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Zweiundsechzigstes Kapitel.
Der Neffe des Jägers


Wie Eugenie die Nacht verbracht, das wußte sie eigentlich selbst nicht, obgleich sie wenig geschlafen. Sie hatte ein Traumleben geführt, ihr Inneres hatte sich mit Träumen beschäftigt, die, wie sie entstehen, wieder verschwinden und jetzt liefen Schmerz, dann unendliches Wohlbehagen in uns zurücklassen.

Wie das junge Mädchen so plötzlich ins Haus gekommen, war Alles höchst überrascht, aber der alte Baron vergaß diese Ueberraschung recht bald wieder in der Freude seines Herzens, seine Tochter um sich zu haben, und lachte so heiter und vergnügt, als ihm seine Frau sagte, es sei doch eine eigene Grille von Eugenie, so beim Einbruch der Nacht anzukommen und das väterliche Haus für ein paar Tage mit ihrer Gegenwart zu beglücken. Dieser Ausdruck kam ihm außerordentlich spaßhaft vor, und als er vom Lachen darüber kaum wieder zu sich selbst gekommen, fing er aufs Neue an, über das Gesicht, welches Onkel George morgen früh machen würde, wenn Eugenie nicht zum Frühstück käme, sich zu belustigen.

Das arme Mädchen litt nicht wenig unter den Ausbrüchen dieser Heiterkeit, und um ihr zu entgehen, hätte sie sich, so spät es auch bereits war, doch noch in das bewußte Zimmer ihres Vaters führen lassen, um die alten Scherben zu bewundern, mit welcher die Sammlung während ihrer Abwesenheit vermehrt worden war. Doch that Frau von Braachen hiergegen Einspruch; sie hatte ihre Tochter, erschreckt von deren plötzlichem Erscheinen zu so später ungewohnter Stunde, forschend angeblickt, und ihrem geübten Auge war es nicht entgangen, daß das Lächeln auf deren Lippen ein schwacher Versuch war, ein tiefes Weh nicht sehen zu lassen, welches ihr Herz erfüllte.

Die Zeit, bis sich der Baron zur Ruhe begab, däuchte ihr eine Ewigkeit, und als dies endlich geschehen und sie mit ihrer Tochter allein war, faßte sie deren beide Hände, zog sie sanft an sich, und um Eugenien das Reden zu erleichtern, sagte sie ihr, ohne daß sie von dem Vorgefallenen etwas gewußt hätte, doch alles das, was sich begeben haben mußte und was sie ahnungsvoll lange vorher gefühlt, daß es sich so begeben würde.

Unter wohlthätigen Thränen fügte Eugenie Einzelheiten bei, und bald hatte Frau von Braachen das vollständige trostlose Bild dessen, was wir uns bemüht, dem geneigten Leser im vorstehenden Kapitel anschaulich zu machen.

Lange sprachen Mutter und Tochter mit einander, lange und ernst, wobei zuweilen Eugenie, in Thränen ausbrechend, flehentlich bat, von ihr nicht zu verlangen, was sein und ihr Herz brechen müsse, und wo auch wiederum Frau von Braachen das junge Mädchen weinend an sich drückte und sie beschwor, einen Schritt zu thun, der vielleicht im Stande sei, in das zerrüttete traurige Haus Ruhe und Frieden zu bringen.

»Und wenn ich dir jedes Opfer brächte, Mutter,« sagte Eugenie, – »und ich weiß wohl, es ist meine Pflicht, mich für dich und den Vater zu opfern, – würde es unserem Familienleben, das du mir eben in so schöner Gestalt vor Augen gezaubert, etwas nützen können? Wird nicht,« setzte sie mit ganz leiser Stimme hinzu und erhob die gefalteten Hände an ihre Stirn, »ein Schatten bleiben, traurig genug für dich, grausenhaft für uns Andere?«

Frau von Braachen machte bei dieser Äußerung ihrer Tochter einen Gang an den Schreibtisch, nahm aus einem Fache einen Brief und sagte, indem sie denselben Eugenien darreichte: »Ein Schatten wird es allerdings bleiben, aber nur für mich.« Und dann setzte sie hinzu, nachdem Eugenie einen Blick in das Papier geworfen und es ihrer Mutter schaudernd zurückgegeben: »Laß die Todten ruhen.«

»Amen!« sprach das unglückliche Mädchen, und »Amen!« wiederholte sie innig, während sie ihre Hände in wildem Schmerze vors Gesicht preßte; »Amen! laßt die Todten ruhen.« Sie schluchzte laut und gewaltsam, wobei ihre Thränen zwischen den Fingern hervorquollen.

