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Fünftes Kapitel

. In Mutter Haßlachers Garten vor dem Löhrtore standen die Apfelbäume in voller Blüte. Weder die Besitzerin noch ihre Besucher vermochten sich zu entsinnen, daß die Bäume jemals zuvor in einem so reichen Frühlingsschmucke geprangt hätten, und wenn die Nachbarn über ihre Zäune schauten, so mußten sie sich, um den Anblick eines solchen Segens ohne allzugroße Beeinträchtigung ihres Wohlbehagens ertragen zu können, immer und immer wieder vorhalten, daß ja nicht jede Blüte eine Frucht ansetze, oder daß eine solche Überfülle nicht ohne Einfluß auf Größe und Qualität der zukünftigen Äpfel bleiben werde. Überdies sei man ja auch erst im April, und bis zum Oktober könnte noch mancher Nachtfrost und manches Unwetter eintreten und die Hoffnungen der Besitzerin dieser vielversprechenden Bäume zuschanden machen.

Nicht als ob man der guten Wittib etwas Böses gewünscht hätte! Beileibe nicht! Aber war es recht und billig, daß in ihrem Garten das kleinste Reislein ein paar Dutzend Blüten trug, während der Frühling rings in den Nachbargärten nur die spärlichen Reste verstreut zu haben schien, die auf dem Grunde seines Füllhorns zurückgeblieben sein mochten?

Aber die Apfelbäume wußten wohl, weshalb sie in diesem Jahre so reich blühten. Nicht aus Eitelkeit, denn sie waren schon in dem Alter, wo sie wissen mußten, daß Schönheit und Ruhm nur durch eine Fülle von Unbequemlichkeiten erkauft werden, und daß sie an den Folgen eines solchen Frühlingsrausches im Herbste schwer zu tragen haben würden, sondern aus zärtlicher Teilnahme für die zierliche blasse Mädchenblume, die jeden Mittag in einer Portechaise am Gartenpförtchen erschien, langsam über den schmalen, mit Buchsbaum eingefaßten Weg wandelte und sich dann auf den mit Kissen belegten Korbsessel niederließ, den Mutter Haßlacher schon eine Weile vorher aus dem chinesischen Sommerhäuschen ins Freie getragen und in die warme Sonne gestellt hatte.

Und wenn dann das Mädchen in Decken gehüllt dasaß, sich des wonnigen Gefühls der Wiedergenesung und zugleich auch der Frühlingsseligkeit freuend, dann bewegten die Apfelbäume leise, leise ihre Zweige und ließen ihre zarten, rosig angehauchten Blütenblättchen auf die Träumende niederfallen, bis sie aufschaute und ihre Augen an den Wolken von Blüten weidete, über denen sich ein Himmel ausspannte, reiner und blauer, als sie ihn je gesehen zu haben glaubte.

Gewöhnlich blieb jedoch Marguerite nicht allzu lange allein. Die Wittib, für die es in dieser Jahreszeit genug zu tun gab, da sie den Garten selbst bestellte, ließ von Zeit zu Zeit ihre Erbsenbeete und Bohnenreihen im Stich, wusch sich die Hände in der Gießkanne, trocknete sie oberflächlich an der Schürze ab und sah einmal nach, ob sie »ihrer« Demoiselle irgend eine Handreichung leisten konnte, oder ob die Kissen aufgeschüttelt und zurechtgerückt werden mußten.

Manchmal stellte sich auch der Vater draußen im Garten ein, erkundigte sich bei Madame Haßlacher, ob sie dieses oder jenes Gemüse ziehe, das die Alte nicht einmal dem Namen nach kannte, oder sammelte in eigner Person die fetten Weinbergschnecken, die ein warmer Frühlingsregen aus ihren Wintergräbern hervorgelockt hatte, und die nun, ihren Sargdeckel aus weißem Kalk vor sich herschiebend, zu neuem Leben wieder auferstanden, einem Leben, das allerdings nur zu bald in den Marignyschen Kochtöpfen auf ewig enden sollte.

Wenn zufällig einmal der Marquis und seine Wirtin in der Nähe des chinesischen Sommerhäuschens zusammentrafen, schauten sie gewöhnlich beide zu Marguerite hinüber und nickten sich mit vielsagendem Lächeln zu. Dann hob Madame Haßlacher wohl ihre Gießkanne empor und schüttelte sie, daß das Wasser an die blechernen Wände plätscherte, um durch diese Symbolik bei dem alten Herrn in Erinnerung zu bringen, welchem Heilmittel man es zu danken habe, wenn das Fräulein jetzt als Rekonvaleszentin hier im Garten sitze. Aber Marigny war nicht geneigt, sich Verdienste streitig machen zu lassen, auf die er sich mit Recht viel einbildete, und deshalb hielt er Umschau am Himmel, bis er einen Flug feldernder Tauben entdeckte, auf die er dann mit dem Ausdruck triumphierender Überlegenheit hinwies.

