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Zweites Kapitel

. Am nächsten Morgen erhob sich der Marquis nicht gerade in rosiger Laune von seinem Lager. Er hatte schlecht geschlafen, noch schlechter als die Nacht zuvor in dem schmalen und harten Gasthofsbett des Kronenwirts, denn die Ruhestatt, die ihm Mutter Haßlacher in einer der engen und dunkeln Kammern neben dem »Atelier« ihres Seligen aufgeschlagen hatte, ließ so ziemlich alles zu wünschen übrig. Überdies war Marigny noch am Abend zu der Erkenntnis gelangt, daß die Küchenverhältnisse in seinem Quartier noch weit trostloser waren, als er nach dem von uns zu Protokoll genommenen Zwiegespräch mit der Alten gefürchtet hatte, und daß man hier in Koblenz die allereinfachsten der ins kulinarische Fach einschlagenden Dinge nicht nur nicht hatte, sondern nicht einmal kannte. Ein paar Töpfe, eine Bratpfanne, ein Schaumlöffel, ein Quirl und ein Reibeisen – das war das ganze Handwerkszeug, mit dem die Küche versehen war, während die Vorräte der Wittib alles in allem aus einigen Pfunden Mehl, ein paar Händen voll groben Salzes, einigen Eiern, einem Töpfchen Butter und etlichen gedörrten Zwetschen bestanden.

Die Fleischer hatten schon ausverkauft gehabt und schlachteten erst wieder am kommenden Mittwoch, den Salmfischern war wegen des niedrigen Wasserstandes nicht einmal der erbärmlichste Weißfisch ins Netz gegangen. Da hatte der Marquis denn mit dem Vorhandnen vorlieb nehmen müssen und unter Mutter Haßlachers staunenden Augen eine Omelette hergestellt, wie sie dem großen Montier, dem Leibküchenchef des Königs, unter so erschwerenden Umständen sicherlich kaum besser gelungen wäre. Aber das Bewußtsein, daß seinem Genius die Schwingen gelähmt waren, lastete wie ein Alp auf Marignys Brust und ließ ihn in der Nacht keine Ruhe und Erquickung finden. Er gehörte zu den Menschen, die unter den kleinen Unbequemlichkeiten und Sorgen des Lebens empfindlicher zu leiden haben als unter wirklichen Schicksalsschlägen, wie er denn auch, wenn von dem Unglück andrer die Rede war, dessen nebensächliche Erscheinungen lebhafter empfand und aufrichtiger beklagte, als das Unglück selbst. Im übrigen ging ihm nichts, was ihn nicht persönlich betraf, allzu nahe, und er war geneigt, sich mit dem Gedanken zu beruhigen, daß alles auf dieser Welt endlich, doch einen erfreulichen Ausgang nehmen müsse.

Neben den trüben Erwägungen, wie sie sich für ihn aus dem gänzlichen Mangel an Tiegeln, Kesseln, Kasserollen, Assietten und Pastetenformen ergaben, hatte den Marquis noch ein andrer Gedanke beschäftigt, die Frage nämlich, weshalb sich Henri von Villeroi, der seinen Besuch für diesen Morgen angekündigt hatte, schon so bald in Koblenz eingefunden habe. Villeroi war einer von Marignys Gutsnachbarn, wenn man seine paar armseligen Felder, das Stückchen Wald und das Jagdhäuschen, die letzten Reste eines ehemals sehr ansehnlichen Besitzes, überhaupt noch als Gut bezeichnen durfte. Aus seiner Laufbahn als Offizier beim Regiment Flandern durch den Zwist mit einem Vorgesetzten herausgerissen, hatte sich der junge Edelmann gleich seinem väterlichen Freunde aus der geräuschvollen Welt zurückgezogen und freilich ohne nennenswerten Erfolg das vom Vater ererbte Landgütchen durch verständige Bewirtschaftung zu verbessern gesucht. Mit Marguerite war er seit ihren Kinderjahren auf das engste befreundet; die beiden hatten, bis das Mädchen der Obhut der Nonnen von Sainte-Madeleine anvertraut worden war, wie Geschwister miteinander verkehrt. Der Marquis schätzte Villeroi als guten Gesellschafter, gewandten Reiter und vortrefflichen Schützen, bewunderte im stillen seine Fähigkeit, mit einer lächerlich geringen Einnahme auszukommen, und freute sich am meisten der ehrlichen Anerkennung, die der junge Freund der Küche von Aigremont zuteil werden ließ. Diesem letzten Umstande schrieb der Marquis auch die Tatsache zu, daß Villeroi in der letzten Zeit immer häufiger im Schlosse vorgesprochen hatte – besonders seit Marguerite aus dem Kloster zurückgekehrt war und – wenigstens formell – dem Hauswesen des Vaters vorstand.

