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Viertes Kapitel

.Rede Sie nicht so töricht, Haßlacherin! Wieder gesund werden! Als ob das Fräulein wieder gesund werden könnt! Sie hat wohl noch nie was von kontagiösem Fieber gehört? Glaubs schon, sonst tät Sie nicht so närrisch fragen. Wenn ich Ihr sage, heut über acht Tage liegt Ihre Demoiselle auf dem Kirchhof, so kann Sies getrost glauben. Sie kennt mich doch?

Der alte kurfürstliche Leibmedikus hatte diese Worte in seiner polternden Art gesprochen und jedes zweite mit einer kräftigen Prise aus der großen runden Buchsbaumdose, die er nie aus der Hand legte, gewürzt. Jetzt erhob er sich, lauschte noch einmal an den Gardinen des Alkovens und begann sich zum Fortgehn zu rüsten.

Und ich alte Frau kann gar nichts dabei tun? fragte die Wittib schüchtern.

Was will Sie tun, wenn ein Doktor medicinae et chirurgiae müßig zusehen muß, wie so ein junges Frauenzimmer langsam dahinstirbt?

Demoiselle möchte gern etwas trinken, sie ruft immer nach Wasser –

Haßlacherin! Wie oft soll ich Ihr wiederholen, daß Wasser, überhaupt ein jedes Getränk für einen Fieberkranken Gift ist? Wenn Sie den Tod des Fräuleins beschleunigen will, so bring Sie ihr nur ein Glas Wasser. Dann wird Sie ja sehen, was Sie damit anrichtet. Fieber ist Feuer, und wenn man ins Feuer Wasser gießt, so prasseln die Flammen nur um so toller empor. Und davor muß ein so zartes Geschöpf, wie Ihre Demoiselle ist, ganz besonders behütet werden. Ruhe, sage ich, Ruhe und nochmals Ruhe – dafür mag Sie sorgen, wenn Sie dem Fräulein einen sanften Tod wünscht.

Und der Herr Leibmedikus glauben nicht, daß man mit Medikamenten –?

Mit Medikamenten! Als ob der Magen des Fräuleins Medikamente vertrüge! Nein, damit wollen wir gar nicht anfangen. Ruhe ist das einzige Medikament, das ich verschreiben kann, Ruhe und Diät. Keine Aufregung, keine starke Bewegung, durch die das ohnehin schon affizierte Herz noch mehr stimuliert werden könnte, und vor allem keine Überbürdung des Magens. Wenn das Frauenzimmer durchaus etwas genießen soll – was aber überflüssig ist, da der Tod seine Arbeit viel sanfter verrichtet, wenn man für die gehörige Entkräftung des Körpers Sorge getragen hat –, so sei es ein Wassersüpplein. Zwei Eßlöffel voll Mehl, einen Teekopf voll Wasser, eine Messerspitze Butter und ein Prischen Salz. Aber beileibe nicht mehr! Nur kein Fleisch und keine Eier!

Hinter den Gardinen des Alkovens begann es sich zu regen.

Sehen Sie, sagte Madame Haßlacher, nachdem beide eine Weile gelauscht hatten, so gehts nun jeden Abend. So fängts immer an. Zuerst stöhnt sie, und dann wälzt sie sich umher, und dann redet sie im Fieber und schreit, daß man am liebsten auf und davon laufen möcht.

Damit würde Sie unsrer Patientin einen schlechten Dienst erweisen. Sorge Sie lieber, daß sich das Fräulein beruhigt. Reden Sie ihr zu wie einem kleinen Kinde!

In der Tat ließ sich jetzt Marguerites Stimme vernehmen, anfangs nur in abgebrochnen Worten, zuletzt in zusammenhängenden Sätzen.