Hin und wieder brachte der Marquis auch Bekannte – natürlich Landsleute – mit in den Garten, die er seiner Tochter dann unter dem Vorgeben, daß sie gekommen seien, um sich die Blütenpracht anzusehen, vorstellte. Das Merkwürdige dabei war jedoch, daß sich unter den vielen französischen Aristokraten nur Herren und unter diesen nur die unverheirateten und heiratsfähigen für Naturschönheiten zu interessieren schienen, und ebenso seltsam war es, daß sie, die doch der Bäume wegen den Spaziergang vors Tor unternommen hatten, am Ziele ihrer Wanderung angelangt den Bäumen selbst nicht die geringste Beachtung schenkten, sondern sich mit dem winzigen Spiegelbild der Blütenwolken begnügten, das man bei genauem Zusehen in Marguerites schönen Augen wahrnehmen konnte.

Jedem der Besucher erklärte Marigny höchst umständlich die Krankheitsgeschichte seiner Tochter und ließ dabei durchblicken, daß von den Ärzten nicht viel zu halten sei, wogegen er, als ein Laie, sich anheischig mache, mit seinen Medikamenten, zumal mit Tauben à la princesse Rohan und ähnlichen leicht verdaulichen Dingen jede noch so schwere Krankheit zu heben. Und dann fügte er unter allerlei spitzen Bemerkungen über den Leibmedikus Haupt noch hinzu: Ja ja, er hatte vollkommen Recht! Sie wäre wie ein Lämpchen verlöscht, aber warum, meine Herren? Warum? Weil kein Öl mehr auf dem Lämpchen war. Und weshalb ist sie am Leben geblieben? Weil sie das Glück hatte, einen Vater zu haben, der über ein ausreichendes Maß von gesundem Menschenverstand verfügte, um einzusehen, daß es an der Zeit sei, frisches Öl aufzufüllen. Also, meine Herren, wenn Sie einmal krank sein sollten, was ich Ihnen nicht wünschen will, so schicken Sie nicht gleich zum Arzt, sondern versuchen Sie es zuerst einmal mit Tauben à la princesse Rohan. Sie werden mir für diesen Rat Dank wissen!

Marguerite war nicht gerade davon erbaut, in dieser Weise dem »auswärtigen Frankreich« als Demonstrationsobjekt für die medizinischen Anschauungen ihres Vaters vorgeführt zu werden, und so bat sie ihn denn eines Tages, er möge dafür sorgen, daß diese Besuche möglichst unterblieben. Die Unterhaltung mit Leuten, die sie gar nicht oder doch nur sehr oberflächlich kenne, und die ihr herzlich gleichgiltig seien – hier machte der Marquis ein langes Gesicht –, ermüde sie noch allzusehr; wolle er ihr jedoch eine Freude bereiten, so möge er die Baronin von Gramont bitten, ihr häufiger als bisher Gesellschaft zu leisten.

Der Marquis, froh, seiner Tochter einen Wunsch erfüllen zu können, machte sich sogleich auf den Weg, um die Baronin zu benachrichtigen, wie sehnlich Marguerite nach ihrem Besuche verlange.

Die Bekanntschaft der beiden Damen datierte von ihrem Aufenthalt in Sainte-Madeleine her. Frau von Gramont, oder wie sie damals noch hieß, Marie von Louvois, war allerdings einige Jahre älter als Marguerite und hatte dieser, wie es sich für eine vorgeschrittnere Schülerin ja von selbst verstand, im Kloster kaum Beachtung geschenkt. Jedoch hier in der Fremde reichten die gemeinsamen Erinnerungen aus, die beiden einander näher zu bringen und eine Art von Freundschaft – wenn man bei Marguerites kühlem Wesen von Freundschaft reden durfte – zwischen ihnen zu begründen. Und so war Frau von Gramont in der Tat die einzige unter den vielen damals in Koblenz wohnenden Landsmänninnen, die sich um das junge Mädchen während seiner Krankheit gekümmert hatte, und die mit ihrer unverwüstlichen Heiterkeit auf die Rekonvaleszentin den heilsamsten Einfluß ausübte. Wie treffend wußte sie jede einzelne der frommen Schwestern von Sainte-Madeleine zu charakterisieren! Von der hochwürdigen Mutter Äbtissin an, die stets vom Schnupfen geplagt wurde, weil sie ganze Nächte lang am offnen Fenster astrologische Studien trieb, bis hinab zu der Schwester Pförtnerin, die an der fixen Idee litt, sie sei die Braut des heiligen Petrus, und die für ein Stückchen Pflaumenkuchen jedem die Zusicherung gab, sie werde ihn einst, wenn sie erst bei der Verwaltung des himmlischen Pförtneramts ein Wörtchen mitzureden habe, ohne weitere Förmlichkeiten einlassen. Und Schwester Célestine, die gegen andre so streng und gegen sich selbst so nachsichtig war, und Schwester Claudia, die eine so große Schwäche für Parfümerien hatte, daß man mit Hilfe der Nase ihre Spur durch das ganze Haus und sogar durch den Garten verfolgen konnte, und die kleine bucklige Schwester Portiuncula, die immer behauptete, sie gliche der heiligen Madeleine auf dem Altarbilde der Klosterkirche!