Die beiden jungen Menschen hatten sich gern, das mußte sogar Marigny, der wahrhaftig kein sehr scharfer Beobachter war, bemerken; aber das war ja bei Jugendgespielen ganz selbstverständlich und hätte auch gar nicht anders sein dürfen.

Nie und nimmer war dem alten Herrn bisher der Gedanke gekommen, daß sich aus der geschwisterlichen Zuneigung der beiden ein wärmeres Gefühl entwickeln könnte. Er hielt es für gänzlich ausgeschlossen, daß ein Villeroi je sein Auge zu einer Marigny erheben werde, wie er denn auch fest davon überzeugt war, seine gefügige Tochter werde jeden Freier abweisen, der, was Rang und Stand betraf, nicht in allen Stücken den Ansprüchen ihres Vaters genüge.

Der junge Edelmann hatte, als sich die Nachbarn vor ihrer sonst sehr geheim betriebnen Abreise von ihm verabschiedeten, geäußert, er sehe für sich augenblicklich noch keine Gefahr und wolle sein Gut nur im äußersten Notfalle verlassen. Und nun war er genau vierundzwanzig Stunden nach ihnen in Koblenz eingetroffen. Wie mochte das zugehn? Hatte ein ungewöhnliches Ereignis, etwa ein Aufstand der Landbevölkerung, ihn von seiner Scholle vertrieben? War das Jagdhäuschen, worin er bescheiden wie ein Waldhüter wohnte, vielleicht schon in Flammen aufgegangen wie die Schlösser der reichen Steuerpächter auf den Höhen von Marly und im Walde von St. Germain?

Der Marquis sah ein, daß es töricht wäre, das Gehirn an der Lösung eines Rätsels zu zermartern, für das er ja in wenig Stunden auf die bequemste Art eine Erklärung erhalten würde, erschien ziemlich mißgestimmt beim Frühstückstisch und schenkte der Unterhaltung seiner Tochter, die, ganz im Gegensatze zu ihrem Vater, heute freudig erregt war und sogar schon den schwachen Versuch gemacht hatte, eine gewisse Ordnung in das Chaos des Reisegepäcks zu bringen, nur eine geteilte Aufmerksamkeit.

Er entfernte sich dann zu früher Stunde, nicht ohne vorher sorgfältig Toilette gemacht zu haben. Zunächst begab er sich zum Gesandten seines Souveräns beim kurfürstlichen Hofe. Er wollte sich Herrn von Vergennes vorstellen, um durch dessen Vermittlung Zutritt zum Kurfürsten zu erlangen, in dem er nach allem, was man in Paris über diesen Sohn des galanten Sachsens und sein feines Verständnis für die Freuden der Tafel erzählt hatte, eine ihm verwandte Seele vermutete. Jedoch er hatte Unglück. Herr von Vergennes schien offenbar nicht darauf zu brennen, die persönliche Bekanntschaft des Marquis von Marigny zu machen. Er ließ sich verleugnen und den Besucher durch einen Sekretär abfertigen, der sich dieser Pflicht ziemlich geschäftsmäßig entledigte. Er notierte sich den Namen, den er noch nie gehört haben wollte, ohne jedes Zeichen von ehrerbietiger Überraschung, fragte trocken, womit er dem Herrn dienen könnte, und erwiderte auf dessen Frage, wo wohl ein zuverlässiger, französisch redender Bedienter, der aber kein Franzose sein dürfe, zu finden sei, mit geringschätzigem Achselzucken: die Gesandtschaft Seiner Allerchristlichsten Majestät sei kein Gesindevermietungsbureau. Der Marquis war ein zu vollendeter Aristokrat, als daß er durch diese taktlose Äußerung eines untergeordneten Beamten, der möglicherweise von der Pest revolutionärer Ideen angesteckt war, ernstlich hätte gekränkt werden können, und er glaubte sich dadurch rächen zu können, daß er dem unhöflichen Landsmann eine größere Silbermünze in die Hand drückte, mußte es sich aber gefallen lassen, daß er sein Geldstück mit der Bemerkung, die Gesandtschaft Seiner Allerchristlichsten Majestät sei auch keine Wechselstube, zurückerhielt.

