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Sechsunddreißigstes Kapitel.
Von den Menschen abgeschnitten

Während der dem gerichtlichen Verhör Daniel Mylreas folgenden Woche übertraf die Erregung auf der ganzen Insel alles bisher Dagewesene. Wie würde das Urteil des Baroniegerichtes lauten? Dies war die eine große Frage – im Wirtshaus, in der Mühle, in der Schmiede, um das Marktkreuz herum, auf der Straße, im Ratshaus; und wenn zwei Hirten auf dem Gebirge sich einen Gruß zuriefen, fragten sie sich gegenseitig nach den letzten Nachrichten aus Peel.

Stillschweigender Annahme gemäß konnte der Tod allein das begangene Verbrechen sühnen, und es lastete der Druck einer heiligen Scheu und das grausige Gefühl, daß irgend ein Christenmensch den Tod des Hängens sterben sollte, auf den Leuten. Vor fast vierzig Jahren hatte die Insel jenen schauerlichen Anblick zum letztenmal gehabt, und die alten Männer zitterten noch in seiner Erinnerung.

Dann brach die unklare Annahme, daß irgend etwas Unvorhergesehenes geschehen würde, sich Bahn. Von Mund zu Mund flüsterte man sich zu, der alte Quillasch sei, mit reichlichen Vorräten versehen, mit der Ben-my-Chree den Halbsund hinuntergesegelt. Nach wenigen Tagen kehrte der alte Seebär, eine geheimnisvolle Miene bewahrend und alle neugierigen Fragen nur durch ein Kopfschütteln beantwortend, auf dem Landwege zurück. Und darauf konnte die arme menschliche Natur, die Daniel Mylrea nicht sterben sehen wollte, sich ebenfalls nicht damit zufrieden geben, ihn gerettet zu sehen, und Männer, die in ihrer unvermögenden Empörung geschworen hatten, daß nie ein Galgen auf ihrer Insel wieder errichtet werden solle, kräftige Burschen, die zum ersten Male Mitleid gezeigt hatten, begannen zum hundertsten Male Bitterkeit zu zeigen und sich gegenseitig anstoßend, unter höhnischem Lächeln zu flüstern, daß Blut dicker als Wasser, und daß, wie man zu sagen pflegte, ein gewaltiger Unterschied zwischen Tun und Handeln sei.

Das heimlich erwachte Mitleid begann mit den durch abergläubische Furcht hervorgerufenen unbarmherzigen Regungen zu kämpfen. Es schien sich zu bewahrheiten, was die alten Leute untereinander flüsterten, daß Daniel Mylrea der Jonas der Insel sei. Was hatte während seines ersten Lebensjahres sich ereignet? Eine anhaltende Dürre und eine furchtbare Hungersnot. Was stand jetzt bevor? Wieder eine Dürre, die ebenfalls in eine Hungersnot auszuarten drohte. Und die Leute taten ihr Bestes, sich einzureden, daß das Schwert des Herrn über ihnen hinge, und daß es sie nur dann verschonen würde, wenn sie das Gottesurteil an dem schuldigen Manne vollzögen.

Der Tynwald-Tag kam heran, nachdem die ihm voraufgehende Woche wie ein Jahr dahingeschlichen war. Es war kein Sonnenschein, wohl aber herrschte eine erstickende Hitze. Die Wolken hingen niedrig und dunkel und heiß wie die Platte eines Herdes am Himmel; durch die unbewegliche Luft hindurch erschien die Erde wie mit einem bläulichen Schimmer bedeckt. Weit nordwestlich über die See hinweg stand ein schmaler Streifen drohender Wolken, und ein Gewitterdunst erfüllte auf Augenblicke die schwere Atmosphäre. Von Nord, Süd, Ost und West strömten die Leute dem Tynwald-Hügel zu. Seit Menschengedenken hatte kein solches Gedränge auf dem alten Versammlungsplatz stattgefunden. Über die ganze Insel hinüber standen alle Mühlenräder stille, waren alle Schmiedefeuer mit Asche verlöscht, lagen die Pflüge in den Furchen, waren die Schafe in die Berge gejagt, und Männer, Frauen, Greise und Kinder, zehntausend an der Zahl, mit gebräunten oder ungebräunten Gesichtern, in Sonnenhüten, Mützen und Kappen, und einige in Voraussicht auf das kommende Gewitter mit Mänteln versehen, fuhren in ihren federlosen, kleinen Wagen oder ritten auf ihren kleinen Manx-Ponys, oder wanderten zu Fuß die staubigen Wege entlang und über die ausgedörrten Berggehänge und die vertrockneten Curraghs dahin.