Frau von Gramont ließ nicht lange auf sich warten. Sie wäre auch ohne besondre Mahnung heute noch gekommen, sagte sie. Sie habe eine Neuigkeit, und Neuigkeiten lange bei sich zu behalten, sei ihre Sache nicht. Wenn Herr von Marigny Geschäfte habe – der Marquis war nämlich, als die Besucherin erschien, gerade im Garten –, so möge er sich nur ja nicht durch sie zurückhalten lassen; ihre Visite gelte lediglich Marguerite. Das war ein Wink, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ, und der alte Herr mußte sich wohl oder übel zurückziehn, obgleich er gar zu gern von der Gesellschaft der hübschen und lebhaften jungen Frau profitiert hätte.

Nun – und Ihre Neuigkeit, Frau Baronin? fragte Marguerite, als sie das Gartenpförtchen hinter dem Vater ins Schloß fallen hörte.

Ei, meine Liebe, wer wird so entsetzlich neugierig sein! Unsre Neuigkeit läuft uns nicht davon. Lassen Sie mich erst einmal die berühmten Blütenbäume sehen, von denen Ihr Herr Vater nicht müde wurde, mir vorzuschwärmen.

Das Mädchen wies lächelnd nach oben.

Mein Gott – das ist alles? fuhr die Baronin fort, indem sie mit dem Auge der angedeuteten Richtung folgte; offen gestanden, ich hatte mir weit mehr darunter vorgestellt. In Paris würde man über so etwas gar kein Wort verlieren. Ich muß übrigens zu meiner Schande gestehn, daß ich vergessen habe, wie der Herr Marquis diese Sorte von Bäumen nannte.

Sie trat in das chinesische Sommerhäuschen, um sich einen Schemel zu holen, den sie dicht an Marguerites Sessel rückte. Nachdem sie sich darauf niedergelassen hatte, ergriff sie die Hand des Mädchens und streichelte sie. Ich weiß nicht, ob Sie sich noch des jungen Herrn entsinnen, der so ziemlich an jedem Sonnabend in Sainte-Madeleine vorsprach, um Ihnen frische Rosen oder Früchte zu bringen. Er tat immer, als käme er im Auftrag Ihres Vaters, aber eines Tages wollte der Zufall, daß der angebliche Auftraggeber kaum eine Viertelstunde, nachdem der junge Herr das Sprechzimmer verlassen hatte, selbst erschien. Von da an mochte von uns andern keine mehr so recht an die offizielle Mission des Boten glauben. Entsinnen Sie sich seiner noch?

Das Mädchen, dem die Röte bis zu den Schläfen gestiegen war, antwortete nur mit einem schwachen Kopfnicken.

Nun denken Sie sich, fuhr die Baronin fort, fest überzeugt, ihre Nachricht werde Marguerite im höchsten Grade überraschen, der bewußte junge Herr ist hier in Koblenz! Ich sah ihn gestern Abend beim Ausgang der Jesuitenkirche und bat ihn, meinen Gatten und mich in unserm Gasthof zu besuchen. Was sagen Sie dazu?

Aber Marguerite sagte überhaupt nichts, sondern bemühte sich nur, die Tränen niederzukämpfen, die ihre Augen zu trüben begannen.

Frau von Gramont, deren Herz ebenso gutmütig und teilnehmend wie ihre Zunge spitz war, bemerkte mit Schrecken, daß sie hier einen wunden Punkt berührt hatte. Sie drang in das Mädchen, sich zunächst zu beruhigen und ihr dann rückhaltlos zu berichten, was es mit Herrn von Villeroi für eine Bewandtnis habe. Nach einigem Zögern begann Marguerite denn auch unter Seufzen und Schluchzen die Geschichte ihrer unglücklichen Liebe zu berichten. Sie schloß ihre Erzählung mit der resignierten Bemerkung, daß nun alles aus sei, und daß Henri und sie ihre Hoffnungen in ein gemeinsames Grab bestattet hätten.

Die Baronin hatte schweigend und mit ehrlicher Teilnahme zugehört, aber der neue Tränenstrom, der diesen Worten der Entsagung folgte und sie Lügen zu strafen schien, entlockte ihr doch ein leises Lächeln.

Meine Liebe, wenn Sie Ihre Hoffnung wirklich begraben haben, sagte sie, so ist es die höchste Zeit, daß wir sie wieder exhumieren, denn wenn mich nicht alle Anzeichen täuschen, so waren sie nur scheintot. Und dann führte sie tausend Gründe dafür an, daß es Torheit sei, um einer Laune des alten Herrn willen auf das Glück Verzicht zu leisten, für das Henris Charakter ihr jede Sicherheit biete – Gründe, die, auch wenn sie weniger stichhaltig gewesen wären, zum kleinsten Teil schon ausgereicht hätten, Marguerite zu überzeugen. Und nun gestehn Sie ein, meine Teure, sagte die lebhafte junge Frau, als sie bemerkte, daß sie nicht in den Wind geredet habe, nun gestehn Sie ein: Ihre Gefühle für Herrn von Villeroi sind noch immer dieselben – nicht wahr? Nun gut – so sollen Sie ihn auch bekommen! Ich werde mit Ihrem Herrn Vater sprechen. Bleibt er bei seiner Weigerung, so mag er sich die Folgen seines Starrsinns selbst zuschreiben. Zunächst gilt es jedoch, Ihren armen und, wie ich fürchte, auch ein wenig dickköpfigen Freund zu ermutigen.

