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Dreizehntes Kapitel

.Die Bewohner der Weisergasse waren sich darüber einig, daß man bei Villerois seit einiger Zeit vorzüglich speisen müsse. Die Franzosen fingen zwar erst Nachmittags um fünf mit ihrer Kocherei an, aber dann dufte es auch gleich so köstlich nach Gebratnem, daß man es drei Häuser weiter ganz deutlich rieche. Am letzten Sonntag, so ging das Gerücht, sollten sie sogar junge Enten gegessen haben. Glaubwürdige Leute schworen nämlich darauf, sie hätten in der Asche frischgerupfte Entenfedern gefunden, und die könnten nur von den Ausländischen dorthin geworfen worden sein. Und ein paar Tage später zeigte man sich die rote Schale von einem Krebs, aber von einem Krebs, der sechsmal größer gewesen sein mußte, als die Krebse, die man in der Laubbach fing. Dieser Fund erregte gewaltiges Aufsehen; ein Flickschuster, der ein Hausgenosse der Franzosen war und für alles Merkwürdige Verständnis hatte, brachte die sterblichen Reste des Wundertiers zum Kanonikus von Umbscheiden, damit dieser sie seinem berühmten Naturalienkabinett einverleibe, wurde aber von dem geistlichen Herrn darüber belehrt, daß der Träger des seltsamen Panzers der Wissenschaft längst unter dem Namen »Hummer« bekannt sei und keineswegs zu den Seltenheiten gehöre.

Mehr noch als Entenfedern und Hummerschalen beschäftigte die Phantasie der guten Leute ein ganzer Kreis von Legenden, dessen Mittelpunkt der alte vornehme Herr war, der bei Villerois zur Miete wohnte. Man betrachtete ihn mit stillem Schauder, denn es ging die Sage, er sei vor einiger Zeit geradeswegs von Paris gekommen, wo er den Kopf schon unter dem Fallbeile gehabt habe und nur durch ein in den Zopf verborgnes Stück starken Eisendrahtes gerettet worden sei. Doppelt auffallend schien es, daß ein Mann mit so entsetzlichen Lebenserfahrungen dennoch meist eine ganz vergnügte Miene zur Schau trug, und, wie man ebenfalls aus sichrer Quelle wußte, noch an den Dingen dieser Welt so großen Anteil nahm, daß er jeden Mittwoch und jeden Samstag auf dem Markte die Lebensmittel in eigner Person einkaufte.

In mehr als einer Hinsicht mochten die Nachbarn in der Weisergasse über den alten Edelmann und seine Schicksale falsch berichtet sein, das verhinderte aber nicht, daß sie in puncto des vergnügten Ansehens Recht hatten. Der Marquis von Marigny sah in der Tat höchst zufrieden und gutgelaunt aus, und er war dazu auch durchaus berechtigt. Der Verkauf der Pretiosen hatte sich wider Erwarten schnell und mit einem ungeahnt günstigen Ergebnis ermöglichen lassen. Und das kam so: Als der Marquis seinem Versprechen gemäß die russische Gräfin in den »Drei Reichskronen« besuchte, erzählte sie ihm von ihrer Absicht, nach Frankfurt zu reisen und dort den Beginn der guten Jahreszeit abzuwarten. Ihr Schwiegersohn, der Fürst Karamsin, der als außerordentlicher Gesandter der Kaiserin am Hofe des Großherzogs von Toscana weile, werde sie in Frankfurt abholen und bis Petersburg begleiten. Marigny bemerkte, er gedenke im April oder Mai ebenfalls für einige Tage nach Frankfurt zu reisen, und erkundigte sich bei der Dame, die mit den dortigen Verhältnissen genau bekannt zu sein schien, nach einem zuverlässigen Juwelier. Auf ihre Frage, ob er Juwelen zu kaufen beabsichtige, gestand er nach einigen Umschweifen, daß er solche vielmehr zu verkaufen habe und dies am leichtesten in Frankfurt bewerkstelligen zu können glaube. Die Gräfin sagte hierauf in ihrer lebhaften Art: Liebster Marquis, kommen Sie nicht früher nach Frankfurt, als bis ich Ihnen die Ankunft Karamsins melden werde. Der Fürst hat großes Vergnügen an Edelsteinen und dürfte Ihnen, vorausgesetzt, daß Ihre Juwelen ihm gefallen, einen annehmbarern Preis bieten als die Frankfurter Händler.