Jetzt schien es Marigny geraten, sich durch Vorweisung seines Passes als Königlicher Kammerherr zu erkennen zu geben, worauf der Sekretär denn auch wirklich um einige Grade höflicher wurde. An eine Einführung bei Hofe sei freilich nicht zu denken, erklärte er, denn der Herr Gesandte habe von Seiner Majestät noch keine Instruktionen erhalten, ob von der Anwesenheit ausgewanderter Franzosen offiziell Notiz zu nehmen und etwaigen Wünschen hinsichtlich einer Präsentation am kurfürstlichen Hofe stattzugeben sei. Überdies sei der Kurfürst nebst Prinzessin Schwester schon den ganzen Sommer in seinem Hochstift Augsburg und werde erst gegen Ende des Monats zurückerwartet.

Um eine neue Enttäuschung reicher verließ der Marquis die Gesandtschaft, bestieg eine Portechaise und ließ sich in die Castorstraße bringen, wo er Einkäufe für das Diner zu machen gedachte. Es gelang ihm denn auch nach langen Auseinandersetzungen mit den Kaufleuten, von denen nur einige ein paar Worte Französisch verstanden, das, was er zunächst brauchte: Küchengerät, Gewürze und einen Kapaunen zu erstehn. Alles dies ließ er sich in die Portechaise reichen und gab den Trägern Befehl, beim Posthause anzuhalten.

Hier traf er zu seiner Freude mehrere Landsleute, unter andern den Vicomte von Fleury, den Grafen von Cayla und den Steuerpächter Orbenteuil, Leute, die der Marquis seit Jahren oberflächlich kannte, die ihm hier in der Fremde jedoch wie teure Freunde und Wesen höherer Art erschienen. Sie alle warteten vor der Posthalterei auf den Augenblick, wo der Postmeister die soeben über Trier eingetroffnen Briefschaften geordnet haben und den draußen Harrenden durch Trommeln auf die Fensterscheibe das Zeichen zur Abholung geben würde. Als dieses endlich erfolgte, trat man ein, nahm die Postsachen in Empfang, bezahlte die Portogebühren und teilte sich gegenseitig die aus der Heimat erhaltnen Nachrichten mit.

Daß der Bischof von Autun am 10. Oktober den Antrag zur Säkularisation der geistlichen Besitzungen gestellt habe, vernahm man mit berechtigter Entrüstung. Dagegen waren die Ansichten über die Bedeutung des zur Sicherung der Hauptstadt erlassenen Martialgesetzes geteilt, während man die Nachricht, der Herzog von Orléans sei wegen seiner hochverräterischen Umtriebe vom 6. Oktober vor das Untersuchungskomitee des Châtelet geladen worden, mit Genugtuung begrüßte.