Sie hatte doch lindernde Thränen, die einem Anderen versagt waren, einem Anderen, der auf müdem, stolperndem Pferde einsam in der Nacht durch Feld und Wald ritt, in einem weiten Bogen um die Stelle auf dieser Erde, die sein einziges Glück barg.

Als Mutter und Tochter von einander gingen, hatte die Baronin wie segnend die Hände auf das Haupt ihres Kindes gelegt und dann, als Eugenie sprach: »Ich will so thun, wie du es wünschest,« dankend empor geblickt.

Dann war das junge Mädchen schwankend auf ihr Zimmer gegangen, und als sie dort die alten bekannten Gegenstände so unverändert wieder sah, nach jenem kurzen Zeitraume, der so viel Glück und Elend über sie gebracht, sank sie am Fenster auf die Kniee nieder, verbarg das Gesicht in ihre Hände und betete lange und inbrünstig. Sie war gefaßter, als sie sich wieder erhob und an dem Fenster lehnend in die Nacht hinaus blickte.

Es schwebte eine feierliche Ruhe über dem Spiegel des See's, über dem Rasen des Bodens, über dem Gipfel der Bäume. Sie stand da lange, lange; sie sah die Scheibe des Mondes auf dem glatten Wasser glänzen, und alsdann dieses nur geheimnißvoll leuchten, da das Gestirn der Nacht hinter den Bäumen verschwand. – Einmal fuhr sie erschreckt zurück, denn als sie in die Dunkelheit hinausstarrte, war es ihr, als sehe sie am Ende einer Waldlichtung einen einsamen Reiter langsam gespensterhaft vorüber ziehen. Sie schauderte bei dieser Phantasie, sie schloß die Vorhänge und suchte ihr Lager.

Als sie nach tiefem, wenngleich unruhigem Schlummer erwachte, strahlte das helle Licht eines klaren Frühlingsmorgens in ihre Augen; sie erhob sich, kleidete sich in ein einfaches Gewand von dunklem Zeug, das sie früher getragen, und begab sich nach dem Zimmer ihrer Mutter, wo sie die Eltern beim Frühstück antraf. Darauf mußte sie des Vaters Seltenheiten bewundern, unter denen der verhängnißvolle Krug des Herrn von Tondern noch immer die erste Stelle hatte; dann nahm sie bebend und in tiefem Leide Abschied von der Mutter, die zu ihrer Schwester nach der Stadt fuhr, und dann war sie für einige Zeit frei und eilte in den Wald hinaus.

Wie athmete sie tief auf, als sie wieder unter die alten ernsten Bäume trat! wie schien jeder der Stämme sie gleich einem alten Bekannten zu empfangen! wie glänzte ihr der See zum Willkommen so freudig entgegen! wie murmelte grüßend das Schilf an seinen Ufern! – Ach, sie fühlte sich so verlassen und traurig: sie war um so schmerzlicher bewegt, als sie sich des letzten Males erinnerte, wo sie ebenfalls ihren Weg hieher genommen, an jenem Tage, wo sie sich von dem alten Klaus verabschiedet, einem Morgen, der mit all seinen Einzelheiten so erschreckend lebendig vor ihre Seele trat. Sie erinnerte sich, wie sie die Hände rechts und links ausgestreckt, um auf Augenblicke zu erfassen, was zu erfassen war zum herzlichen Abschied: die Rinde alter Bäume, dürre Blätter und nackte Zweige, die sie grüßend durch ihre Finger gleiten ließ.

Heute war sie wiedergekommen, aber das Wasser des See's schien sie befremdet anzuschauen, die alten Bäume, die kleinen Sträucher ihr kein freundliches Willkommen entgegen zu rufen. Alles, Alles – die hervorsprossenden Gräser, die schwellenden Knospen, einzelne Frühlingsblumen, die zu ihren Füßen neugierig die bunten Köpfchen emporhoben, blickten sie erstaunt und fragend an und schienen ihr zu sagen: Warum bist du so wieder gekommen mit einem traurigen Herzen, du, die doch sonst so fröhlich und heiter an uns vorbei eilte, jubelnd, glücklich? Warum bist du geflohen aus einem Hause, wo man dich so sehr geliebt? Warum hast du ein Herz gebrochen, das dir ganz angehört? – Warum? – Warum?

So schienen der See, die Bäume, die Sträucher und die kleinen Blumen zu fragen. Und da sie alle ihre alten Spielkameraden waren, ihre Vertrauten, die ein Recht hatten, diese Fragen an sie zu stellen, so bemühte sich auch das junge Mädchen, während sie so dahin schritt, ihnen aufs umständlichste Antwort zu geben; sie erzählte ihnen Alles, sie verhehlte ihnen nicht das Geringste; sie sagte, wie sie draußen so sehr glücklich gewesen, wie dieses Glück mit jedem Tage größer und schöner geworden sei, wie sie geliebt habe, herzlich, innig, unbewußt, und wie sie ebenso wieder geliebt worden sei; wie sie dadurch einen süßen, unvergeßlichen Traum geträumt und dann so furchtbar unglücklich geworden, als sie nun endlich erwacht.