Ach, wandte Marguerite seufzend ein, Sie haben leider nur zu sehr Recht! Henri ist kaum weniger starrsinnig als mein Vater. Er wird nie und nimmer den Versuch machen, sich mir wieder zu nähern. Er hat sich nach jenem heftigen Auftritte von mir losgesagt, er weiß, daß mein Vater von ihm erwartet, er werde unsre Wohnung nie wieder betreten –

Aber von diesem Garten ist doch wohl nie die Rede gewesen? sagte Frau von Gramont.

Marguerite lächelte wehmütig. Auch diesen Garten wird er nicht betreten, sagte sie.

Gut, meine Liebe, so müssen Sie sich auf neutralem Gebiete sehen – und aussprechen. Wie wäre es, wenn Sie mich nach Ihrer völligen Wiederherstellung im Kurtrierischen Hofe besuchten? Es wäre nicht unmöglich, daß Herr von Villeroi sich zu eben derselben Zeit bei uns einstellte – der Zufall spielt ja oft die seltsamsten Streiche –

Das Mädchen machte eine abwehrende Handbewegung. Um keinen Preis, Frau Baronin! Das sähe ja aus, als wollte ich mich ihm an den Hals werfen. Nur das nicht! Lieber will ich auf mein Lebensglück verzichten –

Tränen erstickten ihre Stimme. Aber diese Tränen machten auf die junge Frau, die sich nun einmal vorgenommen hatte, der Vorsehung ein wenig ins Handwerk zu pfuschen, keinen Eindruck.

Sie tippte vielmehr mit der Spitze ihres Zeigefingers auf Marguerites Stirn und sagte: Hören Sie, meine Kleine, Sie sollten sich doch nicht über die harten Köpfe gewisser Herren beklagen! Der Ihrige scheint mindestens ebenso hart zu sein. Vor einigen Tagen – es war zu Ostern – beobachtete ich von meinem Gasthoffenster aus ein paar Gassenjungen, die ein höchst sonderbares Spiel spielten, das mich sehr belustigte. Sie hielten in ihren Händen gesottne Eier und schlugen diese mit den Spitzen gegeneinander. Wem es gelang, mit seinem Ei das des Partners zu zertrümmern, der hatte gewonnen. Sollte sich dieses Spiel nicht auch mit Köpfen spielen lassen? Ich dächte, wer den härtesten hat, der müßte siegen und mit den andern nach seinem Belieben umspringen können. Wohlan, ich gebe weder Ihnen, noch dem Herrn Marquis, noch dem Herrn von Villeroi in diesem Punkt etwas nach – ich werde also die Partie eröffnen!

Aber ich bitte Sie, alles zu vermeiden, was Henri auf die Vermutung bringen könnte, Sie handelten im Einverständnis mit mir, sagte das Mädchen.

Ich werde mich hüten, gab die Baronin lachend zurück, das wäre das beste Mittel, ihn in seiner Dickköpfigkeit zu bestärken. Fürchten Sie also nichts dergleichen! Eine Frage noch: Kennt er diesen Garten?

Schwerlich. Ich glaube nicht, daß er jemals vor das Löhrtor gekommen ist.

Um so besser! Und nun, meine Liebe, nehmen Sie eine Schaufel zur Hand und beginnen damit Ihre gemeinsamen Hoffnungen langsam wieder auszugraben.

Die Portechaise, die Marguerite allabendlich vor Sonnenuntergang – um diese Zeit wurde das Tor geschlossen – in die Stadt zurückbrachte, erschien am Gartenpförtchen und machte dem Zwiegespräche der beiden Damen ein Ende. Das Mädchen stieg ein, und die Träger setzten sich mit ihrer leichten Last in Bewegung, während Frau von Gramont nebenherschritt und der Freundin von Zeit zu Zeit zunickte. In der Nähe des »Englischen Grußes« erst trennte man sich.

Seit diesem Tage kam die Baronin häufiger vors Tor hinaus. Aber es schien, als habe sie ihre Absicht, die alten Beziehungen zwischen den Liebenden wieder anzubahnen, ganz vergessen. Vergebens wartete das Mädchen darauf, sie würde auf den Gegenstand ihrer ersten Unterhaltung hier draußen im Garten zurückkommen. Sie sprach wohl mit der ihr eignen Lebhaftigkeit über tausend Dinge, die Marguerite ziemlich gleichgiltig waren, berichtete ausführlich über die neue Art, den Kleiderrock zu tragen, eine Mode, die, wie sie erklärte, zwar einem Demokratenkopfe entsprungen sei, die aber auch eine aristokratische Figur auf das vorteilhafteste zur Geltung bringe, und ereiferte sich sogar für das dem Könige von der Nationalversammlung bestrittene Recht, eine Flotte zur Unterstützung seines spanischen Vetters gegen England auszurüsten – von Henri sprach sie nicht mehr.