Das war ein Vorschlag, der sich hören ließ. Am 4. Juni erhielt Marigny denn auch einen Brief, worin die Gräfin ihm mitteilte, Karamsin sei eingetroffen, und schon am 9. fuhr er selbst an der Seite seines Schwiegersohns durch das Friedberger Tor in die freie Reichsstadt am Main ein. Man hatte, um eine unliebsame Berührung mit den die Umgegend von Mainz unsicher machenden französischen Streifkorps zu vermeiden, den Weg durch das Lahntal und über Butzbach gewählt, eine Vorsichtsmaßregel, die sich schon mit Rücksicht auf den kostbaren Inhalt des Koffers empfahl.

Der Fürst, wie alle wirklich vornehmen und gebildeten Russen ein Mann von uneigennütziger Liebenswürdigkeit, besichtigte die ihm vorgelegten Steine mit großer Sachkenntnis, sonderte eine kleine Anzahl aus und erbot sich, für die übrigen genau ein Viertel der Summe mehr zu zahlen, die ein beliebiger, von Marigny zu bestimmender Juwelier bieten würde. Ich mache hierbei, so erklärte er, immer noch ein weit besseres Geschäft, als wenn ich bei einem Händler kaufen würde, da sich diese Leute für verpflichtet halten, uns Russen den doppelten und dreifachen Preis abzuverlangen. Die Franzosen gingen auf den Vorschlag ein, ließen die Steine taxieren und erhielten schon am nächsten Tage durch Karamsins Bankier ihr Geld. Sie konnten, obgleich sie aus dem Rest der Juwelen nur einige hundert Gulden lösten, mit dem Ergebnis ihrer Reise recht zufrieden sein, und Marigny bedauerte nur, nicht vor Jahren die Herrschaft Aigremont verkauft und alsdann sein gesamtes Vermögen in Diamanten angelegt zu haben. Der ersten Sorge war man ledig, nun stellte sich die zweite ein: die Sorge, ein Gut zu finden, das allen billigen Anforderungen entsprach. Das war nicht leicht, da der Sommer vor der Tür stand, und die kurfürstliche Regierung vom Stadtmagistrat immer dringlicher die Ausweisung der Emigranten verlangte. Zum Glück nahmen Bürgermeister und Rat dieses landesväterliche Gebot nicht allzu ernst. Der Kurfürst selbst weilte in der Ferne, und die allgemeine Aufmerksamkeit richtete sich auf Mainz, das die Verbündeten mit ihren Belagerungswerken immer enger umklammerten. Vom Ehrenbreitstein wurden die Geschütze stromaufwärts geschafft; holländische Kanonenboote passierten die Stadt, und mancher Koblenzer begab sich auf das rechte Rheinufer, um von den Höhen Schmalbachs und Schlangenbads aus das Bombardement zu beobachten.

Während alle Welt von kriegerischen Dingen sprach, die Verwundung des Prinzen Louis Ferdinand beklagte, den durch die Beschießung angerichteten Schaden berechnete und darüber stritt, was im Falle der Kapitulation mit den Klubbisten geschehn werde, reisten Marigny und Villeroi, jeder auf eigne Faust, in der Nachbarschaft umher und untersuchten, etwa wie Stare, die sich nach einer Nistgelegenheit umschauen, jeden Winkel. Man konnte sie heute in einem Dorfe und morgen in einer Landstadt sehen, wo sie Nachfrage hielten, ob nicht ein Gut mittlern Umfangs zum Verkaufe stehe. Bald besichtigten sie einen einsamen Hof in einem entlegnen Seitentale, bald klommen sie zu einer halbverfallnen Burg empor, zählten die noch leidlich bewohnbaren Räume und erkundigten sich bei dem Eigentümer, dessen Ermittlung gewöhnlich große Mühe verursachte, wieviel Morgen Wald, Weinberge und Ackerland zu dem Anwesen gehörten. Fanden sie einen Besitz, der ihnen zusagte, so stellte es sich stets heraus, daß er nicht käuflich war, vernahmen sie dagegen, dieses oder jenes Landgut solle verkauft werden, so wurden sie mißtrauisch und kamen dann zu der Überzeugung, daß es eine schlechte Lage habe, daß der Boden nichts tauge, daß die Gebäude in mangelhaftem Zustande seien, und daß endlich der dafür geforderte Preis in keinem Verhältnis zu dem wirklichen Werte des Gegenstandes stehe.