Um zehn Uhr war der freie, den Tynwald-Hügel umgebende Platz dicht besetzt. Die offenen kleinen Wagen standen übergekippt in irgend einer Ecke, und die darin enthaltenen Mundvorräte wurden von einem auf dem Schwanzbrett sitzenden Jungen oder einem alten Weibe bewacht. Die Pferde waren an die Räder gebunden oder auf die nahe gelegene Grasfläche zum Grasen gejagt. Die Männer schlenderten, die Hände in den Hosentaschen und die Pfeife im Munde, auf dem Rasen umher und unterhielten sich oder umstanden lachend und den Krug an den Lippen die Tynwald-Schenke – denn obgleich der Zweck ihrer Zusammenkunft kein freudiger war, herrschte doch große Bewegung unter ihnen.

Der Tynwald-Hügel selbst war noch leer, und zwölf Gendarmen waren, um die Menge zurückzuhalten, an der ihn umgebenden niedrigen Mauer aufgestellt. Obgleich die Unterhaltung des sich versammelnden und vermischenden Volkes bei den Männern um die Saaten und den in Aussicht stehenden Fischfang, bei den Frauen um die Wolle und das Garn sich drehte, und die Knaben Purzelbäume schossen, und die kleinen Mädchen ihren Spielen nachgingen, und die erwachsenen, bändergeschmückten Dirnen zu liebäugeln und kichern begannen, und obgleich einige rohe Scherze und noch rohere Lieder laut wurden, war die Erregung aller Versammelten doch eine tiefe und mächtige. In Zwischenpausen konnte man das Volk einer Kirche, der St. Johns-Kirche, die ein wenig östlich vom Tynwald-Hügel stand, sich zuwenden sehen, und manchmal entstand ein allgemeines Gedränge der Pforte zu, von der aus man auf das westlich gelegene Peeltown und auf die See hinabblickte. Früh am Tage hatte irgend jemand den hinter der Kirche gelegenen Berg Gruba erklommen und auf der Spitze desselben trockenen Ginster angezündet, und nun glomm das Feuer in der schweren Luft weiter und sandte einen langen, gewundenen Schweif blauen Rauches nach der weiten Himmelswölbung hinauf.

Gegen halb elf Uhr stieg der alte Paton Gorry, der Kirchendiener, die enge zum Peeler Schloßgefängnis führende Wendeltreppe hinab. Er brachte Hand- und Fußschellen mit, die er seinem Gefangenen mit zitternden, nervösen Fingern anlegte. Dan selbst leistete ihm Hilfe, soviel er es vermochte und entgegnete ihm aufheiternd auf sein gemurmeltes Lebewohl.

»Ich werde nicht nach St. Johns gehen, Sir. Ich könnte es nicht übers Herz bringen,« murmelte der Alte mit brechender Stimme. Mit einem erstickenden Gefühl im Halse antwortete Daniel Mylrea: »Gott segne Euch, Paton« und ergriff des alten Mannes Hand. Zwanzigmal während der Woche hatte der greise Kirchendiener umsonst versucht, den Gefangenen zu einem Geständnis der sein Verbrechen begleitenden Umstände zu bewegen und dadurch sich der ihm halb und halb versprochenen Strafmilderung teilhaftig zu machen. Der Gefangene jedoch hatte stets nur schweigend das Haupt geschüttelt.

Einige Minuten darauf wurde Daniel Mylrea in der Wachstube dem Gerichtsdiener der Baronie überwiesen, und Paton Gorrys Pflichten – die schwersten, die er je in der Welt zu erfüllen gehabt hatte – waren beendet.