Der Marquis mußte sich als Neuangekommner erst durch seinen Paß legitimieren und wurde deshalb zuletzt abgefertigt. Als er mit seinen Briefen dann auf die Straße trat, war die Portechaise samt den Trägern verschwunden. Nun hätte er ja den kurzen Weg bis zum »Englischen Gruß« ohne sonderliche Beschwerde zu Fuß zurücklegen können, aber er war keineswegs gesonnen, auf die kulinarischen Schätze, die in der Sänfte liegen geblieben waren, ohne weiteres Verzicht zu leisten. Der Vicomte von Fleury, der sich noch in der Nähe aufgehalten hatte, und dem er sein Mißgeschick erzählte, ohne ihm freilich zu bekennen, welcher Art die verschwundnen Dinge waren, riet ihm, sogleich beim Stadtkommandanten Beschwerde zu führen. Der kurfürstliche Gouverneur war entgegenkommend genug, die fremden Kavaliere in eigner Person zu empfangen; er ließ sich den Fall ausführlich vortragen, tat allerlei Kreuzfragen und erklärte schließlich, es handle sich hier offenbar um Diebstahl oder gar Raub. Da aber die Regierung Seiner Kurfürstlichen Durchlaucht, insonderheit die bewaffnete Macht nur dann zum Eingreifen Befugnis habe, wenn eine tätliche Bedrohung der Person, also vollkommner Landfriedensbruch vorliege, so könne er den Herren nur empfehlen, sich in dieser Angelegenheit an die oberste städtische Behörde zu wenden. Entschlossen, diese Weisung zu befolgen, eilten die Franzosen zum Rathaus, wo sie den Bürgermeister nicht antrafen und nach längerm Warten zum Stadtschreiber beschieden wurden. Zum Glück verstand dieser genügend Französisch, die Wünsche des Marquis zu erraten. Im übrigen bekannte er sich zu einer weit mildern Auffassung der Angelegenheit, sprach die Vermutung aus, daß höchst wahrscheinlich ein Mißverständnis obwalte, und gab zu erkennen, daß der Fall, solange nicht der Beweis erbracht worden sei, es liege wirklich Diebstahl vor, nicht in das Ressort des städtischen Polizeiwesens gehöre. Trotzdem wolle er sich den Herren gefällig erzeigen und ihnen den Korporal Noll mitgeben, der sie zum Entrepreneur Mühlens führen werde, der für seine Chaisenträger verantwortlich sei. Marigny war hiermit einverstanden, und die Entwicklung der Dinge würde vermutlich zur allgemeinen Zufriedenheit verlaufen sein, wenn sich der Stadtschreiber nicht zuguterletzt danach erkundigt hätte, was denn das für Gegenstände wären, die der Herr vermisse. Nun hätte der Marquis um keinen Preis der Welt in Gegenwart seines vornehmen Landsmanns eingestehn mögen, daß er – der Kammerherr Seiner Majestät – in eigner Person Einkäufe für die Küche besorge, und deshalb ließ er sich zu der Lüge verleiten, er habe zum Geschenk für seine Tochter eine Schachtel mit bolognesischen Seidenblumen, ein Dutzend Paar Handschuhe und einen Fächer gekauft – Dinge, die man bei der Eile der Abreise in Aigremont zurückgelassen.

Die Aussage klang ganz glaubhaft, befriedigte den Stadtschreiber vollkommen und brachte die Verhandlung im Rathause schnell zum Abschluß. Der Korporal schnallte den Säbel um und schritt an der Seite seiner Schutzbefohlnen dem Hause des Entrepreneurs Mühlens zu. Das Unglück wollte, daß gerade um diese Stunde die Armenschule ausging, und daß sich die liebe Jugend, gewohnt, in dem alten Noll nur den Transporteur der unfreiwilligen Bewohner des Ochsenturms zu sehen, zu der Annahme geneigt zeigte, der Korporal habe einen besonders seltnen Fang gemacht. Gaffend und johlend rannten die Bürschlein vor, neben und hinter den Kavalieren her, wobei sie von Zeit zu Zeit im Chor den Ruf »Ausländsche Spitzbuwe!« anstimmten. Erst geraume Weile, nachdem sich die Mühlenssche Haustür hinter den Besuchern geschlossen hatte, verlief sich der Schwarm.

Herr Mühlens schien auf das, was man von ihm verlangte, nicht ganz unvorbereitet zu sein. Er begleitete die Auseinandersetzung des Marquis mit verständnisvollem Kopfnicken, legte die Hand wohlwollend auf die Schulter des Beschwerdeführenden und zog die beiden Herren in das Nebenzimmer, wo, unter einem Tuche wohlverborgen, mehrere Gegenstände, verschieden von Gestalt und Größe, auf einem Tische lagen und standen.

Jedermann kennt die Geschichte von dem französischen Edelmanne, der, in Venedig eines Beutels mit tausend Dukaten beraubt, sich in Schmähungen auf die Regierung und die Polizei der Republik erging, und der dann in dunkler Nacht von vermummten Häschern aus dem Bette geholt und auf verborgnen Wegen in ein unterirdisches Gelaß geführt wurde, wo ihm eine Maske seine leichtfertigen Reden vorhielt und unter dem Hinweis darauf, daß in Venedig keine Freveltat ungesühnt bleibe, einen Vorhang zur Seite zog. Da lag denn in einem schwarz ausgeschlagnen Gemach ein Leichnam ohne Kopf und daneben der bewußte Beutel, an dessen Inhalt auch nicht ein Stück fehlte.