Nur einmal, als das Gespräch auf das stärkere Geschlecht und seine besondern Eigentümlichkeiten kam, überflog das Antlitz der jungen Frau ein Schatten. Schweigen Sie mir von den Männern! sagte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung: sie sind es gar nicht wert, daß wir Frauen ihnen die Ruhe unsers Lebens opfern. Nichts als Verdruß hat man mit ihnen. Sie behandeln uns als Kinder, und dabei können sie ohne uns doch nicht den kleinsten Schritt tun. Glauben Sie niemals einem Manne, meine Liebe, wenn er Ihnen sagt, Sie seien ihm das Teuerste auf der Welt! Seine Marotten sind ihm viel teurer! Weiß der Himmel, ich habe genug von den Männern! Es ist einer wie der andre. Denken Sie sich, der meine hat darauf bestanden, daß ich meine Kammerjungfer entlassen mußte. Und weshalb? Weil er sie dabei erwischte, als sie ein wenig in seinen Papieren schnüffelte. Lächerlich! Als ob seine Geheimnisse so wichtig wären! Sie müssen wissen, daß die Person unvergleichlich zu frisieren verstand. Sehen Sie mich einmal an – mit dem Kopfe muß ich nun umherlaufen, bloß weil mein Mann die alberne Befürchtung hegte, das Mädchen sei eine Spionin der Revolution. Und ich Törin hatte geglaubt, mein Kopf sei ihm wertvoller als der seine.

So sind die Männer alle. Ihr Vater ist auch nicht besser. Er ist imstande, die einfachsten Regeln der Ritterlichkeit außer acht zu lassen, wenn es gilt, seinen Willen durchzusetzen. Ja, meine Beste, ich habe bittre Erfahrungen machen müssen. Und ich fürchte, es sind nicht die letzten gewesen. Ach, Marguerite, weshalb leben wir nicht in einem Amazonenstaate!

Ein paar Wochen später – es war im Juni – erhielt das Mädchen eines Tages von ihrer Freundin ein Billett, durch das diese die Mitteilung machte, sie könne heute zur gewohnten Stunde nicht kommen, da sie durch die Kirschenernte in ihrem eignen Garten voraussichtlich den ganzen Nachmittag in Anspruch genommen werde. Marguerite wußte nicht recht, was sie zu dieser Nachricht sagen sollte; sie hatte nie etwas davon gehört, daß Gramonts einen Garten hätten oder zu mieten beabsichtigten, und vermochte sich auch kaum vorzustellen, daß die Baronin einer so idyllischen Beschäftigung wie dem Kirschenernten Geschmack abzugewinnen vermöchte. Sie las den Brief zum zweiten und zum dritten mal, legte ihn dann kopfschüttelnd beiseite und griff zum Stickrahmen, der ihr jetzt wieder ein lieber Gesellschafter in einsamen Stunden geworden war. Jedoch die Arbeit ging ihr heute nicht recht von der Hand; mehr als einmal ertappte sie sich dabei, wie sie anstatt auf den Kanevas ins Weite schaute. Was mochte es mit dem Garten ihrer Freundin für eine Bewandtnis haben? Sie entsann sich, daß Frau von Gramont ihr die schöne Lage von Pfaffendorf gerühmt hatte und nichts so liebte, wie an warmen Tagen mit der Rheinfähre hinüber und herüber zu fahren. Wenn sie also wirklich einen Garten gemietet hatte, so konnte es kaum wo anders als in Pfaffendorf sein.

Die gute Marguerite! Sie ahnte nicht, daß nur eine Weißdornhecke sie von dem bescheidnen Buen Retiro trennte, das ihre Freundin vor kaum vierundzwanzig Stunden für den Rest des Sommers an sich gebracht hatte!

Und noch weniger ahnte sie, was in diesem Augenblick dort drüben vorging.

In der kleinen, von blühenden Feuerbohnen umrankten Laube war ein Teetisch gedeckt, an dem sich die Baronin, sommerlich gekleidet und dank der Bemühungen ihrer neuen Jungfer auf das sorgfältigste frisiert, mit dem Eifer einer vollendeten Hausfrau zu schaffen machte. Ein wenig abseits davon schürte ihr Gatte mit eigner Hand ein kleines Feuer, zugleich bemüht, einen kupfernen Kessel, der an einem langen Strick von einem Baumaste herabhing, in seiner pendelnden Bewegung aufzuhalten. Und zwischen der Laube und dem improvisierten Lagerfeuer spazierte Herr von Villeroi hin und her, mit dem Gesichtsausdruck eines Menschen, der nicht recht weiß, wozu er auf der Welt ist, und der das unbestimmte Gefühl hat, er müsse irgend etwas tun, um sich nützlich zu machen und seine Gegenwart zu rechtfertigen. Aber er hatte mit seinen Bemühungen nicht viel Glück. Am Teetisch wie am Lagerfeuer schienen alle Arbeiten vergeben zu sein. Kam er in die Laube, so hieß es: Aber, Herr von Villeroi, das Tassenauswischen überlassen Sie mir! Das ist keine Beschäftigung für Herren, und erschien er bei dem pendelnden Wasserkessel, so hieß es: Lieber Freund, Sie werden sich die Schuhe ansengen. Leisten Sie meiner Frau Gesellschaft!