Der Gerichtsdiener und der Gefangene verließen das Schloß und durchkreuzten den engen Hafen in einem Boot. An der hölzernen Landungsbrücke hielt dicht neben den Stufen ein kleiner, offener, von einer Menge neugieriger Gesichter umgebener Wagen. Beide Männer nahmen ihre Plätze ein und fuhren den Hafen entlang und der Straße zu, die unter dem Fuße von Slieu Whallin nach Tynwald führte. Auf dem Wege durch die Stadt wurde sich der Gefangene einer Menge bleicher, aus den Fenstern blickender Gesichter und kleiner, an den Ecken der Wege stehender Menschenknäule unklar bewußt. Dies alles jedoch war bald in seinem Gedächtnis erloschen, und als er wirklich zu sich kam, fuhr er unter den grünen Bäumen und zur Seite des rauschenden Wassers dahin.

Den ganzen vorhergehenden Tag hatte der Gefangene sich gesagt, daß, wenn seine Zeit, die große Stunde des Leidens und der Buße, käme, er sich stark zeigen und die Bitterkeit seines Sühnopfers um nichts vermindern, keine Gnade erflehen und alle Schmach ergeben erdulden müsse, wenn auch die Leute ihn im Vorübergehen schmähen und ihm ins Gesicht speien sollten. Er glaubte, er hätte sich klar gemacht, was dieses Verhör ihn kosten würde. Sieben schlaflose Nächte und sieben qualvolle Tage hatte er dazu benutzt, seine Seele gegen dieses Fegefeuer zu stählen und sich eingeredet, es gefaßten Herzens erdulden zu können. Während seiner einsamen Stunden hatte er Pläne entworfen, wie er auf der Fahrt von Peel nach St. Johns seinen Geist gänzlich ruhen lassen und an nichts denken wollte, was seinen Entschluß wankend machen könne. Und dann, wenn er dem Ort sich näherte, wollte er seine Augen furchtlos erheben und sie nicht senken, auch wenn sie auf das entsetzliche Gerüst, das dort errichtet sein würde, fallen sollten. So wollte er ruhig, still und gefaßt dem Ende entgegensehen.

Nun aber, da er nicht mehr im Kerker sich befand, wo die Verzweiflung der furchtsamsten Seele Mut einzuflößen vermag, sondern unter freiem Himmel, wo Hoffnung und Erinnerung miteinander erwachten, kam ihm, so sehr er sich auch dagegen sträubte, die Erkenntnis, daß seine Kraft allmählich dahinzuschwinden begann. Bald erkannte er hier ein Haus, dort eine Pforte, jede Biegung des Flusses – wo die Forelle sich versteckte, und wo der Aal sein Spiel trieb – war ihm bekannt, und als er zu dem düsteren Himmel hinaufblickte, wußte er ziemlich genau, wie lange es noch dauern möge, bis der Blitz die leuchtende Einförmigkeit der über dem Gipfel von Slieu Whallin hängenden Gewitterwolke durchbrechen würde. Was er auch tun mochte, alles Nachsinnen zu verbannen und sich mit den ihm auf dem Wege begegnenden Nichtigkeiten zu beschäftigen, konnte er des Gedankens, daß er alle diese Dinge heute zum letztenmal sähe, sich doch nicht erwehren.