Ja, so sprach sie zu ihren alten treuen Bekannten, dahin schreitend über frisch sprossende Gräser, unter schwellenden Knospen, umweht von Frühlingslust, beglänzt von Sonnenlicht, umduftet von dem wunderbaren Hauche, den die nun wieder jungfräuliche Erde in den ersten Tagen ihres Frühlings ausströmte. Dabei hatte Eugenie die Hände gefaltet, und aus den offenen klaren Augen perlte eine Thräne um die andere. Sie ließ die bekannten Wege, die kleinen Hügel, wo sie so gern verweilt, hinter sich, immer erzählend, immer gewissenhaft darlegend, was sie im Innersten ihres Herzens barg.

Und so erreichte sie die Waldvertiefung, in der die kleine Jägerhütte lag, vor welcher der alte Klaus auf einer Bank saß. Und als sie dort hinab eilte, waren ihre Worte: Das habe ich alles gefühlt und gelitten; ich habe mich losgerissen von ihm, den ich über Alles – o, so unendlich geliebt – und nun bin ich wieder bei euch und weiß nicht, wie das alles so schnell gekommen. – Hierauf war sie auf die Bank neben dem Jäger niedergesunken, lehnte ihr Haupt an seine Schulter und weinte laut und bitterlich.

Eine lange, lange Weile gab dieser nichts zur Antwort, und zwar aus dem Grunde, weil sein Herz zu voll war, nicht weil er nicht mit ihr fühlte; denn daß er das doch that, merkte sie an dem leichten Drucke seiner rauhen Hand, die er sanft auf ihre weichen Finger gelegt hatte; und endlich sagte er mit leiser Stimme: »O, es ist gut, gnädiges Fräulein, daß Sie wieder da sind; Alles freut sich darüber, Alles.«

»Nicht Alles, Klaus,« versetzte das Mädchen, indem sie traurig mit ihrem Kopfe schüttelte. »O, ich weiß Jemand, den es tief schmerzt, daß ich jetzt hier bin.«

»Ja, das ist wohl möglich,« sagte der Jäger; »die Sie nicht mehr täglich sehen, denen wird das recht traurig sein. Aber Sie haben das Glück, gnädiges Fräulein, daß, wo Sie hinkommen, Aller Augen vor Freuden leuchten. Sie haben die Gabe des guten Gesichtes, und Alles fühlt sich wohl und glücklich in Ihrer Nähe. Sehen Sie, sogar die unvernünftigen Geschöpfe, der alte Hund, wie er vor Freude wedelnd vor Ihnen steht, und selbst die Katze erkennt Sie wieder, denn da mag sonst kommen, wer will, sie begrüßt Niemand als mich und Sie. – Sie haben Verstand, diese Geschöpfe,« meinte er nachdenklich.

Eugenie hatte sich von der Bank wieder erhoben, drückte die Hand auf ihr Herz und blickte tief aufathmend rings umher. Da lag das stille Häuschen so friedlich zwischen seinen Bäumen, und keiner fehlte, ebensowenig wie eine von den Planken an dem Gehege. Auf den kleinen Fenstern glänzte der Sonnenschein breit und behaglich, denn das Rebgewinde, welches sie umgab, war noch vollkommen kahl, und die neidischen Blätter konnten die Strahlen noch nicht abhalten. Sie schritt um die Hütte herum, wobei ihr der alte Jäger und der Hofhund folgten. – Alles war an seinem Platze wie damals, wo sie es verlassen.

Darauf ging Eugenie in das Haus hinein, und als sie die Stube wiedersah, preßte es ihr wohl das Herz schmerzlich zusammen, denn sie hatte gedacht, wenn sie einmal wieder hieher käme, so würde es sie recht innig und herzlich freuen, daß sie wieder da sei.

Und doch war es anders gekommen, ach! so ganz anders. Sie suchte mit Gewalt ihre finsteren Gedanken zu verjagen und redete sich ein, sie habe nichts Schmerzliches erfahren, seit sie zum letzten Male hier gewesen. Und dabei war ihr der kleine Ort, so traulich und voll Ruhe, gern behülflich.

Hier in dem Stübchen war Alles so feierlich still; die Schwarzwälderuhr pickte, die Sonnenstrahlen legten einen goldenen Streifen auf den Fußboden hin oder spielten im Reflex von dem Bache draußen wie lauter leuchtende Punkte an der Decke. Dazu murmelte das Wasser so geheimnißvoll, und zuweilen, wenn sich ein leichter Wind erhob, rauschten die Zweige der mächtigen Bäume, welche das Häuschen umstanden, und erzählten wie von wunderthätigen Waldblumen und Märchengold.