Und dabei sprachen beide Gatten so leise, als ob jede Bohnenblüte ein verkappter Demokrat wäre, und wenn er selbst einmal den Mund auftat, so legte der Baron oder die Baronin den Finger an die Lippen und sagte: Ums Himmels willen leise! Denken Sie an das Vogelnest! Die Tierchen sind an das laute Reden nicht gewöhnt!

Das alles war höchst seltsam. Daß Gramonts über Nacht eine ausgesprochne Neigung für die harmlosen Freuden des Landlebens bekommen hatten, ließ sich schließlich bei dem Mangel an andern Unterhaltungen noch entschuldigen; daß sie aber so weit gingen, sich selbst und einem Gaste aus Rücksicht auf ein Paar junge Grasmücken Schweigsamkeit aufzuerlegen – das ging Henri doch ein wenig zu weit.

Darf ich mir die Frage erlauben, weshalb Sie mich überhaupt eingeladen haben, bemerkte er launig, wenn ich hier müßig zusehen soll, wie Sie sich abarbeiten, und wenn ich überdies den Trappisten spielen soll, wozu ich, offen gestanden, wenig Anlage habe?

Es geschieht nur, um Ihre Geduld und Gefügigkeit auf die Probe zu stellen, gab die Baronin leise zurück, wer weiß, ob Sie nicht früher oder später in eine Lage kommen werden, die eine gehörige Portion von diesen beiden Tugenden erfordert. Aber beruhigen Sie sich: wir haben auch Ihnen eine Arbeit aufgespart, und zwar eine, bei der Sie Ihre Geschicklichkeit zeigen können! Sie dürfen auf diesen Baum steigen und die Kirschen herabholen, die uns die Sperlinge übrig gelassen haben. Und nachher zeigen wir Ihnen zur Belohnung auch das Grasmückennest.

Eine fürstliche Belohnung! flüsterte Henri, indem er die geheimnisvolle Sprechweise seiner Wirte parodierte. Geben Sie mir einen Korb, und Sie sollen sehen, daß ich mir die größte Mühe geben werde, mich des Lohnes wert zu zeigen.

Es dauerte nicht lange, so saß er auch schon hoch oben im Gipfel und pflückte.

Ists hübsch dort oben? rief Frau von Gramont mit gedämpfter Stimme hinauf.

Sehr hübsch – aber mich dünkt, ich hätte schon bequemer und weicher gesessen, klang es ebenso gedämpft hinab.

Ist die Aussicht schön?

Die Aussicht? Daran habe ich noch gar nicht gedacht.

Sehen Sie den Ehrenbreitstein?

Ja!

Auch den Rhein?

Nein. Die Bäume sind im Wege.

Aber die Nachbargärten? Stehen drüben auch Kirschbäume?

Ja.

Wirklich? Oder sinds Apfelbäume?

Meinetwegen auch Apfelbäume.

Sehen Sie sonst nichts Bemerkenswertes?

Nicht das Geringste!

Schade! Ich hätte Ihnen als Würze Ihrer Arbeit die allerschönste Aussicht gewünscht. Ist der Korb bald gefüllt?

Gleich! Haben Sie einen zweiten?

Nein. Wir wollen uns mit dem einen begnügen.

Gut. Ich werde also wieder hinunterklettern.

Und als er dann wieder auf sicherm Boden stand und die Kirschen abgeliefert hatte, sagte Frau von Gramont: Nun kommt die Belohnung! Mein Mann wird Sie zu dem Neste führen. Aber seien Sie recht behutsam, daß Sie uns den kleinen Vogel nicht allzusehr erschrecken!

Sie ging zur Laube, als ob sie den Korb hineinstellen wollte, wandte sich jedoch unterwegs um, eilte, als sie sah, daß die beiden Herren der entgegengesetzten Seite des Gartens zuschritten, zum Pförtchen, schlüpfte hindurch, flog die Hecke entlang und stand, als sei sie aus der Erde emporgestiegen, plötzlich vor dem aufs höchste überraschten Mädchen.

Sehen Sie, Kleine, da komme ich noch! sagte sie lachend. Ich konnte es doch nicht übers Herz bringen, Sie den ganzen Nachmittag allein zu lassen. Zu Ihnen mußte ich, und wenns auch nur für eine Minute sein sollte. Und mitgebracht habe ich Ihnen auch etwas: die Erstlinge meines Kirschbaums. Ich hoffe, die werden Ihnen besser munden als alle Kirschen, die Sie bisher gegessen haben.