Dann kam eine lange Zwischenpause, während der der ihn fahrende Karren langsam, langsam, langsam dahinzukriechen schien, und nichts seine betäubten Sinne weckte. Als er, zusammenfahrend, wieder zum Bewußtsein kam, erinnerte er sich, daß sein Geist mit vielen Gedanken, die eines tapferen Mannes Entschlüsse zum Wanken bringen und seine mutigen Vorsätze in eitel Furcht verwandeln können, beschäftigt gewesen war. Er hatte sich gefragt, wo sein Vater an dem Tage, wo Mona um die Stunde sein würde, und mit wie tiefer Scham sie der Todesart, der er sterben solle, gedenken müßten. Er selbst sah seinen Tod als ein Sühnopfer an, der Art und Weise desselben hatte er bisher wenig Nachdenken geschenkt; für sie jedoch bedeutete sie Schmach und Schande, und so bebte er innerlich vor ihr zurück. Er wurde sich bewußt, daß sein erhabener Vorsatz wie die in der Luft verhallende Stimme eines Toren dahinzuschwinden begann. Hörbar stöhnend, in abgebrochenen Sätzen um Seelenstärke flehend, mit geängsteten Augen auf und um sich schauend, fuhr er weiter und weiter, bis schließlich, ehe er noch am Ziele seiner entsetzlichen Reise war, das tiefe Murmeln der am Fuße von Tynwald versammelten Leute durch die Luft zu ihm drang. Es klang wie das Geräusch der See, deren weiße Stoßwellen sich entfernt an einer scharfen Klippe brechen; ein tiefes, hundertfaches Stimmengesumme. Als er hinhorchend sein Haupt erhob, überzog eine Aschfarbe sein schon farbloses Gesicht, seine erbleichenden Lippen bebten, sein Kopf fiel ihm auf die Brust herab, seine gefesselten Arme sanken ihm am Körper nieder, der Fluß und der Himmel verschwanden vor seinen Blicken, und nur die eine Gewißheit drängte sich ihm auf, daß er angesichts seines Todes nichts anderes als ein armer, geängsteter Feigling sei.

Um elf Uhr war die Menge um Tynwald herum zu einem Knäuel von unzähligen Menschen angeschwollen, das jeden Fuß Rasens einnahm und aus einer dichten, sich hin und her bewegenden Kopfmasse zu bestehen schien. Auf einem eingeschlossenen, die Kapelle mit dem Hügel verbindenden Pfade hielten drei Wagen. In einem derselben saß der Deemster, dem die Unbarmherzigkeit auf dem verschrumpften Gesicht geschrieben stand, mit Jarvis Kerrisch zur Seite. In der äußeren Reihe der sie umringenden Menge befanden sich zwei Männer, Quillasch und Tere. Die Ballasallaer Wahrsagerin stand, mit glitzernden Augen und ihrem in Locken herabfallenden Haar, predigend neben der Türe der Schenke, und ganz in ihrer Nähe stimmten Corkell und Crennell in ihren Gesang ein oder knieten betend mit ihr nieder. Plötzlich machte die betäubende Flut menschlicher Stimmen einer von Seite zu Seite sich erstreckenden Stille Platz; unter tiefem Schweigen öffnete sich die Kapellentüre, und eine Reihe Geistlicher kam heraus und schritt dem Hügel zu. Am Ende derselben ging der Bischof barhaupt, sehr gebeugt, mit bleichem, durchfurchtem Angesicht und schwerem, unsicherem Tritt; seine ganze Erscheinung sprach von einer ihn fast erdrückenden Sorgenlast. Als der Zug den Hügel erreicht hatte, bestieg der Bischof die auf dem äußersten Gipfel befindliche runde Plattform, während seine Geistlichen an den vier Vorsprüngen derselben unter ihm Stellung nahmen. Fast denselben Augenblick durchlief ein leises Murmeln die Leute, und auf der einen, westlichen Seite des Rasens öffnete und teilte sich die Menge, bis die Durchfahrt zum Fuße des Tynwald-Hügels frei war. Darauf sah man den offenen, den Gerichtsdiener mit seinem Gefangenen bergenden kleinen Wagen sich langsam nähern und stille halten, und Daniel Mylrea gesenkten Hauptes und mit niedergeschlagenen Augen, wie ein zu Tode getroffenes Tier, demselben entsteigen. Er war mit einem blauen Fischeranzug bekleidet, trug ein Guernsey unter seiner Jacke und Wasserstiefel an den Füßen. Seine hohe Gestalt überragte die größten der ihn umgebenden Männer um Haupteslänge, und die an der Schenktüre stehenden Weiber konnten ganz deutlich seine Fischermütze erkennen. Der Gerichtsdiener stellte ihn am Fuße des Hügels auf, sein gesenktes Haupt jedoch erhob sich kein einziges Mal zu dem Platze, wo der Bischof über ihm stand. Eine alles überwältigende Scham hatte sich seiner bemächtigt. Um ihn herum konnte man die tiefen Atemzüge der Anwesenden hören.