Bitte, liebe gute Schwester Célestine, lassen Sie mich in den Kreuzgang! phantasierte die Kranke; ich werde nicht länger als eine einzige Minute bleiben und dann sogleich zum Ave kommen … Was ich im Kreuzgang will? Ein wenig Luft schöpfen, liebe gute Schwester Célestine, Sie dürfen mir glauben: Luft schöpfen – nichts weiter. Es ist ja zum Ersticken schwül hier im Arbeitssaal … O, das ist nur eine Gießkanne. Sie haben Luchsaugen, Schwester, und ich glaubte, ich hätte sie so gut unter der Schürze versteckt. Ja ich will es gestehn, ich wollte zur Fontäne und Wasser holen. Seit drei Tagen vergaß ich die Reseden zu begießen und die Balsaminen. Die armen, armen Blumen werden die Köpfchen hängen lassen und dem Verschmachten nahe sein … Und verdursten ist schrecklich, ich weiß es. Nein nein nein, lassen Sie mich, ich will gewiß nicht von dem Wasser trinken, das habt ihr mir ja verboten, ich will mir nur die Lippen damit bestreichen und ein einziges kleines Tröpfchen kosten – o das muß köstlich sein! Nur ein einziges kleines Tröpfchen. Ach, ihr tut mir doch weh, aber reißt und zerrt, soviel ihr wollt – ich lasse die Schale nicht mehr los – ah – wie das erquickt! – jeder Tropfen eine Seligkeit, jeder Strahl ein Strom des Paradieses! Tötet mich, wenn ihr wollt, aber zuvor will ich mich satt trinken – was sind die Qualen der Hölle gegen solch ein Labsal!

Am Sprechgitter jemand? Weshalb lächeln Sie so bedeutsam, Schwester Célestine? Ists der Vater? Ach nein, er war ja erst am Sonntag da. Ein junger Kavalier? Grüße aus Aigremont? Ach – ich weiß schon! Herr von Villeroi. Rosen hat er mitgebracht? Nun wohl, ich werde sie in Empfang nehmen und auf den Altar unter das Bild unsrer Heiligen stellen. Ich glaube, Sainte-Madeleine hat die Rosen geliebt, mehr geliebt als die kalten Lilien.

Sie sehen so finster aus, Henri – o mein Gott, was ist geschehn? Wen suchen Sie? Hinter mir steht niemand als Schwester Célestine. Wer der alte Mann dort im Winkel ist? Ich weiß es nicht, Henri, ich kann doch nicht alle Menschen kennen. Was willst du tun? Wozu lockerst du den Degen in der Scheide? Henri, ich fürchte mich vor dir – ich lese deine Absicht in deinen Augen – tus nicht – Henri, Henri! – du mordest meinen Vater! Zu Hilfe, Leute, zu Hilfe – da seht – er hat ihn erstochen – Vater, nicht sterben, nicht sterben! – Henri! – er ist tot, komm, laß uns fliehen, fliehen weit weg von hier – hier tröpfelt Blut aus der Fontäne, statt des eiskalten Wassers sprudelt aus dem Brunnen warmes Blut – o Henri – welches entsetzliche Land, wo Blut statt Wassers fließt!

Die Gardinen des Alkovens taten sich auf, und Marguerite stürzte mit bebenden Gliedern und aufgelöstem Haare heraus und sank zu Füßen der beiden Lauschenden auf den Boden nieder. Mit großen, glänzenden Augen starrte sie bald Madame Haßlacher und bald den Arzt an. Beide hoben sie sanft empor und ließen sie behutsam in einen Sessel gleiten. Jetzt strich sich die Kranke mit dem Rücken ihrer weißen abgemagerten Hand über die Stirn und sagte zu der Alten gewandt mit irrem Lächeln:

Ich habe wohl lange geschlafen, nicht wahr, Schwester Célestine? Mich dünkt, Sie sind um ein halbes Jahrhundert älter geworden. Wie viele Runzeln Sie jetzt haben! Aber freuen Sie sich dessen – nun werden Ihnen die jungen Herren keine sündigen Blicke mehr zuwerfen, wenn Sie am Tage Corpus Domini neben dem Baldachin der Mutter Oberin die geweihte Kerze tragen.

Jetzt fiel ihr Blick auf den Leibmedikus, der ihre Hand ergriffen hatte und sie durch sanftes Streicheln zu beruhigen suchte.