Herr Mühlens schien sich dieses maskierte Mitglied des Rats der Zehn zum Vorbilde genommen zu haben. Er hielt den Fremden eine wohlgesetzte Rede über die Ehrlichkeit der Koblenzer im allgemeinen und die seiner Chaisenträger im besondern und verstieg sich zu der kühnen Behauptung, daß bis anhero noch jede in einer seiner Chaisen liegengebliebne Stecknadel ihrem rechtmäßigen Eigentümer wieder zugestellt worden sei. In dem vorliegenden Falle wäre seinen Leuten allerdings ein Versehen passiert, sie hätten vor der Posthalterei einen Herrn einsteigen lassen, den sie für ihren Passagier gehalten, und den sie erst als unberechtigten Benutzer der Sänfte erkannt hätten, als er sich beim Verlassen geweigert habe, die unter dem Sitze verstauten Gegenstände mit sich zu nehmen. Diese seien von den Leuten sogleich in seiner, Mühlens, Wohnung abgeliefert worden und stünden jetzt zu des gnädigen Herrn Verfügung.

Bei diesen Worten schlug er das verhüllende Tuch zurück und wies auf den Tisch, wo zwischen Gewürztüten und blanken Kasserollen der Leichnam des Kapaunen seines legitimen Besitzers harrte.

Wenn der Entrepreneur erwartet hatte, der alte Herr würde beim Anblick dieser Dinge in hellen Jubel ausbrechen, so sah er sich getäuscht. Marigny blickte durch das Perspektivchen, das in dem Goldknopfe seines spanischen Rohrs angebracht war, jeden der Gegenstände prüfend an, schüttelte den Kopf und sagte: Hier muß eine Verwechslung vorliegen. Was ich vermisse, sind bolognesische Blumen, Handschuhe und ein Fächer. Diese Dinge sind nicht mein Eigentum. Ich werde in ein paar Tagen wiederkommen, um noch einmal nachzufragen.

Und ohne mit einer Wimper zu zucken, verließ er an der Seite seines Begleiters das Haus, wo er durch freiwillige Aufopferung irdischer Güter den alten glanzvollen Namen seines Geschlechts vor dem Makel der Lächerlichkeit gerettet hatte. Die kleine Lüge bedrückte sein Gewissen nicht allzusehr; mehr Sorge dagegen machte ihm die Frage, wie er vor seiner Tochter rechtfertigen sollte, daß auch das heutige Diner im wesentlichen wieder aus Omelette und Backpflaumen bestehn würde. Und wie er dann, von den Anstrengungen des Morgens völlig erschöpft, die schmale Stiege zum Atelier des seligen Haßlacher emporkletterte, da lernte er das Wort des großen Florentiners von der Steilheit fremder Treppen und dem harten Brote des Exils verstehn.

Wenn der Marquis eine überflüssige Sorge hegte, so war es die um die Rechtfertigung des zweiten Omelettediners vor seiner Tochter. Man konnte Hundert gegen Eins wetten, daß Marguerite es heute nicht einmal bemerken würde, wenn man ihr etwa ein in Haaröl gebacknes Stück Handschuhleder vorgesetzt hätte. Sie lebte in einem Zustande, der der den Gläubigen verheißnen Seligkeit auch darin glich, daß er sie himmelhoch über alle irdischen Bedürfnisse erhob. In dem Augenblick, wo sie von Villeroi Abschied genommen hatte, war ihr erst zum Bewußtsein gekommen, wie heiß sie den Jugendgespielen liebte. Der Gedanke, sie solle sich auf Monate von ihm trennen, ihn vielleicht niemals wiedersehen, hatte sie in eine Art von geistigem Starrkrampf versetzt, aus dem sie erst das Billett des Freundes erlösen konnte. Und nun war der Arzt, dem sie ihre Heilung auf brieflichem Wege zu verdanken hatte, selbst da! Wie anders erschien ihr jetzt die Umgebung, wie anders die Luft, die sie atmete! Ihr war, als hätten die Hände eines unsichtbaren Zauberers das arme Mansardengemach in einen hohen, luftigen Saal verwandelt! Ganze Chöre von blumenstreuenden und musizierenden Amoretten, schöner und anatomisch korrekter, als der berühmte Januarius Zick sie im Audienzsaal des Residenzschlosses an die Decke gemalt hatte, schienen an diesem Tage in das ehemalige Atelier seines minder berühmten Gehilfen herabzuschweben. Und wenn Marguerite heute einen Blick aus dem Fenster tat – was freilich nicht allzu häufig geschah –, dann war ihr, als seien über Nacht an all den Blumenstöcken, die vergessen und entblättert auf den schmalen Fensterbänken der alten Giebelhäuser standen, Rosen und Nelken, Levkojen und Goldlack, Balsaminen und Feuerlilien aufgeblüht.