Hatte einer von ihnen etwas entdeckt, was ihm gefiel, so stieß er bei dem andern auf entschiedne Mißbilligung, da jeder bei seinen Ansprüchen einen andern Maßstab anlegte, Marigny an Aigremont, und Villeroi an sein Jagdhäuschen dachte. So waren die Güter, auf die der alte Herr sein Augenmerk richtete, meist viel zu groß, und die, mit denen sein Schwiegersohn liebäugelte, viel zu klein, als daß der Kaufpreis und der zu erwartende Ertrag den Vermögensumständen der Familie entsprochen hätten.

Aber schließlich mußte man doch einmal zum Ziele kommen, und das geschah an dem denkwürdigen 22. Juli, dem Tage der Kapitulation von Mainz.

Villeroi kehrte spät Abends von einer seiner Forschungsreisen zurück.

Vater! Marguerite! Jetzt habe ich gefunden, was wir suchen! rief er schon auf dem Vorsaale.

Wenns nur nicht wieder ein Gärtchen mit drei Stachelbeersträuchern und einem Hühnerstalle ist! bemerkte Marigny skeptisch.

Diesesmal nicht, Vater. Eher zu groß als zu klein! entgegnete Henri mit großer Zuversicht. Sechzehn Morgen Weinberg, zweiundzwanzig Feld, und überdies ein großer Garten mit vielen Obstbäumen. Und das Haus ist sehr ansehnlich, solide gebaut und geräumig und wirft schon für sich allein eine hübsche Summe ab.

Das Haus bringt Geld ein? Wie soll ich das verstehn?

Es ist ein alter Gasthof mit Ausspannung für zwanzig Pferde, Viehställen, Kelterhaus –

Henri – ein Gasthof? Gütiger Himmel, habe ich recht verstanden: ein Gasthof?

Und zwar ein höchst vornehmer. Drei große Säle mit Aussicht auf den Rhein, achtzehn Logierzimmer.

Was sollen wir denn mit den drei Sälen und den achtzehn Logierzimmern anfangen?

Dasselbe, was der bisherige Besitzer damit angefangen hat.

Du gedenkst also, die Gastwirtschaft fortzusetzen?

Selbstverständlich! Darin liegt doch eben der Wert des ganzen Anwesens. Bedenken Sie nur: ein alter, angesehener Gasthof an der Heerstraße! Achtzehn Logierzimmer – Stallung für zwanzig Pferde!

Marigny, der den kleinen Claude auf dem Schoße gehabt hatte, erhob sich, setzte das Kind auf den Boden und wanderte mit verschränkten Armen auf und nieder.

Was sagst du zu dem Einfalle deines Mannes? wandte er sich an Marguerite.

Ich muß erst wissen, wo das Gut liegt, erwiderte diese.

Sag nur ruhig, wo die Schenke liegt, bemerkte der alte Herr mit grimmigem Lachen.

Andernach gegenüber, erklärte Henri. Der Ort heißt Leutesdorf.

Wohl kurkölnisch?

Nein, Leutesdorf gehört zu einer kurtrierischen Enklave zwischen Kurköln und der untern Grafschaft Wied. Der Rotwein, der dort wächst, ist vortrefflich.

Das beruhigt mich außerordentlich. Es würde mir nämlich höchst fatal sein, hinter dem Schenktische stehn und hören zu müssen, wie die Bauern über den Wein schimpfen.

Wie Sie nur reden, lieber Vater! Als ob jemand daran dächte, Sie mit der Verwaltung des Gasthofs zu behelligen! Übrigens verkehren dort auch keine Bauern. Der Gasthof ist nur für vornehme Reisende. Den Wirt werde ich schon machen. Und wenn Marguerite sich ein wenig um die Küche und das Gesinde kümmern wird –

Um die Küche? fragte der alte Herr plötzlich mit unverkennbarem Interesse. Ist sie geräumig?

Mehr als geräumig. Man könnte sie beinahe als einen vierten Saal betrachten.

Das läßt sich hören. In allzu kleinen Küchen verdirbt gewöhnlich der Dunst alle feinern Gerichte. Keller sind doch hoffentlich auch vorhanden?

Die allerbesten. Denken Sie nur: in einem lagen allein zwölf Stückfässer.