Ja, es war hier in der alten einsamen Jägerhütte wieder so märchenhaft wie sonst, und wenn Eugenie, wie sie jetzt wieder that, das Spinnrad der alten Frau Klaus vor sich hinstellte, die Bilderbibel vom Gesimse nahm und aufgeschlagen über ihre Kniee legte, wenn Hund und Katze wedelnd und schnurrend zur Thür hereinkamen und sich am Boden zu den Füßen des jungen Mädchens hinschmiegten, und wenn man sie dann so traurig lächelnd da sitzen sah mit dem klaren, leuchtenden Auge vor sich hinblickend, den Mund leicht geöffnet, um die tiefen Athemzüge durchzulassen, die von gewaltigem Weh und Herzeleid erzählten, – so war das alles wie die wunderbare Illustration zu dem Ende eines trüben Märchens: Es war einmal ein alter Jäger, der hatte eine wunderliebliche Tochter.

Sie hatte viel Kummer und Schmerz erfahren, da geschah es, daß sie, als sie lange an ihre traurige Vergangenheit gedacht, sich ermattet niederließ und vom Gesang der Vögel und vom Rauschen des Windes sanft in den Schlaf gewiegt wurde. Die Katze schlief mit ihr, nicht so aber der große starke Hofhund. Wie das Mädchen die Augen schloß, öffnete er die seinigen, hob den Kopf, schaute, so weit er konnte, um sich und horchte fern, fern in den Wald hinaus, ob sich dort nichts Ungewöhnliches rege. Eugenie träumte von Sternen und Waldblumen, die mit einander in Streit gerathen waren, wer von ihnen das Schönste und Glücklichste sei. Ja, sie wandten sich an das junge Mädchen, und dieses wollte schon zur Antwort geben: daß im Walde die Blumen, am Himmel die Sterne Jedes an seinem Platze das Schönste und Glücklichste sei, weil Keines von ihnen leiden müsse unter einer traurigen und unglücklichen Liebe, – da war es ihr, als höre sie Knurren und Murren vor sich, und wie sie schlaftrunken die Augen öffnete, sah sie den großen Hofhund aufrecht an der Wand stehen, die beiden Tatzen an die Fensterbrüstung gelegt, und, wie sie im Traume gehört, knurrend und murrend.

Wahrhaftig, sie meinte sie träume noch fort, denn vor dem Fenster sah sie den Kopf eines Pferdes, das in die Stube blickte, und dann anfänglich die Hand des Reiters, der das Rebengewinde aufhob und nun, hell von der Sonne bestrahlt, erstaunt und lächelnd das traurige Kind hier in der einsamen Jägerhütte fand. Ein Ausruf der Verwunderung entfuhr dem Reiter, und dieser Ausruf ließ Eugenie plötzlich aufspringen und staunen und horchen. Sie strich über ihre Stirn, als wolle sie sich vergewissern, daß sie nicht mehr schlafe, und fühlte sich erst beruhigt, als sie die Stimme des alten Klaus vernahm, der draußen mit dem Reiter sprach. Dieser hatte sein Pferd von dem Fenster zurückgezogen und dasselbe gegen den alten Jäger gewandt; aber wenn er auch auf dessen Reden hörte, so drehte er doch den Kopf von ihm ab, senkte ihn tief herab und schaute forschend in das Zimmer.

Das alles sah Eugenie mit einem raschen Blick, und daß der Reiter so hereinsah, scheuchte sie in den fernsten Winkel des Zimmers zurück.

Der Reiter konnte sie nicht mehr sehen, sie ihn aber wohl, denn der Strahl der Sonne lag leuchtend auf ihm; sie erkannte ihn und zitterte; sie vernahm seine Stimme und preßte ihre beiden Hände vor das Gesicht. Entfliehen konnte sie nicht; denn das Häuschen hatte nur einen Ausgang, und zu diesem trat nun ein junger Mann herein, der an der Thür stehen blieb, ehrerbietig seinen Jägerhut vom Kopfe nahm, sich vor dem Mädchen verneigte und alsdann sagte: »Es ist nicht ganz der Zufall, der mich hieher führt, mein Fräulein. Sind Sie vielleicht geneigt, mich freundlich anzuhören?«

»Hier nicht! o mein Gott, hier nicht!« rief ängstlich das Mädchen, wobei sie mit verstörten Zügen um sich schaute. »Gewiß hier nicht, Herr Graf.«

Sie eilte ihm hastig entgegen, und da er sah, wie sie die Thür gewinnen wollte, trat er auf die Seite, um sie vorbei zu lassen. Mit raschen Schritten erreichte sie das Freie; vor der Hütte aber schien sie sich einen Augenblick zu besinnen, ob sie die Anhöhe hinan nach Hause eilen solle oder anhören, was ihr Jener zu sagen habe.