Ich hätte Sie kaum wieder erkannt, armer Henri, wenn Ihre alte Zärtlichkeit Sie nicht verraten hätte. Wie müssen Sie in all den Jahren gelitten haben! Armer, armer Freund! Ich fürchte, Sie haben nicht die Kraft gehabt, die eingeschlagne Straße wieder zu verlassen. So finster kann nur ein Mensch blicken, der Menschenleben sonder Zahl auf dem Gewissen hat! – Lassen Sie meine Hand los, Henri, mir graut bei Ihrer Berührung!

Die Wendung, die die Anrede der Kranken an den vermeintlichen Freund jetzt nahm, schien den alten Arzt ein wenig peinlich anzumuten. Er ließ Marguerites Hand los und trat etliche Schritte zurück. Man muß auf dergleichen Hallucinationen bis zu einem gewissen Grade eingehn, bemerkte er leise zu der Wittib. Widerspruch regt die Kranken auf. Und mit dem überzeugendsten Tone, der ihm zu Gebote stand, sagte er dann zu der sich ängstlich in die Polster des Sessels Schmiegenden:

Es freut mich, wertgeschätzte Demoiselle, daß Sie in mir Ihren Freund erkennen. Aber was den Namen anbelangt, so sind Sie auf dem Holzwege, wenn Sie glauben, ich hieße Henri. Johann Gottlieb – so stehts im Kirchenbuche zu Weinböhla in Kursachsen, und anders hat mich auch noch niemand genannt. Also, wenn ich bitten darf, nennen Sie mich in Zukunft auch so. Und mit den Menschenleben ists auch nicht gar so schlimm – sterben muß jeder schließlich, und allwissend ist auch ein kurfürstlicher Leibmedikus nicht. Man tut eben, was man vermag. Und nun legen Sie sich gefälligst wieder in Ihr Bett und träumen Sie von recht angenehmen Dingen, zum Exempel von neuen Coiffuren und seidnen Bändern, und wenn wieder jemand kommt, der Ihren Herrn Vater ein wenig mit dem Degen kitzeln will, so sagen Sie ihm getrost, der Geheimrat Haupt hätte dergleichen unziemliche Divertissements auf das strengste verboten.

Nach dieser Beruhigungsrede führte der Arzt unter Beihilfe der Wittib Marguerite in den Alkoven zurück und bettete sie, wie eine Mutter ihr Kind, auf ihr Lager.

Der Anfall ist vorüber, wer weiß, ob sie den nächsten übersteht, bemerkte der Leibmedikus, als ihm Madame Haßlacher die Treppe hinableuchtete.

Glauben der Herr Geheimderat, daß Demoiselle zu leiden hat, ich meine, daß sie Schmerzen hat?

Ganz entsetzliche Schmerzen. Oder denkt Sie vielleicht, dieses Zittern, diese verzerrten Züge, dieses Wimmern, Stöhnen und Schreien seien Anzeichen von übergroßem Wohlbehagen?

Die Haustür schloß sich hinter dem Jünger Äskulaps, und die Wittib stieg langsam wieder zum Krankenzimmer hinauf. Auf jedem Treppenabsatz machte sie halt, putzte mit einer Haarnadel bedächtig den Docht ihrer zinnernen Lampe und starrte, ehe sie weiter ging, noch eine Weile in das knisternde Flämmchen, als vermöchte sie dort eine Antwort zu lesen auf die Frage, die ihr Inneres bewegte. Und es schien wirklich, als ob das qualmende Orakel ihr eine Weisung erteilt hätte, denn plötzlich eilte sie mit dem Ausdruck von Entschlossenheit die letzten Stufen empor, befestigte die Lampe auf dem Vorsaal an einem Nagel und trat leise in das »Atelier« ihres Seligen.

Die Kranke lag mit weitgeöffneten Augen im Bett und zupfte mechanisch an einem Zipfel ihrer Decke. Madame Haßlacher hatte sich, nachdem sie den Sessel wieder an seinen Platz geschoben und auf dem Tisch Ordnung gemacht hatte, so an die Seite des Alkovens gestellt, daß sie, hinter den Gardinen verborgen, Marguerite beobachten konnte, ohne von dieser bemerkt zu werden. Sie sah, wie sich die blutlosen, trocknen Lippen der Kranken bewegten, und wie die weißen Hände sich von Zeit zu Zeit auf das Herz preßten. Und das Mitleid mit dem zarten jungen Mädchen, das so früh sterben mußte, übermannte sie vollends.