Und als Marguerite die Besucherin nun fragen wollte, wie sie so plötzlich auf den Gedanken gekommen sei, einen Garten zu mieten, nahm die Baronin sie bei der Hand und sagte: Geduld, Geduld, meine Liebe! Sie werden alles erfahren. Jetzt muß ich Ihnen etwas zeigen, was Sie sicherlich nicht hier in Ihrer Nähe vermutet haben: ein Vogelnest! Aber seien Sie hübsch still, sonst fliegt uns das Tierchen davon! Geben Sie acht: Ihr Kakadu wird bald einen Nebenbuhler erhalten.

Damit zog sie das erstaunte Mädchen zur Weißdornhecke und flüsterte ihm zu: Biegen Sie einmal behutsam den Zweig dort zurück, an dessen Spitze Sie die schöne Blütendolde sehen! Und nun stecken Sie den Kopf in die Öffnung!

Marguerite tat zögernd, was ihr geheißen worden; ihr war dabei, als habe sie ganz nahe ein Flüstern männlicher Stimmen vernommen. Eine dunkle Ahnung sagte ihr, daß hinter diesem Vogelneste irgend ein Geheimnis verborgen sein müsse, sie wollte von der Hecke fort, allein es war zu spät. Die Baronin war dicht hinter sie getreten und hielt die Widerstrebende mit sanfter Gewalt fest. Aber dieser Vorsichtsmaßregel hätte es gar nicht einmal bedurft; Marguerite blieb wie gebannt stehn: sie nahm wahr, daß die Hecke auf der andern Seite ebenfalls eine Lücke hatte, und sah, daß diese Lücke ziemlich vollständig durch ein Antlitz ausgefüllt wurde, das ihr schon einige tausendmal im Traume und im Wachen erschienen war, dem aber jetzt der Ausdruck grenzenloser Überraschung ein der Situation des Augenblicks durchaus angemessenes Gepräge gab.

Marguerite!

Henri!

Mehr als diese zwei ersten Worte eines langen Zwiegesprächs vermochte weder der Baron noch die Baronin zu verstehn. Das kam daher, daß beide, sobald diese Worte gefallen waren, den Zeitpunkt für gekommen hielten, sich möglichst rasch und geräuschlos zu entfernen. Rasch – weil die Stimme des Gewissens, das jeden Mißbrauch freundschaftlichen Vertrauens, auch den in guter Absicht begangnen, rügt, sie von dem Schauplatze ihres Intriguenspiels vertrieb, geräuschlos – weil die Fiktion, es sei ein Grasmückenweibchen vorhanden, das samt seiner jungen Brut nicht gestört werden dürfte, in ihnen selbst noch fortwirkte.

Als sie nach einer guten halben Stunde zurückkehrten, fanden sie die beiden Liebenden noch an derselben Stelle. Frau von Gramont erlaubte sich die Bemerkung, daß die Unterhaltung vielleicht besser von statten gehn würde, wenn man nicht durch eine so breite Schranke wie die Weißdornhecke behindert werde, und lud Marguerite ein, an der kleinen Teegesellschaft in der Bohnenlaube teilzunehmen. Aber das Mädchen blieb dabei, daß es den Garten der Wittib Haßlacher um keinen Preis verlassen werde, da der Vater sein Erscheinen für den Abend in Aussicht gestellt habe. Henri ließ sich natürlich ebensowenig bereit finden, einen Besuch im Nachbargarten zu machen, den er nicht ganz mit Unrecht als zur Wohnung des Marquis gehörend betrachtete. Aber er wußte Marguerite wenigstens dazu zu bewegen, ihren Sessel bis an die Heckenlücke zu rücken, durch die er ihr dann höchst galant eine Tasse Tee präsentierte.

Seit diesem Tage wiederholte sich das Rendezvous an der Hecke, so oft es die Witterung zuließ. Kein Wunder, daß der Herbst, als er daran ging, in den Gärten vor dem Löhrtore die Blätter abzustreifen, an einer bestimmten Stelle des Dorngeflechts seine Arbeit schon zum größten Teile getan fand.

In den äußern Verhältnissen der jungen Leute war inzwischen eine Änderung vorgegangen, die für das weitere Schicksal beider von entscheidendem Einfluß wurde. Villeroi hatte, so bescheiden er auch lebte, die geringen Barmittel, die ihm zur Verfügung standen, bis auf einen kleinen Rest aufgezehrt und den Versuch gemacht, sich durch Erteilen von Fechtunterricht seinen Unterhalt zu verdienen. Obwohl es ihm nicht an der Empfehlung angesehener Landsleute fehlte, gelang es ihm doch nicht, die Stelle als Fechtmeister beim erzbischöflichen Kollegium, um die er sich beworben hatte, zu erhalten, vielleicht weil der Präfekt und die Professoren – Jesuiten, die nach der Aufhebung des Ordens ihre Erziehertätigkeit als Weltgeistliche fortsetzten – in dem jungen Franzosen etwas von dem Geiste einer neuen Zeit witterten. So war er denn auf die kargen Einnahmen angewiesen, die ihm einige Lektionen brachten, für die er nach mancherlei vergeblichen Bemühungen unter den kurfürstlichen Hofjunkern und Offizieren Schüler fand. Sie reichten gerade aus, ihn selbst vor dem Verhungern zu schützen, führten ihm zugleich aber auf das eindringlichste vor Augen, wie schwer es unter den gegebnen Verhältnissen sein müsse, eine Familie zu ernähren.