Graf Helfenberg war ihr rasch gefolgt, und da er die Unschlüssigkeit auf ihrem Gesichte las, sagte er bittend:. »O Fräulein Eugenie, erlauben Sie mir nur wenige Worte. Womit habe ich es verdient, daß Sie diesen Ort verlassen wollen, ehe Sie mich gehört?«

»Ich darf Sie nicht hören,« gab sie im Tone einer rührenden Bitte zur Antwort, »jetzt nicht hören! Weiß ich doch, wer Sie sind. Ja, wenn es noch der Neffe des Jägers wäre, der zu mir spräche – aber Sie, Graf Helfenberg –«

»Und hat sich Graf Helfenberg gegen Sie verfehlt? – Verdient er es nicht, daß man ihm einen Augenblick Gehör schenkt?«

»O, wenn Graf Helfenberg,« erwiderte Eugenie mit bebender Stimme, »als solcher vor mich hingetreten wäre, Alles wäre ganz anders gekommen, einfacher – besser. – Der Neffe des Jägers hat viel Unglück über mich, über uns gebracht.«

Sie ließ sich, wie von ihren Gedanken überwältigt, auf die Bank vor der Hütte nieder. Der große Hund kam wedelnd herbei, legte seinen Kopf auf ihren Schooß und sah sie mit den großen Augen zutraulich an.

»Ich erlaubte mir, Ihnen vorhin zu sagen,« sprach der junge Mann, der an Eugeniens Seite getreten war, »daß es nicht der Zufall ist, der mich heute Morgen hieher geführt. Was mich übrigens zu jeder Stunde antreiben würde, Ihre Nähe zu suchen, Fräulein Eugenie, wird Ihnen nach dem, was vorgefallen, nach dem, was Sie erfahren, wohl nicht unbewußt sein. Sie sehen, ich spreche ohne Rückhalt; ich spreche wie Jemand, der im Begriffe ist, Alles zu gewinnen oder Alles zu verlieren. – O, lassen Sie mich ausreden,« setzte er hinzu, als er sah, wie sie hastig die Hand erhob; »es ist mit guten Reden wie mit Thränen: sie beruhigen das Herz, sie führen oft zum Heile. – – Sie sagten vorhin, es wäre Ihnen lieber, wenn der Neffe des Jägers noch zu Ihnen spräche, und ich versichere Sie, Fräulein Eugenie, auch mir wäre das nicht unerwünscht, denn der kranke Neffe des Jägers von damals war nicht so unglücklich als ich, wie ich jetzt vor Ihnen stehe. Nicht leben zu können, wenn man auch durch Jugend ein Anrecht darauf hat, ist allerdings hart, aber unglücklich leben zu müssen, wenn uns das Glück nahe, erreichbar, das ist wohl mehr, als ein Menschenherz zu ertragen im Stande ist. In diesem Falle bin ich; deßhalb aus Mitleid hören Sie mich an.«

Das Mädchen neigte ihren Kopf und sagte mit kaum vernehmlicher Stimme: »Ich werde Sie hören; reden Sie.«

»So muß ich denn Ihr Gedächtniß um einige Jahre zurückführen,« sprach Graf Helfenberg. »Es war ein heißer Sommertag, als ich Sie zum ersten Male sah, Fräulein Eugenie, hier auf dieser Stelle sah; ich kam auf flüchtigem Pferde mit leichtem, heiterem Sinn, ich eilte im frohen Muth der Jugend, gesund, vergnügt, eine angenehme Zukunft vor Augen, durch das Waldrevier, wo ich so oft fröhlich gejagt.

»Bei jenem Ritte war es mir seltsam zu Muth; ich hatte weite Reisen vor mir, ich dachte mir: Wirst du auch hieher zurückkehren, froh und glücklich? Ich wollte die erste Begegnung an dem Morgen, sei sie freundlich, sei sie traurig, für eine gute Vorbedeutung nehmen. Aber der Wald war stille wie ein Kirchhof; es huschte kein Reh an mir vorüber, es begegnete mir nichts, was den Jäger hätte unangenehm berühren können; heiß drückte die Sonne auf Berg und Thal, alle lebenden Wesen hatten den wohlthuenden Schatten gesucht. Da kam ich dort jenen Hügel herunter, und da ich Niemand bei der Hütte sah – auch hier war Alles so feierlich, so märchenhaft still – so ritt ich dort ans Fenster, bog die Ranken des Rebgewindes aus einander und sah – Sie, Eugenie, ein verkörpertes Märchen.