Nun ja, Weinkeller werden natürlich vorhanden sein. Ich meine jedoch, ob auch ein trockner, luftiger und kühler Keller da ist, wo man Fleisch, Fische und kalte Speisen aufbewahren könnte?

Ohne Zweifel. Andernfalls ließe sich dergleichen ohne Schwierigkeit einrichten.

Und der Kaufpreis?

Ist sehr mäßig. Zwölftausend rheinische Gulden. Der Besitzer ist alt und will zu einer in Andernach verheirateten Tochter ziehn.

Du bist also mit dem Manne handelseinig geworden?

Das natürlich noch nicht. Ehe Sie und Marguerite das Gut gesehen haben, kann von einem Abschlusse des Geschäfts keine Rede sein.

Marigny war ans Fenster getreten und schaute auf die dunkle Gasse hinaus. In seinem Innern kämpften die mannigfachsten Gefühle.

Kinder, sagte er endlich, indem er seine Wanderung durch das Gemach wieder aufnahm, wenn ihr einmal darauf besteht, den Gasthof zu kaufen, so kann ich nichts dagegen tun. Das Geld gehört Claude; ihr seid Claudes Eltern und habt die Entscheidung zu treffen, wie das Geld angelegt werden soll. Aber tut mir den Gefallen und laßt mich aus dem Spiele. Ich fürchte, ich habe keine Anlagen zum Gastwirt. Ich glaube auch nicht, daß ein Marquis von Marigny jemals Wein verzapft hat. Denn darauf läufts ja doch hinaus. Du, Henri, mit deiner verstümmelten Hand, du wirst mit dem Zapfkran nie und nimmer fertig werden, das weiß ich im voraus. Und Marguerite wird mit dem Jungen und den Mägden mehr als genug zu tun haben.

Ich wiederhole Ihnen, lieber Vater, daß ich gar nicht daran gedacht habe, Ihre Hilfe in den Gasthofsangelegenheiten in Anspruch zu nehmen. Ich habe Ihnen, um es gleich herauszusagen, eine ganz andre Rolle zugedacht.

Und welche wäre das?

Die eines Gastes. Sie bewohnen das beste Logierzimmer, erscheinen, wenn es Ihnen beliebt, an der Wirtstafel und beschränken sich darauf, durch ihre bloße Anwesenheit das Ansehen des Hauses zu erhalten und zu vermehren.

Der alte Aristokrat schwieg, aber er lächelte, und das war ein Anzeichen, daß er den Vorschlag des Schwiegersohnes nicht so ohne weiteres von der Hand wies.

Du glaubst also, daß es für euch von Vorteil wäre, wenn ich mich mit meiner Person und meinem Namen an dem Unternehmen beteiligen würde? fragte er endlich.

Ich bin davon fest überzeugt, erwiderte Henri mit Feuer. Bedenken Sie nur, was das sagen will, wenn die Leute sich erzählen: Bei Villeroi in Leutesdorf wohnt der Marquis von Marigny. Und Sie werden wissen, wo Tauben sind, fliegen Tauben zu.

Schon recht, schon recht! sagte der alte Herr, indem er an seinem Jabot zupfte und die gerollten Schläfenlocken seiner Puderfrisur befühlte, als ob er schon den Ehrenplatz an der Wirtstafel einnehmen wolle, aber ich weiß nicht, ob diese Beschäftigung ausreichen wird, mich vor Langerweile zu schützen. Wenn ihr arbeitet, so darf ich mich doch nicht damit begnügen, wie irgend eine kostbare Rarität euer Heim zu schmücken und Leute anzulocken, die nachher damit prahlen, sie hätten mit einem echten Marquis aus einer Terrine Suppe geschöpft.

Vielleicht finden Sie Zeit, lieber Vater, hin und wieder dem Koch einen Wink zu geben und den Speisezettel zusammenzustellen, bemerkte Marguerite.

