenes Geständnis hin verurteilen. Und weshalb solltest du gestehen?«

»Weshalb?«

»Rede nicht – erkläre dich nicht – ich darf dich nicht hören – höre zu, was ich dir zu sagen habe!« Der alte Mann legte einen Arm um seines Sohnes Schulter und seinen Mund dicht an sein Ohr. »Es gibt nur einen haltbaren Beweis gegen dich, und der ist hier; sieh!« und dabei hielt er das kleine Paket, das er in seiner andern, zitternden Hand trug, Dan vor das Gesicht. Dann ließ er sich auf die Knie herab, legte das Paket vor sich auf den Fußboden, schnallte den Riemen auf und öffnete es. Es enthielt einen Rock, einen Hut, zwei Militärdolche und einen großen, schweren Stein.

»Sieh!« flüsterte der Bischof mit triumphierender Stimme von neuem, und sein Heiligen gleiches altes Gesicht überflog ein befriedigtes Lächeln.

Dan schauderte beim Anblick der Sachen zusammen. »Woher habt Ihr dies alles?« fragte er.

Der Bischof stieß ein häßliches kurzes Lachen aus.

»Einige meiner guten Leute haben es mir gebracht,« antwortete er. »O ja, es sind gute Leute, alle zusammen; und sie werden uns nicht verraten. O nein, sie haben mir zu schweigen versprochen.«

»Euch versprochen?«

»Ja – höre zu. Gestern nacht – es war schon ganz dunkel – ich glaube, es muß nach Mitternacht gewesen sein – habe ich sie alle in ihren Häusern aufgesucht. Sie waren schon in ihren Betten, ich klopfte aber, und darauf kamen sie zu mir herunter. Ja, sie haben mir ihr Wort darauf gegeben – bei der Bibel haben sie es geschworen. Alle samt und sonders gute Leute – Jabez, der Schneider, Steen, der Schuster, Juan von Ballacry und Thormod aus der Straße. Ich erinnere mich jedes einzelnen von ihnen.«

»Vater, Ihr wollt doch nicht gesagt haben, daß Ihr zu allen diesen Leuten – diesem Ausschuß der Insel – hingegangen seid – Ihr, um Mitternacht – und sie gebeten –«

»Still, das ist ja gar nichts. Warum nicht? Aber dieses hier ist von höchster Wichtigkeit.«

Der noch auf dem Fußboden kniende Bischof schnallte das Paket wieder zu. »Du kannst es in die See versenken. Hast du den Stein wohl bemerkt? Der wird es auf den Grund hinabziehen. Und wenn du erst im Boot bist, wird es leicht genug sein, alles über Bord zu werfen.«

»Im Boot?«

»O, habe ich es dir noch nicht mitgeteilt? Thormod Milchrist – du erinnerst dich seiner? Ein guter, weichherziger Mensch, der Thormod, und von seinem Vater, dem armen, irregeführten Mann, geschädigt. Also Milchrist hat versprochen – ich komme gerade von ihm – um neun Uhr heute abend am Hafen unten zu sein und das Fischerboot, die Ben-my-Chree, an die Westküste der St. Patricks-Insel zu bringen und dort vor Anker zu legen, und dann in dem kleinen Kahn ans Land zu rudern und auf dich zu warten.«

»Auf mich zu warten, Vater?«

»Ja; denn über dies Gefängnis habe ich zu bestimmen, und ich werde demjenigen, den es mir zu befreien beliebt, seine Tore öffnen. Sieh!«

Der Bischof richtete sich zu seiner ganzen Höhe auf, warf sein Haupt zurück, schritt mit einem schwachen Abglanz seiner gewohnten Würde nach der Zellentüre und rief in einem kläglichen, unterdrückten Echo seiner gewohnten, kräftigen Stimme: »Paton Gorry, öffnet diese Türe!«

Der alte Gorry antwortete von draußen, und gleich darauf wurde die Türe geöffnet.

»Noch weiter!«

Die Türe wurde aufgerissen.