Zum Glück besann er sich noch rechtzeitig auf eine Kunst, die er früher, namentlich in den zahlreichen Mußestunden seiner Offizierszeit, wenn auch nur zu seiner Liebhaberei, so doch mit schönem Erfolge getrieben hatte: auf die Miniaturmalerei. Er hatte hierfür eine mehr als mittelmäßige Begabung und hatte es durch Übung soweit gebracht, daß er Bildnisse, besonders männliche, ähnlich und in saubrer Ausführung auf Pergamentblättchen, Elfenbeintäfelchen oder kleine Kupferplatten malen konnte. Er sagte sich, für Porträts dieser Art müsse in Koblenz jetzt Bedarf vorhanden sein, da der Zusammenfluß so vieler Menschen die Anknüpfung freundschaftlicher und galanter Beziehungen begünstige, und unter den Dingen, die man als Unterpfand seiner Neigung zu verschenken pflege, kaum ein andres so gern entgegengenommen und vielleicht noch lieber gegeben würde, wie ein wohlgelungnes Bildnis.

Er porträtierte zunächst ein paar seiner Landsleute und stellte die Bildchen in dem vielbesuchten Quincaillerieladen der Herren Ballier und Lacomparte zur Besichtigung aus. Sie fanden Beifall und führten ihm bald eine ganze Anzahl von Kavalieren zu, unter diesen den Herzog von Guiche, der mit der Ausführung seines Bildnisses so zufrieden war, daß er sofort vier Kopien bestellte, die alle, in goldne Medaillons untergebracht und mit zierlichen Kettchen versehen, bei den von dem lebenslustigen Herrn um diese Zeit gerade begünstigten Schönen die freundlichste Aufnahme fanden.

So kam Henri von Villeroi buchstäblich über Nacht in Mode, und wer etwas auf sich hielt, beeilte sich, sein liebes Ich entweder mit der künstlich aufgebauten Puderfrisur der Mode von gestern oder in dem von den verhaßten Demokraten willig übernommenen Schmucke wirrer Locken von der kunstfertigen Hand des peintre-gentilhomme verewigen zu lassen.

Herr und Frau von Gramont, die anfangs mit dem so wenig standesgemäßen Broterwerb ihres Freundes nicht recht einverstanden gewesen waren, bekannten sich jetzt, da sie den Erfolg seiner Tätigkeit sahen, zu der Ansicht, in der Not sei auch einem Edelmanne jede Beschäftigung erlaubt, und ermahnten ihn, endlich Schritte zu seiner Verbindung mit Marguerite zu tun. Aber Henri glaubte hiermit noch zögern zu müssen, weil es ihm unverantwortlich schien, die Geliebte den wenn auch nicht glänzenden, so doch anscheinend gesicherten Verhältnissen, in denen sie an der Seite des Vaters lebte, zu entreißen und ihr dafür ein Dasein voller Entbehrungen zu bieten.

So verging der Winter. Aus Paris kamen immer ernstere Nachrichten. Ereignisse von ungeahnter Tragweite waren mit überraschender Schnelligkeit aufeinander gefolgt. Die Revolution holte von Tag zu Tag zu wuchtigern Schlägen gegen das Bestehende aus. Die Abschaffung des Adels, die Konstitution des Klerus, die Verfolgungen, denen die den Eid verweigernden Geistlichen ausgesetzt waren, die Aufhebung der Parlamente und der Behörden, der steigende Einfluß der Jakobiner und der schwächliche Widerstand der monarchischen Klubs – das waren Zeichen der Zeit, die auch den hoffnungsvollsten der Emigranten verraten mußten, daß auf eine friedliche Lösung der Wirrnisse nicht mehr zu rechnen sei.

Einer der wenigen, die sich beharrlich dieser Erkenntnis verschlossen, war der Marquis von Marigny. Aber eben deshalb hatte das Schicksal für ihn einen Beweisgrund bei der Hand, der bittrer war als alle Zeitungsnachrichten zusammengenommen: die Einkünfte von seinem Gute blieben aus. Woran das lag, ließ sich nicht in Erfahrung bringen; die dringlichsten Mahnbriefe an den Verwalter blieben unbeantwortet.

Und während der alte Mann dem Verzagen nahe war, jubelte Henri auf. Nun war der Augenblick gekommen, wo er mit gutem Gewissen Anspruch auf Marguerites Hand erheben durfte!

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