Keine acht Tage mehr leben und dabei solche Pein ausstehn! flüsterte sie vor sich hin. Ob ichs wohl tu? Ein Glas Wasser würde den Tod beschleunigen. Aber weshalb soll sie so leiden, wenn es doch mit ihr zu Ende geht? Das kann kein Christenmensch mit ansehen. Aber die Gerichte? Könnt sein, daß einer käm und wollt behaupten, die Haßlacherin hätte der Demoiselle um die Ecke geholfen. Fein schlau sein, fein schlau sein! Wär ein böser Lohn für so ein Werk der Barmherzigkeit, wenn ich alte Frau noch für die paar Jährchen, die ich zu leben hab, in den Turm müßt.

Ein schmerzliches Stöhnen hinter der Gardine machte dem Selbstgespräche der Alten ein Ende. Sie blinzelte nach dem Alkoven und sagte mit halblauter Stimme: Sie hat nach Blumen verlangt, das arme Fräulein, nach Reseden und Balsaminen. Für die ist freilich nicht die rechte Zeit, aber was Grünes, dächt ich, täts auch schon. Ei, da fällt mir ein, wozu hab ich den schönen Rosengeraniumstock, den mir die Frau Stadtschreiber als Präsent zum Namenstag verehrt hat? Blüten sind zwar längst nicht mehr dran, aber dafür duften die Blätter um so feiner. Sie eilte weg und kehrte nach wenig Augenblicken mit einem mächtigen Blumentopfe zurück, den sie mitten auf den Tisch stellte. Die dünnen Zweiglein der starkriechenden Pflanze waren an ein lackiertes Holzgitter aufgebunden, gegen dessen leuchtendes Rot sich die blaßgrünen Blättchen auf das schönste abhoben.

Marguerite, die sonst meist teilnahmlos dalag, schien den Topf mit einigem Interesse zu betrachten. Ob der starke Duft ihre Sinne anregte, oder ob die Farbenzusammenstellung ihrem Auge wohltat – genug, sie wandte sich auf die Seite und suchte die Gardinen noch weiter zurückzuschieben. Mutter Haßlacher bemerkte dies mit Genugtuung. Sie gab sich den Anschein, als ob sie die Pflanze einer sorgfältigen Besichtigung unterzöge, und prüfte mit bohrendem Finger, ob die Erde auch noch genügend feucht sei. Das Ergebnis der Untersuchung schien sie nicht zu befriedigen.

Staubtrocken! sagte sie, wenn das die Frau Stadtschreiber wüßt, daß ihr Geraniumstöcklein bei mir Durst litte.

Und wieder rannte sie weg und kehrte diesesmal mit einem wohlgefüllten Wasserkrug aus Grenzhausener Steinzeug wieder zurück, aus dem sie vor den lüsternen Augen der Kranken einen gehörigen Guß auf die Erde des Blumentopfes gab. Sie wartete, bis das kühle Naß aufgesogen worden war, und füllte noch einmal nach – so gründlich, daß das Wasser unten am Topfe glucksend wieder zum Vorschein kam, auf der Tischplatte einen blanken See bildete und sich endlich in schnellem Tropfenfall auf die Dielen ergoß.

Nun stellte sich die gute Alte, als ob sie dieses Phänomen zum allererstenmal wahrnähme, schlug die Hände über dem Kopfe zusammen und verwünschte ihren Leichtsinn, der in dem so sauber gehaltnen Gemach eine solche Wassernot heraufbeschworen habe. Und als sie jetzt verschwand, um ein Scheuertuch zu holen, belehrte sie noch ein letzter Blick nach dem Alkoven, daß sich Marguerite ein wenig aufrichtete, und daß zugleich ein schmaler Fuß unter der Bettdecke sichtbar wurde.