»O, verzeihen Sie mir, daß ich nicht anders kann, als Ihnen meine Gedanken so lebhaft darzulegen; jener Augenblick ist mir unvergeßlich. Ihr Anblick traf mich tief; ich schaute dem lieblichen Bilde, das sich mir darbot, mit Entzücken zu, bis der Hund anschlug, bis Sie sich erschreckt emporrichteten, dann verschwanden, bis Alles in einander verschwamm und verging, wie es vorkommt in jenem Märchen, dem die richtige Lösung fehlt.

»Ich wandte mich an Klaus mit der Frage, wen ich gesehen; der alte Jäger, der mich, einen wilden jungen Menschen, kannte, hielt es für passend, mir zu sagen, die kleine Fee, welche ich in seinem Zimmer gesehen, sei die Tochter einer armen Anverwandten.«

»So ritt ich meines Weges, die liebe und freundliche Erscheinung für nichts weiter nehmend als eine gute Vorbedeutung, die ich gesucht. Aber sie selbst,« setzte er leiser hinzu, »vergaß ich deßhalb nicht, die kleine liebe Fee – Dornröslein; und wenn mir ihr Bild vor die Seele trat, – und das geschah so oft, ach, so sehr oft, Eugenie! – so ließ ich in meinen Träumereien dichtes Rankengewinde, blühende Schlingrosen rings um Sie her zusammen wachsen, eine undurchdringliche Wand bilden, die Sie vor den Augen der Welt verbarg, an einer Stelle, welche nur dem Glücklichen bekannt war, der Sie einstens aus tiefem Zauberschlafe erwecken solle. – –

»– – Ich war nicht jener Glückliche, denn als ich zurückkehrte, waren alle Poesie, alle Blüthen von meinem Leben abgestreift. Im Frühlinge desselben war ich erstorben und verdorrt, und so trat ich plötzlich wieder vor Sie hin, ich dem Grabe nahe, Sie eine frische und aufblühende Knospe. Da erfuhr ich auch, wer Sie seien, und was ich damals gelitten, Eugenie, als ich so einen ganzen schönen Lebenskranz, besten Zierde Sie vielleicht geworden wären – o, lassen Sie mich zu Ihnen reden, wie es mir mein Herz eingibt – zerpflückt und zerrissen vor mir liegen sah, ist mir unmöglich Ihnen zu sagen. Sie würden es nicht begreifen.«

»O doch, o doch!« seufzte sie leise in sich hinein.

»Da durchlebte ich Stunden, gegen welche die Qualen der Verdammten Seligkeit sein müssen. Ich war nur glücklich in dem Gedanken, daß Sie in mir nur den kranken Neffen des Jägers sahen, daß das Mitleid, welches Sie mir schenkten, meiner traurigen Person galt.«

Eugenie legte ihre Hände zusammen, – sie nickte leicht mit dem Kopfe.

»Wenn es gekommen wäre, wie es den Anschein hatte, daß es kommen sollte, so wäre ich jetzt ruhig, wohl glücklich. Sie hätten vielleicht auf dieser Stelle einen Kranz gewunden und ihn auf mein Grab gelegt, Sie hätten vielleicht meinem Andenken hier und da eine freundliche Erinnerung geschenkt.«

»Ich hätte Ihr Andenken gesegnet,« gab das junge Mädchen, ohne aufzublicken, zur Antwort; »auch wenn es nicht so gekommen wäre, wie Sie edelmüthig genug waren, meiner zu gedenken. – Ich weiß das alles.«

Der Graf machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand und fuhr alsdann fort: »Da schien sich mein Schicksal ändern zu wollen, freundlich, selig sich zu gestalten; vom tiefsten Leid wagte ich es, aufzublicken zum höchsten Glücke, und dieses höchste Glück, Eugenie, lag für mich in Ihrem Herzen, in der Hoffnung Ihrer Liebe, wenigstens Ihrer Zuneigung zu mir.«

Gewaltsam zwang er sich, ruhig zu bleiben, er drückte seine Rechte vor die Augen, er blickte an den blauen Himmel empor; er biß die Lippen auf einander, als er den glänzenden Sonnenschein sah, der heute wie damals um das Häuschen spielte.