»Jetzt händigt mir die Schlüssel ein, Paton Gorry,« sagte der Bischof mit derselben angenommenen Miene der Autorität.

Der alte Gorry überreichte dem Bischof die Schlüssel.

»Und nun geht nach Hause und bleibt daselbst.«

Der alte Gorry berührte grüßend seine Mütze und ging die Stufen hinauf.

Darauf wandte sich der Bischof mit einem verlorenen, trübseligen Triumphlächeln an seinen Sohn.

»Siehst du,« sagte er. »Du bist frei. Laß sehen – wie spät ist es?« Er griff suchend nach seiner Uhr. »Ach! ich hatte es vergessen. Ich habe den armen Patrick Lorney mit meiner Uhr bezahlt. Schadet nichts. Um neun Uhr wird Milchrist auf dich warten, und du wirst dein Boot besteigen und nach Schottland oder England oder Irland segeln, oder – oder –«

Dan konnte es nicht länger ertragen. Der Schlag seines Herzens schien ihn zu ersticken. »Vater, Vater, mein Vater, was redet Ihr da?« rief er.

»Ich sage, du bist frei und kannst diesen Ort verlassen.«

»Ich will nicht gehen – ich kann nicht gehen.«

Der Bischof holte tief Atem und schwieg einen Augenblick. Er faßte sich mit zitternder Hand an die Stirne, wie um sein erhitztes, schwindelndes Gehirn zu beruhigen.

»Du kannst hier nicht bleiben,« sagte er. »Hörst du, wie der Wind ächzt? Oder ist es die See, die draußen an die Klippen schlägt? Und über unsern Häuptern ruhen die Toten von zehn Generationen.«

Dan erstickte fast vor Scham. Die Öde um ihn her, der über ihm herrschende schweigsame Tod und die unter ihm klagende See hatten keine Schrecken mehr für ihn.

»Vater, mein Vater,« wiederholte er, »bedenket, was Ihr von mir verlangt. Bedenket es nur. Ihr verlangt, daß ich Euch das Schweigen des erbärmlichsten lebenden Gesindels der Insel erkaufen lassen soll. Und um welchen Preis? Um den Preis des Einflusses, der Achtung, der Liebe und der Verehrung, die Ihr Euch durch zwanzigjährige Arbeit errungen habt. Und zu welchem Zweck? Zu dem Zweck, daß ich – ich –«

»Zu dem Zweck, daß du leben mögest, mein Sohn. Erinnere dich, was dir deines Vaters Liebe gewesen ist. Nein, nicht dessen – sondern bedenke, was sie ihm gewesen sein muß. Dein Vater würde das Bewußtsein haben, daß du lebst. Es ist wahr, er würde dich niemals, niemals wiedersehen. Ja, wir würden immer getrennt voneinander sein – du dort, und ich hier – und ich würde zum letzten Male deine Hand in die meine nehmen und dann dein Angesicht niemals wiedersehen. Du würdest aber leben –«

»Vater, nennt Ihr das leben? Denkt Ihr, ich könnte das ertragen? Selbst wenn ich entkäme – selbst wenn ich an einem fernen Orte in Sicherheit lebte – in Indien, Amerika, irgendwo außer dem Bereich der Schande und des Todes – selbst wenn es mir gut ginge und ich vorwärts käme in der Welt – was wäre mir das?«

»Damit würde ich mir genügen lassen, mein Sohn, ja, genügen und Gott dankbar sein.«