Wenn Madame Haßlacher wirklich die Absicht hegte, das freigewordne Element wieder einzufangen, so hatte es beinahe den Anschein, als wolle sie abwarten, bis sich das Wasser durch Diele und Zimmerdecke zu ihr hinunterbemühe. Aber das war keineswegs der Fall, sie dachte auch viel weniger an das Wasser, das sich durch die Fugen dort oben seinen Weg in die Tiefe suchte, als an das Wasser, das droben auf dem Tische noch in dem Steinkruge stand oder vielmehr bei ihrem Weggange dort gestanden hatte.

Endlich griff sie nach dem schon längst bereitgelegten Tuche, warf es in einen Eimer und schlich mit diesen Werkzeugen der Reinlichkeit leise wie ein Dieb die Stiegen hinauf. Um den Schein zu wahren, kniete sie, oben angelangt, neben dem Tische nieder, bearbeitete die Dielen mit dem Tuch und preßte unter Aufbietung aller Kräfte ein paar Tropfen in den Eimer. Beim Wiederaufstehn warf sie einen flüchtigen aber desto schärfern Blick in den Krug – er war bis auf einen kleinen Rest geleert! Jetzt begannen im Innern Mutter Haßlachers Befriedigung über den wohlgeglückten Anschlag und Reue über die begangne Tat einen erbitterten Kampf zu kämpfen. Das Bewußtsein, eine Mörderin – zwar eine Mörderin aus Mitleid und christlicher Barmherzigkeit, aber doch eine Mörderin! – geworden zu sein, legte sich mit Zentnerschwere auf ihr Herz. Sie wagte kaum nach dem Alkoven hinüberzuschauen – am liebsten wäre sie auf und davon gelaufen, so weit die alten Füße sie getragen hätten. Aber zuletzt siegte doch die Neugier. In der sichern Erwartung, Marguerite als Leiche zu sehen, trat die Mörderin aus Mitgefühl an das Krankenbett und erblickte – ein Wesen mit zartgeröteten Wangen, das die großen Augen mit dem Ausdruck seliger Befriedigung und rührender Dankbarkeit auf seine Wohltäterin richtete. Das war für Madame Haßlacher zu viel. Sie sank am Bette nieder und schluchzte und preßte den Kopf in die Kissen, bis ihre stolze Haube, die erst zu Fastnacht frisch gewaschen und kunstvoll getollt worden war, einer Allegorie auf die Vergänglichkeit alles irdischen Tandes glich.

Erst ein wiederholtes Klingeln der Haustürglocke scheuchte die Wittib aus ihrer Verzückung auf. Sie stellte den Blumentopf in die Fensternische und eilte mit Wasserkrug, Eimer und Scheuertuch die Treppe hinunter, entledigte sich, so schnell es ging, dieser Geräte und öffnete die Tür. Marigny war es, der eintrat. Er hatte, wie er es allabendlich zu tun pflegte, einen Klub seiner Landsleute besucht, um Neuigkeiten aus der Heimat zu erfahren, und war in der Nähe der Hauptwache mit dem Arzte seiner Tochter zusammengetroffen, der ihn mit dürren Worten über das Hoffnungslose ihres Zustands aufgeklärt hatte.

Er fragte heute die Wirtin nicht, wie er es sonst beim Nachhausekommen tat, nach dem Befinden der Patientin, sondern stieg schweigend, umflorten Auges, zu seiner Wohnung empor. Marguerite schlummerte. Da schob der Vater leise den Sessel an ihr Bett und ließ sich zur Seite der Kranken nieder. Wie er so dasaß, versunken in den Anblick der Tochter, die ihm sobald genommen werden sollte, kam ihm erst zum Bewußtsein, was er an ihr gehabt hatte. Eine innere Stimme sagte ihm, daß er es sich selbst zuzuschreiben habe, wenn das Verhältnis zwischen ihm und Marguerite kein besonders herzliches oder auch nur vertrauliches gewesen war. Er hatte einst mit dem Schicksal gegrollt, weil es ihm den sehnlich erhofften Sohn versagt hatte, und diesem Groll dadurch Ausdruck verleihen zu müssen geglaubt, daß er die Tochter, wenn nicht mit Geringschätzung, so doch mit einer Art von Gleichgiltigkeit behandelte, die dem Mädchen schon früh schmerzlich fühlbar geworden war. Später, als er sich mit dem Unabänderlichen ausgesöhnt hatte, war die Entfremdung zwischen Vater und Tochter zu weit vorgeschritten, als daß sie durch eine gewisse, beinahe galante Zärtlichkeit auf der einen oder durch eine kühle Gefügigkeit auf der andern Seite hätte aus der Welt geschafft oder auch nur gemildert werden können. Der alte Herr hatte sich nie die Mühe genommen, seine Tochter zu verstehn, er ahnte auch nicht einmal, daß die Charakterstärke, die für eine Familieneigenschaft der Marignys galt, ihm selbst aber durchaus nicht eigen war, über seinen Kopf hinweg den Sprung vom Großvater auf die Enkelin gemacht hatte.