Seht, Kinder, das läßt sich schon eher hören! Dem Koch einen Wink geben! Weiß der Himmel, daran werde ichs nie fehlen lassen! Was tut man nicht für seinen Enkel! Ein Dutzend Winke jeden Tag, wenns sein muß; und wenn der Mensch schwer von Begriff ist, so zeig ich ihm gleich, wies gemacht wird. Meint ihr überhaupt, fügte er nachdenklich hinzu, daß ein Koch durchaus notwendig wäre? Glaubt ihr nicht, es genügte, wenn man einen tüchtigen Küchenjungen und eine saubere Magd nähme, die das Geschirrspülen und Gemüseputzen besorgen müßten? Für das bißchen Kochen würde ich schließlich schon sorgen. Auf große Diners werdet ihr euch wohl ohnehin nicht einlassen. Fünf, sechs Gänge, eine ordentliche Suppe, ein Fischgericht, eine Pastete, ein Braten, ein wenig Geflügel, eine süße Speise – mehr wird auch der verwöhnteste Reisende in einem Dorfgasthofe an der Grenze der untern Grafschaft Wied kaum verlangen.

Wenn Sie sich wirklich der Mühe unterziehn würden, die Leitung und Überwachung der Küche auf Ihre Schultern zu nehmen, so wäre mir eine große Sorge abgenommen, sagte Villeroi, erfreut, daß der Marquis sich mit dem Gedanken des Gasthofkaufs so bald schon vertraut zu machen begann.

Was meinst du, Marguerite, wandte sich der alte Herr an seine Tochter, sollen wir nicht gleich morgen früh nach dem Orte – wie heißt er doch? – fahren und uns unsre zukünftige Besitzung einmal ansehen?

Das Andernacher Postschiff fährt erst am Samstag wieder, bemerkte Henri, und vorher wird kaum eine Reisegelegenheit zu finden sein.

Bis Samstag warten? Damit uns ein andrer zuvorkommt und uns den schönen Gasthof vor der Nase wegschnappt? Nein, Henri, das wäre sträflicher Leichtsinn. Bedenke doch nur: achtzehn Logierzimmer, drei Säle – nicht wahr, du sprachst doch von drei Sälen? – und eine geräumige, luftige Küche! Wo finden wir so etwas wieder? Und zu dem Preise? Nein, das dürfen wir uns nicht entgehn lassen! Ich bestelle sogleich Extrapost. Morgen früh um fünf Uhr reisen wir –

Schon um fünf, Vater? wagte die junge Frau einzuwenden.

Ist dir wohl zu zeitig? Gut, ich bestehe nicht darauf. Sagen wir also um halb sechs!

Und wer soll beim Jungen bleiben? fragte Marguerite wieder.

Natürlich ich, sagte Henri. Ich habe mir alles genau angesehen und glaube, ich kann mir eine zweite Besichtigung ersparen.

Nichts da! Du mußt unbedingt mitfahren! entgegnete Marigny sehr bestimmt. Wenn das Geschäft zum Abschluß gebracht werden soll, darfst du nicht fehlen.

Ja, aber Claude?

Den nehmen wir natürlich auch mit. Ich dächte, er hätte das meiste Anrecht darauf, das Haus zu sehen, das sein Eigentum werden soll. Überdies wird ihm die Spazierfahrt Vergnügen bereiten. Er hat ohnehin so wenig Zerstreuung.

Er ist aber auch erst fünfviertel Jahre alt, bemerkte Marguerite lächelnd.

Tut nichts! Man könnte ihn seinem Verstande nach für einen Burschen von drei oder vier Jahren halten. Jedenfalls soll er mit. Ich, als der Großvater, habe auch ein Wörtchen mitzureden.

Da man in der Tat nichts Stichhaltiges gegen Claudes Teilnahme an der Landpartie vorzubringen wußte, setzte der Marquis seinen Willen durch und entschloß sich sogar, die Stunde der Abfahrt mit Rücksicht auf den Enkel von halb sechs auf halb sieben zu verschieben.

Das hinderte ihn jedoch nicht, selbst schon vor sechs tadellos frisiert und gepudert zwischen der Weisergasse und der Posthalterei auf und ab zu spazieren, einmal, um durch sein Beispiel die Villeroische Familie zur Beschleunigung der Reisevorbereitungen anzuspornen, sodann aber auch, um sich die Gewißheit zu verschaffen, daß man mit dem Anschirren der Postpferde rechtzeitig beginne. Der gute alte Herr! In seinem ganzen Leben war er nicht so ungeduldig gewesen wie heute!