»Ich glaubte meinem Ziele, meinem Glücke, dem strahlendsten Lichte nahe zu sein, da warf mich das Schicksal zurück in wilde finstere Nacht.«

Eugenie zitterte, sie verstand seine Worte nicht ganz, aber sie ahnte, was er sagen wollte. Und diese Ahnung wurde ihr zur furchtbaren Gewißheit, als der junge Mann nun mit fast tonloser Stimme und einer erschreckenden Ruhe fortfuhr: »Heute Nacht erschien George von Breda unerwartet bei mir, ich erschrak, als ich in sein verstörtes Gesicht blickte, aber ich fand sein Aussehen gerechtfertigt, als er mir mit furchterregender Ruhe seinen Zustand geschildert, die Geschichte der letzten Tage berichtet.«

Das Mädchen machte eine gewaltsame Bewegung, als wolle sie empor springen; doch legte der Graf die Hand sanft auf ihren Arm, indem er sagte: »Bleiben Sie, Eugenie, seien Sie stark und muthig, hören Sie mich bis zum Ende. – George von Breda hatte ja erfahren, wie unendlich ich Sie geliebt; er mußte daraus abnehmen, welchen entzückenden Hoffnungen ich mich hingäbe, und er war mir die ganze Wahrheit schuldig. – – – Lassen Sie mich einer Sache erwähnen, Eugenie, wovon ich gern nicht gesprochen hätte, welche Sie aber vorhin berührt. George von Breda wußte es, wie uneigennützig meine Liebe zu Ihnen war, wie ich Sie, auch ohne alle Hoffnung für mich, glücklich zu sehen wünschte. Deßhalb war er mir einen klaren Blick in die Verhältnisse schuldig; er wußte, daß er sich in mir nicht irren würde. – Schon früher sagte ich Ihnen, es sei nicht der Zufall, der mich hieher geführt – George war es selbst, der mich veranlaßt, Sie aufzusuchen.«

»O George!« rief Eugenie aufs tiefste erschüttert. »Sprechen Sie nicht weiter,« wandte sie sich weinend an den Grafen; »ich bin jetzt nicht stark genug, Sie zu hören.«

»Und doch muß ich gerade in diesem Augenblicke zu Ihnen reden, kalt und vernünftig zu Ihnen reden, und Sie müssen mich gerade so anhören. – O Eugenie,« fuhr er mit einer Leidenschaft, die seine Worte Lügen strafte, fort, »wüßten Sie, wie ich Sie liebe, wüßten Sie, wie das schon allein meine größte Seligkeit ist, Sie sehen, den Blick in Ihr gutes Auge senken zu dürfen, den Ton Ihrer Stimme zu hören, Sie würden mir behülflich sein, ruhig und vernünftig zu Ihnen zu sprechen, wie es der Ernst des Augenblickes verlangt.

»Wenn auch Alles gekommen wäre, wie es vor einem halben Jahre den Anschein hatte, daß es kommen müsse, mein Tod hätte Sie nicht glücklich machen können. Aber mein Leben kann es vielleicht, wenn ich es Ihnen nach alle dem, was vorgefallen, weihen dürfte, wenn Sie mir gestatten, als treuer Freund an. Ihrer Seite zu gehen, wenn Sie sich auf diesen Arm stützen wollen, Ihre Hand in die meinige legen, damit ich Sie sanft durch das Leben führen kann, von der Vergangenheit mit Ihnen sprechend bis zu dem für mich so seligen Momente, der gewiß einstens kommen wird, wo Sie mir vielleicht Dank sagen für die heutige Stunde und hinzusetzen: sie war hart und schmerzlich, aber sie hat, wenn auch nicht unser Aller Glück, doch unser Aller Frieden gegründet. – George hat mich beauftragt, so mit Ihnen zu sprechen.«

Sie saß unbeweglich da, den Kopf in ihre Hände gesenkt.

»Und nun bin ich zu Ende,« sprach Graf Helfenberg nach einer Pause mit weicher Stimme. »Nun liegt unser aller Schicksal in Ihren Händen; – darf ich noch hinzusetzen,« fuhr er mit bebenden Lippen fort, »daß für mich Glück und Elend an Ihrem Ausspruche hängt? Darf ich es noch einmal wagen, Ihnen, Eugenie, ins Gedächtniß zurückzurufen, daß ich auch ohne Ihren Besitz in Frieden gestorben wäre bei dem Gedanken, Ihr Glück begründet zu haben, daß Sie mir schon darum vertrauen dürfen, daß ich, ohne Sie der unglücklichste Mensch auf Erden bin, daß ich Sie nicht verlassen kann und traurig und elend immer wieder Ihre Nähe suchen werde, wenn Sie mich auch hundert Mal zurückstoßen? Ja, Eugenie, ich liebe Sie, ich kann nicht von Ihnen lassen.«

Er schwieg, in gewaltiger Aufregung ängstlich eine Antwort erwartend. Doch da sie unbeweglich saß wie vorhin, ohne aufzublicken, ohne einen Ton ihrer Stimme hören zu lassen, so ward es rings um die Hütte des Jägers so still, so entsetzlich still, daß der junge Mann das Klopfen seines Herzens deutlich vernahm und daß ihm der leiseste Lufthauch, der über die Gräser strich, wie ein mächtiges Sausen ertönte. – –