Diesem Mädchen hätte er mehr sein müssen. Das war die bittre Erkenntnis, die, wie ja immer, auch jetzt zu spät kam. Wenn er ihr, ehe sie von ihm ging, wenigstens noch einen Liebesdienst erweisen könnte! Er zermarterte sein Hirn, um irgend etwas ausfindig zu machen, wovon er annehmen durfte, daß es ihr Freude bereiten würde. Einen Augenblick dachte er an Henri, aber nur einen Augenblick. Nein, das war unmöglich: ein Marigny durfte sich nicht so weit vor einem Villeroi demütigen, daß er ihn bat, das Haus wieder aufzusuchen, aus dem man ihn ausgewiesen hatte. Um diesen Preis war auch das letzte Lächeln einer sterbenden Tochter zu teuer erkauft.

Und von dem, was Marguerites Herzen am nächsten stand, ging der Marquis gleichsam mit klingendem Spiel und fliegenden Fahnen zu dem über, was die Quintessenz seines eignen Daseins ausmachte. Solange er sich der Hoffnung hingegeben hatte, daß die Kunst des Arztes das Leben der Tochter erhalten könnte, war es für ihn Gewissenssache gewesen, darüber zu wachen, daß die Anordnungen des Doktors auf das genaueste befolgt wurden, mochte auch die Hungerkur, mit der der alte Geheimderat nach seiner Gewohnheit dem Leiden beizukommen gedachte, keineswegs nach dem persönlichen Geschmack des Marquis sein. Aber jetzt, da ja doch alles verloren war, brauchte man sich an die Gebote des Arztes nicht mehr zu binden. Ob Marguerite ein paar Stunden früher oder später starb – was lag daran? Eine Marigny sollte wenigstens nicht mit leerem Magen die Wanderung ins Jenseits antreten, dafür wollte er, der Vater, doch sorgen.

Und als sich die Kranke jetzt bewegte und langsam die Augen aufschlug, ergriff er ihre Hand und fragte mit zitternder Stimme: Wie wäre es, Marguerite, wenn wir wieder einmal zusammen dinierten?

Ganz wie Sie wünschen, mein Vater, antwortete das Mädchen, mir ist beinahe, als ob ich ein klein wenig Appetit verspürte.

Da sank Marigny, genau wie eine halbe Stunde vorher Madame Haßlacher, vor dem Bette auf die Kniee, schluchzte und preßte die Stirn in die Kissen und machte endlich seinem Schmerz und seiner Wonne in dem Ausrufe Luft: Junge Tauben à la princesse Rohan!

Wir wissen, daß der Marquis zu kochen verstand. Wenn er sich aber heute selbst übertraf, so kam es daher, daß er zum erstenmal zu allen übrigen Zutaten ein Gewürz nahm, mit dessen Hilfe sich auch weniger gute Dinge als junge Tauben in Leckerbissen verwandeln lassen: die Liebe. Und was mit Liebe gerupft und gesengt, gefüllt und gebraten worden war, wurde nun auch mit Liebe aufgetragen. Mit eignen Händen rückte der alte Herr den kleinen Toilettentisch an das Bett der Kranken, mit eignen Händen breitete er eine Serviette als Tafeltuch darüber, und mit eignen Händen holte er Teller und Bestecke und endlich die silberne Platte mit den Tauben und die Kristallschale mit dem Apfelmus, zu dem die Wittib ihre letzten Borsdorfer hatte hergeben müssen.