»Und ich würde der Unglücklichste aller Sterblichen sein. Malt es Euch aus und stellt Euch meine Lage vor. Ich würde wissen, ja, obgleich niemand da wäre, es mir zu sagen, ich würde, so oft die Sonne über mir aufginge, mich daran erinnern, daß zu Hause, Tausende von Meilen fort, mein armer Vater, der einstmals unbescholtene Bischof, der Hirte und gute Vater seiner Gemeinde, ein Sklave des gemeinsten Auswurfs unter derselben sei; machtlos, seine Hände gegen die ihn in Fesseln haltenden Bande zu erheben; stumm, den bösen Zungen gegenüber, die übel von ihm zu sprechen drohten. Und so oft die Nacht sich herabsenkte, und ich zu schlafen versuchte, würde ich ihn alt, sehr alt und vielleicht sehr schwach geworden vor mir sehen und eines stützenden Armes und guter Menschen bedürftig, die ihn hoch hielten und ihn seines wahnsinnigen Sohnes vergessen ließen, der einen traurigen Schiffbruch aus seinem Leben gemacht hat. Seine Augen jedoch würden vor innerer Scham sich nicht vom Erdboden erheben können, gemartert von der Furcht vor Schande, erniedrigt im Angesicht seines Gottes, so würde sein Bild mir vorschweben. Nein, nein, nein, ein solches Opfer nehme ich nicht an.«

Der Bischof war näher an Dan herangetreten und hatte versucht, sich seiner Hand zu bemächtigen. Als Dan schwieg, blieb auch er eine Weile stumm, und als Dan sich auf sein Steinlager niederließ, setzte er sich sanft wie ein Kind und sehr ruhig und gefügig neben ihn und griff von neuem nach seiner Hand und hielt sie fest, so oft Dan sie ihm auch zu entziehen versuchte. Darauf, während sie so nebeneinander saßen, rückte der alte Bischof heimlich näher und näher an Dan heran, bis einer seiner zitternden Arme seines Sohnes Nacken umfing und das teure Haupt, als ob es noch das Haupt eines Kindes sei, dessen Sorgen die Hand des Vaters hinwegtrösten und -schmeicheln müsse, an seiner schwellenden, klopfenden Brust lag.

»Dann wollen wir zusammen gehen,« sagte er nach einer Weile mit schwacher, hilfloser Stimme, »bis an das äußerste Ende der Welt, und alles hinter uns lassen und nicht mehr an das Vergangene denken. Ja, zusammen wollen wir gehen,« sagte er sehr ruhig, während er, Dans Hand noch immer umfaßt haltend, sich erhob.

»Vater,« sagte Dan, »ich sehe, wie es steht, Ihr haltet mich für unschuldig und würdet deshalb alles um meinetwillen aufgeben. Ich bin jedoch schuldig.«

»Stille! Das darfst du nicht sagen. Rede mir das nicht ein. Niemand soll mir das einreden. Ich will es nicht hören.«

Des Bischofs ungestüme Weigerung, mit eigenem Ohr der Geschichte der Schuld seines Sohnes zuzuhören, offenbarte Dan nur um so gewisser, daß er von derselben innerlich überzeugt sei.

»Niemand brauchte es Euch zu erzählen, Vater, Ihr würdet es selber herausfinden. Und bedenkt, welch ein entsetzliches Erwachen es wäre. Ihr würdet der Welt gegenüber Eueres Sohnes Partei nehmen, weil Ihr ihn jetzt für unschuldig haltet, aber Tag für Tag würde sich Euch sein Geheimnis mehr offenbaren. Sein Verbrechen würde sich wie ein Gespenst zwischen Euch und ihn drängen, und Euch stündlich mehr und mehr trennen, bis es Euch schließlich für immer voneinander geschieden hätte. Und das Ende würde das Schlimmste von allem sein. Nein, es darf nicht sein. Die Gerechtigkeit, die Liebe läßt es nicht zu, und Gott, glaube ich, Gott selbst läßt es ebenfalls nicht zu.«

»Gott!«

Dan hörte nicht.

»Ja, ich bin schuldig,« fuhr er fort. »Ich habe den Menschen, der mich wie seine eigene Seele liebte, getötet. Er würde sein Leben für mich hergegeben haben, wie er seine Ehre für die meine dahingegeben hat. Und ich tötete ihn. Ewan! Ewan! mein Bruder, mein Bruder!« schluchzte er und begrub sein Gesicht in die Hände.