Dann plötzlich übertönte eine volle, klare Stimme das leise Murmeln der Leute, und sofort richtete sich das von tiefer Blässe überzogene Gesichtermeer zum Hügel empor.

»Daniel Mylrea,« sagte der Bischof, »es ist uns unbekannt, ob irgend ein verborgener Umstand die Schwere Eures Verbrechens mildert. Auf alle Euch vorgelegten Fragen über den Beweggrund desselben sind Eure Lippen geschlossen geblieben, so daß wir, Eure irdischen Richter, gezwungen sind, demselben die schlimmste Bedeutung zu unterlegen. Wenn jedoch in der Tiefe Eurer Reue Euer Schweigen einen Milderungsgrund des schweren Verbrechens birgt, seid überzeugt, daß derselbe Eurem himmlischen Richter, der Euer Herz kennt, nicht verborgen bleibt. Ihr habt ein kostbares Leben genommen; Ihr habt das Blut eines Menschen vergossen, der so demütig und liebreich und mit so unendlicher Barmherzigkeit vor der Welt lebte, daß die Herzen aller Menschen ihm zuflogen; und Euch, der Ihr ihn im Zorn oder in Bosheit erschlagen habt, ist er von jeher mit zärtlichster Liebe zugetan gewesen. Ihr habt Eure Schuld eingestanden, Euer Verbrechen ist ein verruchtes, und Eure Strafe Euch gewiß.«

Die Menge hielt während der Worte des Bischofs den Atem an, der Schuldige jedoch stöhnte leise, und sein gebeugtes Haupt schwankte hin und her.

»Daniel Mylrea, das menschliche Leben ist von Anbeginn der Welt an etwas Heiliges gewesen, und Gott, der es schuf, hält eifersüchtig über dasselbe Wache. Wenn ein Mensch sich an ihm vergeht, verlangt Gott Rache, und wenn wir, die wir Gottes Gesetzgeber hier auf Erden sind, unser Ohr gegen diese seine Forderung verschließen, wird sein Zorn wie Wirbelwind daherfahren, und sein Wort wie Feuerbrand uns alle treffen. Wehe uns, wenn wir gegen den Herrn sündigen und vor der von ihm verordneten Strafe zurückbeben. Der Gerechtigkeit, der Verordnung Gottes gemäß müssen wir, seine Diener, ohne der Regung menschlichen Mitleids nachzugeben, sein Urteil an dem Übeltäter vollziehen, damit sein Zorn nicht über diese Insel selbst, über Mensch und Vieh und über die Früchte dieser Erde sich ergieße.«

Bei diesen Worten brach aufs neue ein tiefes Gemurmel unter den Leuten aus, und ihre dem niedrigen Himmel zugekehrten Gesichter überzog eine erschreckende Blässe. Mit übernatürlich leuchtenden Augen und tiefer, bebender Stimme fuhr der Bischof fort:

»Daniel Mylrea, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Blut für vergossenes Blut zu fordern, ist nicht Gottes härteste Strafe. Wenn der Herr das Racheschwert zieht, so ist es manchmal, um den Schuldigen zu töten, manchmal aber, um ihn nach den ödesten Plätzen der Wildnis zu verbannen, auf daß er seine Tage, in denen der Schlaf seine einzige Erholung sein soll, dort beende, auf daß sein Name für immer unter den Namen der Menschen ausgelöscht und ihm schließlich, wenn das Dunkel des Todes ihn deckt, kein Begräbnis zuteil werden möge.«

Der Bischof hielt inne. Es herrschte eine entsetzliche Stille, und die entfernte See sandte ein unter den niedrigen Wolken wie in einer Gruft widerhallendes, heiseres, drohendes Grollen in die stille Luft empor –

»Daniel Mylrea, Euer Verbrechen soll nicht mit dem Tode verbüßt werden.«

Bei diesen in ihrer Vorbedeutung entsetzlichen Worten taumelte der Gefangene wie ein Betrunkener zurück und erhob mechanisch, wie jemand, der einen Schlag abwehren will, die rechte Hand über sein Haupt. Und es war leicht genug, in dem des Bischofs Augen durchglühenden wilden Licht und in seiner hohlen, gespannten Stimme das Herz des Vaters mit dem Gewissen des Gottesmannes kämpfen zu sehen, und zu erkennen, wie jedes, den Schuldigen verdammende Wort dem, der es verkündete, die Seele zerriß.