Und dann zerlegte er die Tierchen mit einer Sachkenntnis, als habe er in seinen jüngern Jahren nichts weiter getan, als unter der Aufsicht der Herren von Buffon und Daubenton Vögel zergliedert. Marguerite sah ihm bei dieser Arbeit zu, lächelnd unter halbgesenkten Wimpern, und so matt sie war, dennoch fest entschlossen, Liebe mit Liebe zu vergelten und dem Gerichte soviel Ehre anzutun, als es ihre schwachen Kräfte erlauben würden. Und als sie sich während des Essens einmal in die Kissen zurücklegte, um sich von der ungewohnten Anstrengung zu erholen, bemerkte sie, obwohl ihre Augen geschlossen waren, daß der Vater ihr heimlich auch noch die fein zerschnittnen Bruststückchen von seiner Taube auf den Teller praktizierte, aber sie stellte sich, als hätte sie nichts davon wahrgenommen, und speiste wacker drauf los, bis die Müdigkeit sie überwältigte, und die Gabel aus ihrer Hand glitt.

Damit war das Mahl beendet – das Abschiedsmahl, wie Marigny glaubte, mit dem sich Vater und Tochter für die Trennung auf ewig vorbereitet hatten. Er blieb noch eine Weile sitzen; erst als er die Überzeugung gewonnen hatte, daß Marguerite wirklich schlummerte – wohl hinüberschlummerte in jenes Land, wo man der leiblichen Speise nicht mehr bedarf –, erhob er sich, räumte das Tischgerät zusammen und ging leise aber sichern Schrittes zu Madame Haßlacher hinunter, um mit der Gelassenheit eines Mannes, der getan hat, was er zu tun vermochte, Erkundigungen darüber einzuziehn, welcher Tischler die solidesten Särge anfertige, und welche Formalitäten zur Erlangung einer Begräbnisstätte zu erfüllen seien.

Dann begab er sich zur Ruhe, fest überzeugt, er werde am kommenden Morgen den Gang zum Sargtischler und zum Totengräber unternehmen müssen. Als er wieder erwachte, fuhr er aus den Kissen und eilte an das Bett der Tochter. Und siehe da! – sie war nicht nur nicht tot, sondern offenbar wohler als all die Tage vorher. Sie hätte köstlich geschlafen, sagte sie lächelnd, und wenn sie nicht bald eine Tasse Milch und zwei – nein drei Zwiebäcke bekäme, so würde sie aufstehn und sich ihr Frühstück selbst holen.

Marigny traute anfangs seinen Augen und seinen Ohren nicht, dann geriet er vor Freude außer sich. Mit dem Ankleiden gings ihm nicht schnell genug; immer fand sichs, daß er das Stück, das er gerade brauchte, verlegt hatte. Er, der sich sonst vor keinem menschlichen Auge ungepudert sehen ließ, der lieber ohne Kopf als ohne Haarbeutel seine Wohnung verlassen hätte, eilte heute unfrisiert weg, um für Marguerite das Gewünschte zu beschaffen. Auf dem Vorsaal wäre er beinahe über Madame Haßlacher gestolpert. Die gute Frau hatte allem Anschein nach auf eine Begegnung mit ihm gewartet. Sie sah aus wie jemand, der eine Nacht statt im Bett auf der Folterbank verbracht hat.

Lebt sie? fragte sie hastig.

Sie lebt! antwortete der Marquis, dem das Verstörte in Haltung, Mienen und Stimme seiner Hauswirtin nicht entgangen war.

Gott sei gelobt und gepriesen! rief die Wittib, und nicht viel hätte gefehlt, so wäre der französische Edelmann an ein deutsches Herz gedrückt worden.