Und als man in Andernach glücklich angelangt war und am Ufer vernahm, daß die Fähre gerade auf der andern Rheinseite sei, wurde seine Geduld auf eine neue Probe gestellt, die um so härter sein mußte, weil man das Haus, dem seine Sehnsucht galt, jenseits des Stromes deutlich liegen sah. Es war ein köstlicher Sommermorgen; der Rhein glitzerte im Lichte der Sonne, über den Schieferhängen der Uferberge flimmerte die durchglühte Luft, und wo der Blick sich talwärts in die Ferne verlor, grüßte der düstre Felskoloß des Hammersteins wie ein trotziger Wächter dieser gesegneten Gebreite herüber. Aber für dieses Landschaftsbild hatte der alte Herr kein Auge. Er sah nur das Haus mit dem steilen Dache, den kurzen Zwiebeltürmchen, der langen Fensterreihe und dem schmalen, schönvergitterten Balkon, das hinter Baumgruppen halb versteckt die Reisenden zur Einkehr zu laden schien.

Es sieht in der Tat recht vornehm aus, bemerkte Marigny, während er durch das kleine Perspektiv im Knopfe seines spanischen Rohres hinüberschaute, zu Henri, ich finde sogar, daß es in mancher Hinsicht an Aigremont erinnert, obgleich es natürlich viel kleiner ist. Sieh nur, wie der Schornstein raucht! Ich glaube, man ist schon mit der Zubereitung des Mittagessens beschäftigt!

Das Fährboot kam vom andern Ufer herüber und legte an. Marigny, der mit den Seinen sogleich eingestiegen war, fand es unbegreiflich, daß die Schiffer nicht gleich wieder abfuhren, sondern im Schatten des Zollhäuschens in aller Ruhe ihr Frühstück verzehrten. Aber auch als sie damit fertig waren, machten sie noch keine Anstalten, sich wieder an die Ruder zu setzen, sondern erklärten geradeheraus, wegen dreier Passagiere führen sie nicht, und wenn nicht zum mindesten noch drei weitere kämen, blieben sie bis zum Mittage liegen. Nun zahlte der Marquis das Fährgeld für sechs Personen. Damit waren die Leute zufrieden, stießen vom Lande ab, ruderten eine Strecke weit stromaufwärts und ließen den Nachen dann von der Strömung hinübertreiben. Als man die Mitte des Flusses erreicht hatte, wurden auf einem Altane des Gasthofgartens drei Böller gelöst.

Marigny zog das Schnupftuch und winkte.

Man hat uns schon erwartet und sendet uns einen Willkommengruß, sagte er, strahlend vor Glück. Die Leute gefallen mir, sie wissen doch, mit wem sie zu tun haben!

Einen Augenblick später dröhnten von der Höhe des Kranenbergs ebenfalls Schüsse ins Tal, und auf den Türmen der Andernacher Pfarrkirche begannen die Glocken ein wahres Jubelgeläut.

Nun wurde der alte Herr stutzig. Marguerite, wandte er sich an die Tochter, die, den kleinen Claude auf dem Schoße, neben ihm saß, das ist ja gerade wie damals, als wir den Winter in Paris verbracht hatten und zu Ostern wieder nach Aigremont kamen! Entsinnst du dich noch? Da läuteten sie auch das Glöckchen der Schloßkapelle, und Jacques ließ am Portale die Böller krachen, daß die Pferde scheu wurden und uns beinahe in den Weiher geworfen hätten.

Der Fährmann riß den glücklichen Passagier nur zu bald aus seinem schönen Wahne.

Mainz hat kapituliert, sagte er, eben ist die Stafette durchgekommen. Nun werden sie wohl Frieden machen.

Und so betrat man unter Glockengeläut den Boden der neuen Heimat. Denn daß der Gasthof gekauft werden würde, stand für die drei Beteiligten längst fest. Der Kaufpreis war mäßig, das Wein- und Ackerland gut, die Gebäude schienen im besten Zustande, und die Küche, die in diesem Falle ja den Ausschlag gab, übertraf sogar Marignys kühnste Hoffnungen. Und ehe die Sonne hinter dem Kranenberge zur Rüste ging, hatte Villeroi den Kaufakt unterzeichnet. Er blieb, während die andern noch an demselben Abend nach Koblenz zurückfuhren, gleich in seinem neuen Besitztum, um die mannigfachen Förmlichkeiten zu erfüllen, zu denen er der Ortsbehörde gegenüber verpflichtet war. Am 1. September erfolgte dann die Übersiedlung.