»Ihr würdet den Tod dem Leben vorgezogen haben, auf dieser Seite des Grabes jedoch sollt Ihr nach Gottes höherem Willen Euch selbst noch zum Schrecken leben; das Wasser soll Euch zu Galle werden; mühselig und allein sollt Ihr in einem verödeten Lande leben, wo das helle Morgenlicht Euch Schmerz bringen, und die Dunkelheit der Nacht Euch mit tausend Augen in die Seele blicken soll, fort und fort, jahraus, jahrein, bis Euch die Kraft versagt und Ihr niemand haben werdet, der Eure schwankenden Schritte unterstützt. Hoffnungslos, verflucht, gestorben fürs Leben und nur aus dem Sterben Leben schöpfend sollt Ihr in der Bitterkeit Eurer Verzweiflung rufen: »Verflucht sei der Tag, der mich gebar; mag die Stunde, in der meine Mutter mir Leben gab, ungesegnet bleiben! Verflucht sei der, der meinem Vater Botschaft brachte und sprach: ›Ein Knäblein ist heute Euch geboren!‹«

Ein heiserer Schrei wie von körperlichem Schmerz entrang sich, ehe diese entsetzlichen Worte noch ganz beendet waren, dem Gefangenen. Der Schuldige griff mit beiden Händen an den Kopf und stand wie ein im Schlachthof gefälltes Tier betäubt und leicht schwankenden Körpers, mit gläsernen Augen, trotzigen und erstarrten Gemütes da. Einen Augenblick herrschte Schweigen, und als der Bischof von neuem seine Stimme erhob, überflog ein sichtbares Zittern sein sturmgetroffenes, wie von weißen Grabesblumen umrahmtes Angesicht. Die entsetzten Leute ergriffen sich gegenseitig bei den Händen, und der Atem entrang sich wie das Zischen der ebbenden See ihrer Brust. Als sie ihre Blicke zu dem Bischof erhoben, offenbarte sich ihnen, welch ein entsetzlicher Kampf zwischen der menschlichen Liebe und der geistlichen Pflicht sich vor ihren Augen abspiele, und neben allem Grauen bemächtigte sich ihrer ein tiefes Mitleid.

»Daniel Mylrea,« sagte der Bischof von neuem, und trotz aller Anstrengung, gemessen zu sprechen, durchtönte seine Stimme, als ob sie ihm brechen wolle, ein weicherer Klang, »die Rache ist des Herrn, wir aber, die wir strauchelnde Menschen sind, sollen nicht Gnade versagen. Wenn Ihr, Eurer Fessel entledigt, diesen Ort verlasset, sollt Ihr nach dem Kalb-Sund, der an der äußersten Südseite dieser Insel fließt, gehen. Dort werdet Ihr Euer Fischerboot mit all dem versehen finden, was Eure augenblicklichen Bedürfnisse stillen wird. Mit dieser letzten Gabe scheiden wir fürs Leben von Euch. Macht guten Gebrauch von ihr, aber erwartet keine fernere Hilfe von dort, woher sie Euch zuteil wurde. Obgleich Ihr Euer Leben verabscheut, seid sorgsam, es zu erhalten, und beschleunigt um keine Stunde, ich warne Euch davor, den großen Tag des letzten Gottesgerichtes. Vor allem seid der Dinge, die das ewige Leben betreffen, eingedenk, damit wir, die wir jetzt von Euch scheiden, uns nicht für immer, wie von einer der ewigen Finsternis anheimgefallenen Seele zu trennen brauchen.«

Der Gefangene gab kein weiteres Zeichen von sich. Darauf wandte der Bischof, mit einer wilden Bewegung seine Hände erhebend, sich nach rechts und nach links.