Nun kann ichs ja gestehn, fuhr die Alte fort; ich habe das Fräulein gestern Abend Wasser trinken lassen. Aus Mitleid, wahrhaftig nur aus purem Mitleid – ich glaubte, ich könnte dem armen, armen Fräulein zu einem schnellen, schmerzlosen Tode verhelfen. Ach Herr Marquis, wenn Sie wüßten, was ich die Nacht habe ausstehn müssen! Und wenn ich tausend Jahre alt werden sollt – ich morde nie wieder! Die Angst und die Gewissensbisse!

Wasser trinken lassen? sagte Marigny, bemüht, seinem Antlitz einen ernsten und strengen Ausdruck zu geben, Wasser trinken lassen – gegen den Willen des Arztes?

Und als die Wittib in Tränen auszubrechen drohte, setzte er milder hinzu: Wasser heißt gar nichts, aber ich – ich habe ihr zwei Taubenbrüste zu essen gegeben, weil es ja doch mit ihr zu Ende ging. Sehen Sie, und mir scheint, gerade diese beiden Taubenbrüste haben ihr wieder aufgeholfen.

Wenns nicht das Wasser war, das ich ihr gegeben habe, entgegnete Madame Haßlacher, die jetzt, da sie einen Mitschuldigen vor sich sah, wieder Mut bekam und die glückliche Wendung der Dinge für sich selbst ausbeuten wollte.

Und beinahe wäre zwischen den beiden vor Freude halb närrisch gewordnen Menschen ein ernstlicher Streit darüber entbrannt, welcher von ihnen durch seine leichtsinnige Handlungsweise einen so günstigen Einfluß auf den Zustand des Mädchens ausgeübt habe. Aber das Erscheinen des alten Doktors machte dem Zwist ein Ende. Man empfing ihn mit einiger Zurückhaltung, da weder Marigny noch die Wittib sich den Mut zutraute, ein offnes Bekenntnis abzulegen. Der kurfürstliche Leibmedikus stand nicht umsonst in dem Rufe, mit seiner Grobheit allein schon die gefährlichsten Krankheiten bannen zu können.

Wie stehts? Alles aus? fragte er den Vater.

Weit besser als je, entgegnete dieser.

Was – besser? Das fehlte noch gerade! Also eine neue Komplikation!

Wollen Sie meine Tochter sehen?

Natürlich! Schöne Bescherung – »besser«! Ich fürchte, die Patientin hat trotz ihres zarten Aussehens eine zu gesunde Konstitution.

Ich hoffe das auch, wagte Marigny einzuwenden.

Sie hoffen? Herr! Wenn ich sage: ich fürchte, so habe ich meine guten Gründe. Verlangen Sie denn, daß Ihre Demoiselle Tochter ewig leben soll?

Das gerade nicht, gab Marigny lächelnd zurück, aber ich wäre schon zufrieden, wenn sie wenigstens wieder gesund würde –

Superb! Gesund würde! Bei einem solchen Fieber! Sie verlangen in der Tat viel, mein lieber Herr Marquis. Da kann ichs freilich Ihren Pariser Demokraten kaum verdenken, wenn sie mit Leuten Ihres Schlags kurzen Prozeß machen. Wieder gesund werden! Wirklich exzellent!

Man trat in das Krankenzimmer, und der Geheimderat untersuchte Marguerite mit einer Sorgfalt, die in der Tat Anerkennung verdiente. Aber je länger er klopfte, horchte und fühlte, desto mehr verfinsterten sich seine Züge. Madame Haßlacher, die während der Untersuchung kein Auge von ihm gewandt hatte, verließ unter einem ziemlich nichtigen Vorwande das Gemach.

Hier ist irgend etwas nicht in Ordnung, sagte der Leibmedikus nach längerm stummem Kopfschütteln. Die Krankheit nimmt keinen normalen Verlauf. Die Temperatur ist gesunken. Der Puls ist weniger intermittierend. Ich glaube sogar eine Zunahme der Kräfte konstatieren zu müssen. Wenn hier nur kein schwerer Diätfehler begangen worden ist!

Und als er sich dann nach einer Weile von Marigny verabschiedete, sagte er, als müsse er den Vater über die augenscheinlichen Anzeichen der beginnenden Genesung trösten: Es ist nur das letzte Aufflackern eines verlöschenden Lämpchens.

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