*

Die Friedenshoffnungen gingen nicht so bald in Erfüllung, der Kanonendonner schien auf den Höhen des Hunsrückens und der Eifel nicht mehr verstummen zu wollen, und auch die Stadt, die den königstreuen Franzosen solange Schutz und Gastfreundschaft gewährt hatte, fiel in die Gewalt ihrer republikanischen Landsleute. Aber die Kriegswirren, die Tausende und aber Tausende um Hab und Gut brachten, sollten dem Hause mit dem steilen Dache und den Zwiebeltürmchen Segen bringen. Seit der Verkehrsstrom von der linken Rheinseite und vom Flusse selbst auf das rechte Ufer gedrängt worden war, wurden die achtzehn Logierzimmer nicht mehr leer. Heute kehrten preußische, morgen österreichische, hessische oder nassauische Offiziere ein, bald kamen niederrheinische Kaufleute, die zur Frankfurter Messe reisten, bald wohlhabende Flüchtlinge vom linken Ufer, die bei der ersten Nachricht von der Annäherung des Feindes Haus und Hof im Stich gelassen hatten. Die lange Tafel im Speisesaal war stets besetzt, und bei den vortrefflichen Gaben des Kellers und der Küche vergaß mancher für ein paar Stunden die Aufregung des Tages und den Ernst der Zeit. Was aber das Seltsamste war: im Gasthofe des Herrn von Villeroi herrschte ein Ton, der jeden vergessen machte, daß er in einer Herberge sei, ein Ton, der die vornehmen Gäste wie ein Hauch aus dem eignen Heim anmutete und die gewöhnlichen mit der gehobnen, beinahe weihevollen Stimmung erfüllte, die den deutschen Bürger sonst nur auf dem Parkett eines fürstlichen Hofes befällt. Und dieser aristokratische Hauch ging – darüber waren sich alle Gäste, so verschiednen Gesellschaftsklassen sie auch angehören mochten, einig – von dem alten Herrn aus, der das südliche Eckzimmer mit der schönen Aussicht rheinaufwärts bewohnte und bei jeder Mahlzeit, sobald die Suppe serviert worden war, sorgfältig frisiert und gepudert, gemessenen Schrittes in den Saal trat und seinen angestammten Platz am Kopfende des Tisches mit einer leichten Verbeugung gegen die Nachbarn zur Rechten und Linken einnahm. Er sprach wenig und nur mit Auserlesenen, aber sein Appetit wirkte gewöhnlich ansteckend auf die Tischgenossen, und sein Geschmack in Hinsicht auf die Weinkarte war für alle andern maßgebend. Obgleich er wohlbeleibt war, schien er die Vorliebe starker Leute für Ruhe und Bequemlichkeit nicht zu teilen: nach jedem Gange der Speisenfolge pflegte er aufzustehn, um sich, wie er sagte, durch eine kleine Promenade Appetit für die nächste Schüssel zu machen. Daß das Ziel dieser Promenade die Küche war, wo es immer noch etwas anzuordnen gab, ahnte freilich niemand. Die Gäste betrachteten ihn mit ehrerbietigen und teilnehmenden Blicken und munkelten sich zu, der alte Herr habe am Hofe des verstorbnen Königs von Frankreich eine hervorragende Rolle gespielt und durch die Revolution sein ganzes Vermögen bis auf die Kleinigkeit von zwei oder drei Millionen Livres verloren. Und oft geschah es, daß gegen das Ende der Tafel einzelne der Tischgenossen, vom Mitleid überwältigt, eine Bouteille von demselben Weine bestellten, den der alte Royalist gerade trank, und um die Erlaubnis baten, mit ihm auf den endlichen Sieg der gerechten Sache anstoßen zu dürfen. Dann stossen gewöhnlich einige Tränen der Rührung, da aber Tränen Salz enthalten, und Salz Durst verursacht, so blieb es nicht bei der einen Bouteille, und Henri, der den Weinkeller unter sich hatte, stellte dann draußen in seiner dunkeln Klause mit Vergnügen fest, daß drinnen im Speisesaal wieder einmal die gerechte Sache auf der Tagesordnung stehn müsse.

Trotz der Bemühungen der Gäste gelangte freilich das, was man die gerechte Sache nannte, doch nicht zum Siege. Der jungen Republik waren Schwingen gewachsen, und zum Erstaunen der Welt bewies sie, daß sie diese Schwingen zu gebrauchen verstand. Ihre ruhmreichen Trikoloren rauschten über den Reisfeldern Italiens wie über den Sandwüsten Ägyptens.