Der Bischof stand mit derselben gütigen Ruhe, die in der Zelle über ihn gekommen war, da. Kein Hauch erinnerte an das rastlose Fieber, mit dem er dieselbe betreten hatte. Noch einmal versuchte er, Dans Hand zu erfassen und zu halten und mit seinem vollen Blick seinem Sohn in die überströmenden Augen zu schauen.

»Ja, Vater, es ist gerecht, daß ich sterben sollte, und es ist notwendig. Vielleicht wird Gott meinen Tod als ein Sühnopfer ansehen.«

»Sühnopfer?«

»Oder wenn es kein Sühnopfer gibt, so kann auf mein Verbrechen nur die Hölle folgen, und vor Gott bin ich schuldig.«

»Vor Gott!«

Der Bischof wiederholte Dans Worte in einem dumpfen, mechanischen Flüsterton und blieb lange Zeit schweigend stehen, während Dan sich in bitteren Reueworten ergoß. Dann sagte er, während ein Anklang seiner alten, mutigen Ruhe seine Stimme durchtönte und sein von einigen der vielen aufrecht laufenden Falten geglättetes Gesicht seinen alten, edlen Ausdruck annahm: »Dan, ich werde nach Hause gehen und überlegen. Ich scheine von einem entsetzlichen Alpdruck aus einer Welt, wo es keinen Gott gab und wo keine Helle, sondern Finsternis waltete, zu erwachen. Die Wahrheit zu sagen, Dan, ich fürchte, mein Glaube ist nicht, was er sein sollte. Ich bildete mir ein, die Wege Gottes mit den Seinen seien mir wohlbekannt, und nun scheint es plötzlich, als ob ich sie alle diese Jahre nicht gekannt hätte. Ich bin ja aber nur ein armer Priester und ein sehr schwacher alter Mann. Gute Nacht, mein Sohn; ich will nach Hause gehen und überlegen. Ich komme mir wie ein Mensch vor, der davonstürzt, um ein Kind aus einer großen Gefahr zu retten, und der einen stärkeren und braveren Mann als er selbst ist, findet, einen, der dem Tod unerschrocken ins Antlitz blickt. Gute Nacht, Dan, ich will nach Hause gehen und beten.«

So ging der Mann Gottes in seiner Schwachheit seines Weges. Er ließ seinen Sohn auf der steinernen Ruhebank mit in den Händen vergrabenem Gesicht zurück. Die Laterne und das Paket ließ er auf dem Fußboden und die Türe der Zelle weit offen stehen. Die Schlüssel zu derselben trug er halb unbewußt in seinen Händen mit sich fort. Er stolperte in der Dunkelheit die in den Felsen eingehauene Wendeltreppe nach dem Boot an der kleinen Landungsbrücke hinab, wo ein Bootsmann seiner wartend saß. Die Nacht war sehr dunkel, und das laute Klagen der See und ihr feuchter Salzdunst erfüllten die Luft. Er sah, hörte und fühlte nichts. Ein Menschenkind jedoch befand sich an diesem einsamen Ort, das seine dunkle Gestalt vorübergehen sah. »Wer ist da?« rief eine durchdringende Stimme, als er das tiefe Fallgitter durchschritt und aus der alten schartigen und halb offenen Türe heraustrat. Der Bischof aber hörte und antwortete nicht.

Vor einem Hause in Castle-Straße, nahe der Landungsbrücke, stand er still und klopfte. Die Tür wurde von dem alten Kirchendiener geöffnet.

»Ich habe Euch die Schlüssel gebracht, Paton Gorry. Geht auf Euren Posten zurück.«

»Habt Ihr die Türen hinter Euch verschlossen, Mylord?«

»Ja – nein – nein – ich muß es vergessen haben. Ich fürchte, mein Gehirn – aber es schadet nichts. Geht zurück, Paton – das wird genügen.«

»Ich gehe, Mylord,« sagte der Kirchendiener.

Er ging nach dem Gefängnis zurück, andere jedoch waren schon vor ihm dort gewesen.


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