»Männer und Frauen von Man,« rief er mit einer fast wie ein Schrei klingenden schrillen Stimme, »das Urteil des Gerichtshofes der Baronie lautet, daß dieser Mann von den Seinen abgeschnitten leben soll. Mag sein Name fernerhin nicht unter uns genannt und er familien- und freundlos sein. Von dieser Stunde an laßt seinen Körper in keine Berührung mit einem anderen treten, laßt keine Zunge zu ihm reden, kein Auge ihm ins Angesicht schauen. Wenn er Hunger leidet, laßt niemand ihm Nahrung reichen; wenn Krankheit ihn danieder wirft, laßt niemand ihm Linderung bringen; wenn der Tod ihn ereilt, laßt niemand ihm ein Grab graben. Einsam soll er leben und sterben, und zwischen denen der Tiere des Feldes sollen seine unbegrabenen Gebeine bleichen.«

Ein tiefes, heiseres Stöhnen, wie es der Brust einer finsteren See sich entringt, wurde unter den Leuten laut. Wie sehr sie auch von dem vor ihren Augen sich vollziehenden entsetzlichen Ringen ergriffen worden waren, so verdrängte das Grauen vor dem Ausgang des Trauerspiels diese Empfindung. Was sie zu sehen gekommen waren, verschwand gänzlich vor dem Furchtbaren, dem sie beigewohnt hatten. Der Tod war etwas Entsetzenerregendes, dies aber überstieg das Todesgrausen. Tief unten in der dunkelsten Kammer des Gedächtnisses ihrer ältesten Männer lebte als ein grimmiges Gorgonenantlitz aus lang vergangener Zeit eine ähnliche Szene. Sie blickten zum Hügel hinauf, und die dort oben über dem unendlichen Meer sich hin und her bewegender Köpfe stehende hagere Gestalt erschien ihnen als etwas Übernatürliches. Die zitternden, erhobenen Hände, die sprühenden Augen, die bleichen, bebenden Lippen, die fieberhafte, alle schärferen Linien auslöschende Glut des Antlitzes schienen weit über den natürlichen Menschen erhaben. Und darunter stand betäubt, erstarrt, wie ein tödlich getroffenes und im Umsinken begriffenes Tier der Gefangene.

Der Gerichtsdiener nahm ihm die Hand- und Fußschellen ab und kehrte ihn einer anderen Richtung zu, so daß er mit dem Gesicht gen Süden blickte. Zuerst schien der Mann nicht zu verstehen, daß er kein Gefangener, sondern ein Ausgestoßener sei und gehen könne, wohin er wolle, ausgenommen dorthin, wo andere Menschen weilten. Dann, nachdem sein Bewußtsein ihm teilweise zurückgekehrt war, tat er einen oder zwei Schritte vorwärts, und sofort teilte sich die Menge und eröffnete sich ihm ein langer, breiter Weg, den er langsam, aber noch festen Fußes, gebeugten Hauptes und niedergeschlagenen Blickes durchschritt. So verließ er den Tynwald-Hügel und wandte sich dem Fuße von Slieu Whallin und dem südlich laufenden Foxdale-Tale zu. Und das Volk blickte ihm nach, und von der Höhe des Hügels verfolgten der Bischof und die unter ihm versammelten Geistlichen ihn mit den Augen. Eine Woge tiefen Mitleids durchfuhr, als die einsame Gestalt den Fluß kreuzte und den Gebirgspfad zu ersteigen begann, die Menge. Der Mann war verflucht, und niemand durfte ihm Erbarmen schenken; gar manches Auge jedoch umflorte sich bei seinem Anblick.