Wenn an der Wirtstafel zu Leutesdorf der Name des Generals Bonaparte genannt wurde – und das geschah immer häufiger –, pflegte der alte, wohlfrisierte Herr, der am Hofe des letzten Königs von Frankreich eine so bedeutende Rolle gespielt haben sollte, in tiefes Schweigen zu versinken. Er glaubte es seiner Vergangenheit schuldig zu sein, den Emporkömmling, der Miene machte, Alexander und Cäsar den Feldherrnlorbeer zu entwinden, unbeachtet zu lassen. Aber tief im innersten Herzen fühlte der Royalist doch etwas wie Stolz und Genugtuung darüber, daß der alte Ruhm des französischen Namens wieder aufzuleben begann.

Eines Tags, als Marigny in seinem Wohngemach am Fenster stand und auf den Rhein hinausschaute, der mit Treibeis ging, trat Marguerite zu ihm, legte ihre Hand auf seine Schulter und sagte: Vater, ich bringe eine frohe Botschaft. Der erste Konsul will den Emigrierten die Hand zur Versöhnung reichen. Frankreich steht uns wieder offen.

Nichts von Versöhnung! sagte der alte Edelmann schroff. Was kümmert uns der erste Konsul! Wenn er der Mann ist, der zu sein er vorgibt, wenn er die Rebellion verabscheut und der Ordnung zum Siege verhelfen will, so mag er die Gewalt in die Hände Ludwigs des Achtzehnten legen. Und mit weicherer Stimme fügte er hinzu: Frankreich wird uns auch ferner verschlossen bleiben. Aber was tuts? Das Schicksal hat es gut mit uns gemeint. Weil wir nicht ins Vaterland zurückkehren durften, ist das Vaterland zu uns gekommen.

Er öffnete das Fenster und wies nach den Türmen von Andernach hinüber, auf denen gerade der Sonntag eingeläutet wurde. Hörst du den Klang? fragte er. Das sind die Glocken französischer Kirchen!

Und seitdem fand man ihn oft, wie er verklärten Blickes nach den Bergen seines großen Vaterlands hinüberschaute. Die Erfüllung seiner stillen Hoffnungen, daß der Bruder Ludwigs des Sechzehnten den Thron seines Vorfahren wieder einnehmen möchte, erlebte der Marquis freilich nicht mehr. Dafür blieb ihm aber auch der Schmerz erspart, das Vaterland, das ihm so nahe gekommen war, wieder vom Rheine zurückweichen zu sehen. An häuslichen Freuden fehlte es dem alten Edelmanne nicht. Er sah den geliebten Enkel zu einem frischen Jüngling heranwachsen und an der Seite des Knaben ein zierliches Schwesterchen erblühen, das auf den Großvater große Stücke hielt und sich mit unfehlbarer Sicherheit in der Küche einfand, wenn es wußte, daß der alte Herr die Zubereitung einer süßen Schüssel »überwachte.« Diese Vorliebe für die Küche war aber auch das Einzige, was die kleine Henriette von den Marignys hatte. In allen übrigen Punkten war sie eine echte Villeroi. Vielleicht floß in ihren Adern sogar ein Tröpfchen demokratischen Blutes, denn sie heiratete später, bevor Eltern und Bruder nach der Restauration wieder in die alte Heimat zogen, einen Landsmann mit dem bürgerlichen Namen Delveaux, der den Gasthof übernahm und mit Erfolg weiterführte.

Das alte vornehme Haus mit dem steilen Dache und den schmucken Türmchen steht heute noch. Den Rheinreisenden ist es wohlbekannt, und mancher Wandrer hat sich in den geräumigen Sälen mit den altertümlichen Ledertapeten an Speise und Trank nicht minder gelabt als an der köstlichen Aussicht auf den Kranenberg und die malerischen Dächer und Türme von Andernach.

Stieg aber ein besonders hochstehender Gast ab, den man in außergewöhnlicher Weise zu bewirten gesonnen war, etwa ein regierender Fürst oder ein hoher geistlicher Herr, dann suchte der jeweilige Besitzer aus einem wohlverschlossenen Wandschrank den alten Lederband hervor, der die erprobten Rezepte des großen Kochkünstlers enthielt, blätterte darin und sagte zum Küchenchef: Als ersten Gang nach der Suppe nehmen wir Salmi von Enten à la Marigny!

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