– – Da mit einem Male hörte man ein lauteres Geräusch, den Schall herannahender Fußtritte auf dem dürren Laub, das vom vergangenen Winter übrig geblieben war. Graf Helfenberg blickte tief aufseufzend in die Höhe und sah Jemand den kleinen Abhang herabkommen, der den Stock, welchen er in der Hand trug, nicht zum Aufstützen gebrauchte, sondern um damit allerlei Figuren in der Luft zu beschreiben. Es war ein älterer Mann in einem ziemlich abgeschossenen braunen Rock, der jetzt seine Stimme erhob und laut und heiter ausrief:

»Da finde ich dich endlich, nachdem ich den halben Wald nach dir durchforscht.«

Kaum erkannte Eugenie den Ton dieser Stimme, so sprang sie empor, flog dem Ankommenden entgegen und warf sich in seine Arme.

»Ei, mein Kind,« sagte Herr von Braachen, nachdem er mit väterlicher Zärtlichkeit ihren Kopf an seine Brust gedrückt, wobei er leicht mit der Hand über ihr volles Haar strich, »thust du doch gerade, als fliehest du vor etwas Entsetzlichem. Und doch sehe ich so gar nichts Erschreckliches hier,« setzte er mit einem launigen Blicke auf den Grafen hinzu, der sich mühsam gefaßt hatte und grüßend näher trat. »Sollten Sie wohl glauben,« wandte sich der alte Mann an ihn, »daß dieses Mädchen, meine liebe Eugenie, ein kleiner toller Flüchtling ist? – Aber wie ich mit Vergnügen sehe, hat ihr die Flucht nichts genützt. – Nun, mir ist es nicht nur recht, Herr Graf, sondern ich will ehrlich sein und Ihnen nur gestehen, daß Sie in mir einen der glücklichsten Väter der ganzen Welt sehen. Wir wollen uns da kein Air geben. Was wahr ist, ist einmal wahr, und auch Eugenie – nicht wahr, mein Kind?«

Aengstlicher als vorher drücke diese ihren Kopf an die Brust des Vaters, und ein convulsivisches Zittern flog durch ihren Körper.

»Sie hat nicht ein Wort davon gesprochen,« fuhr Herr von Braachen mit einem glückseligen Lächeln fort, »nicht einmal zu ihrer Mutter, die nach der Stadt fuhr und gleich darauf heim kehrte mit der großen Neuigkeit, die ihr Onkel George mitgetheilt.«

Bei Nennung dieses Namens zucke Eugenie zusammen; doch litt sie es geduldig, als Graf Helfenberg dicht an Vater und Tochter hintrat und sanft die Hand der letzteren von der Schulter des alten Mannes nahm.

»Onkel George,« fuhr dieser fort, »hat mir auch in Ihrem Auftrage geschrieben, Herr Graf. Ich hatte freilich keine Ahnung,« setzte er lachend hinzu, »daß Sie selbst so schnell da sein würden. Doch wo ist der Brief? – Ja, Kind, wenn du mich so umklammert hältst, so kann ich unmöglich diesen wichtigen Brief hervorholen.«

Eugenie richtete sich auf mit halb geschlossenen Augen; sie sah entsetzlich bleich aus; doch duldete sie es, daß Graf Helfenberg sie sanft von ihrem Vater entfernte und liebreich unterstützte.

»Ja, hier ist er,« sprach der alte Herr, indem er ein Papier entfaltete und daraus las: »Mein bester Freund, Graf Helfenberg – und so weiter,« murmelte er, »und so weiter, Eugenie, was dir der Herr Graf selbst wohl gesagt haben wird. Schließlich schreibt Onkel George noch, er freue sich außerordentlich über diese Verbindung, sie erfülle alle Wünsche, die er haben könne und dürfe. – Und das sage ich auch von ganzem Herzen. – Und du, Eugenie – unartiges Kind, das also schon wieder Lust hat, mich zu verlassen, – willst du Gräfin Helfenberg werden?«

Sie preßte heftig die Lippen auf einander, sie athmete tief und erhob ihren Blick von der Erde zu der Bank, wo sie eben gesessen, dann zu dem Fenster des kleinen Häuschens, wo sie ihre schönen Märchen geträumt, endlich empor an den Himmel, dessen dunkle Bläue sich in zwei Thränen wiederspiegelte, die ihre Augen füllten.

»Eugenie!« sprach Jemand neben ihr in bittendem Tone; und sie erwiderte leise:

»Du hast es gesagt, Vater.«


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