Von jenseits Greebas schlängelten sich die langen, blauen Rauchstreifen noch immer zum Himmel empor, und die schwere Wolke, die gleichmäßig über dem Gipfel von Slieu Whallin gehangen, hatte die Form eines riesenhaften, gleich einer Seemöwe leuchtenden Vogels von schmutziggelber Safranfarbe angenommen. Der oberhalb der langen, westlichen See- und Himmelslinie düster glühende Streif hatte sich ebenfalls in ein stumpfes Phosphorlicht, das östlich über den niedrig hängenden Himmel seinen trüben Glanz warf, verwandelt. Und während die Leute dem über den Bergrücken sich entfernenden, einsamen Mann nachblickten, fuhr zwei oder drei Male ein bleicher, von keinem Donner gefolgter Blitzstrahl vor ihnen nieder. Eine solche Stille herrschte unter den Leuten und in der Luft, daß seine Fußtritte von der steinigen Bergseite ganz deutlich herüberschallten. Als er den höchsten Punkt des Pfades erreicht hatte und in das Tal hinabzusteigen begann, sah man ihn innehalten, sich plötzlich umwenden und einen Augenblick zurückschauen. Seine Gestalt hob sich vom Kopf bis zu den Füßen gegen den düsteren Himmel ab. Die Leute hielten, während er so dastand, den Atem an. Nachdem er weitergeschritten war, und das Gebirge ihn ihren Augen entzogen hatte, konnte man sie vernehmlich aufatmen hören.

Den nächsten Augenblick kehrten die Augen aller sich dem Tynwald-Hügel wieder zu. Der Bischof, jetzt nicht mehr der Priester Gottes, sondern nur ein armer, menschlicher Vater, war auf seine Knie gesunken und hielt beide zitternden Arme emporgestreckt. Die so lange zurückgedrängte Qual des geängsteten Vaterherzens, das sich zu diesem furchtbaren Pflichtopfer gestählt hatte, machte in einem verzweifelten Gebet sich Luft.

»O, Vater im Himmel, nicht Gnade zu erflehen gebühret es dem Verwalter deines göttlichen Racheschwertes hier auf Erden, sondern schonungslos zuzuschlagen, und wenn es auch in sein eigenes Fleisch wäre. Du aber, der du im Himmel und auf Erden bist, und vor dem niemand sich so heimlich verbergen könnte, daß du ihn nicht sähest, blicke du in Mitleid in das verborgene Herz deines Knechtes und erhöre sein Flehen. O, Herr des Himmels, dessen Zorn wie ein Wirbelwind daherfährt, und dessen Worte gleich Feuer brennen, was bin ich anderes als ein elender, gebrochener, einsamer, alter Mann? Du kennst meine Schwäche und weißt, wie angstvoll meine Gemeinde meine Zweifel überwacht hat, wie meine Seele gestrauchelt und meine irdische Liebe mich meines himmlischen Berufs hat vergessen machen wollen, so daß Gottes Satzungen Gefahr liefen, von dem Manne, der als Diener des Herrn hier auf Erden über sie wachen sollte, mißachtet zu werden. Und wenn du durch die Prüfung dieses Tages hindurch auch die Kraft meiner Kraft gewesen bist, so möchte ich jetzt, alt und reich an Tagen, schwach am Körper und kleinmütig im Glauben, wie ich bin, fast verzagen, daß du dieses harte Gottesurteil über mich verhängt hast. Gott der Güte und gerechter Richter der ganzen Erde, habe Erbarmen und vergib uns, wenn wir für den weinen, der uns, seine Heimat, seine Freunde auf Nimmerwiedersehen und -wiederkehr verläßt. Folge ihm mit deinem Geist, berühre ihn mit deinem feurigen Finger, gieße deine heilende Gnade über ihn aus, so daß am Tage der großen Abrechnung, wenn wir alle vor deinem Richterstuhl stehen werden, es nicht von deinem Knechte heißen mag: ›Verzeichnet diesen alten Mann als kinderlos.‹«

Es war der Aufschrei eines edlen, zerrissenen Gemütes, und die entsetzten Leute fielen auf die Knie, während die Stimme über ihren Häuptern dahinfuhr. Als der Bischof schwieg, halfen ihm die Geistlichen auf die Füße und den Pfad zur Kapelle hinab. Über der See wurde gerade das dumpfe Grollen eines fernen Gewitters laut. Die Menge zog sich bestürzt zurück. Ehe die letzten derselben den grünen Platz verlassen hatten, begann die bleiche, safranfarbene, über dem Gipfel von Slieu Whallin stehende Wolke sich blitzend zu entladen, und der Regen in schweren Tropfen herabzufallen.


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