Marigny war inzwischen oben angelangt. Als er eintrat, fand er die beiden jungen Leute höchst sittsam auf dem Kanapee sitzen, zwischen sich den Kakadukäfig, durch dessen blanke Gitterstäbe sie sich genau so vernünftig unterhielten, wie sie es früher getan hatten, wenn Henri bei einem gelegentlichen Besuche in Paris der Freundin in Sainte-Madeleine einen Gruß aus Aigremont überbracht und durch das Sprechgitter – natürlich in Gegenwart einer der ehrwürdigsten Klosterfrauen – ein paar harmlose Worte an sie gerichtet hatte.

Daß sie noch nicht lange so saßen, konnte man an dem Schwanken des Käfigs und dem ängstlichen Flattern des Vogels erkennen, vielleicht auch an der Röte, die Marguerites Wangen beim Eintritt des Vaters überflog. Dieser schenkte jedoch weder der Tochter noch ihrem gelbhaubigen Schutzbefohlnen Beachtung, sondern wandte sich sogleich an Villeroi, der sich bei seinem Gruße erhob und die dargebotene Hand mit Wärme schüttelte.

Was verschafft uns das Vergnügen, Sie schon so bald hier in Koblenz zu sehen, bester Henri? Haben sich etwa Ihre zwei Bauern zusammengerottet und Sie aus dem Schlosse Ihrer Väter vertrieben?

Villeroi überhörte den Spott, der in diesen Worten lag, und entgegnete ruhig: Meiner zwei Bauern hätte ich mich vielleicht noch erwehren können, wenn diese braven Leute überhaupt auf den Gedanken gekommen wären, etwas gegen mich zu unternehmen. Aber ich glaube, meine Bauern wissen selbst, daß sich ein Sturm auf mein Schloß, wie Sie das Waldhäuschen zu benennen belieben, nicht recht lohnen würde.

Hat man vielleicht Ihre Person verdächtigt? Haben Sie Unvorsichtigkeiten begangen, oder hat Ihnen Ihr Starrkopf wieder einen Streich gespielt wie damals beim Regiment in Douai?

Nichts von alledem. Nennen Sie es Torheit, Schwärmerei oder wie Sie wollen, aber seit Sie und Marguerite Aigremont verlassen hatten, schien mir alles verödet. Mir schmeckte weder Speise noch Trank –

Halt! unterbrach ihn Marigny, indem er seinen Hut über den Messingknauf des Käfigs stülpte, das ist ein Grund, der sich hören läßt! Sie vermißten die Fleischtöpfe von Aigremont. Soll ich Ihnen sagen, was daran schuld ist? Das Salmi von Fasan, das wir Ihnen am Dienstag vor acht Tagen vorsetzten. Leugnen Sie es nicht! Gestehn Sie getrost ein, daß ich Recht habe. Geben Sie zu, daß dieses Salmi einzig in seiner Art war, daß Montier selbst es nicht besser hätte zubereiten können! Und das ganze Geheimnis? Der Koch hatte auf meine Anordnung statt des Xeres ein Gläschen St. Perry zur Sauce genommen – das war alles. Aber, guter Freund, auf so etwas brauchen Sie sich in diesem armseligen Neste nicht zu spitzen. Hier muß man zufrieden sein, wenn man ein paar Eier auftreibt, die man in eine Omelette verwandelt.

Er würde vermutlich noch weiter geklagt haben, wenn der Kakadu, der in die Kuppel des Käfigs hinaufgeklettert war und sich damit beschäftigte, den Hut des seidnen Futters zu berauben, seinen Gedanken nicht eine andre Richtung gegeben hätte. Während er die gefährdete Kopfbedeckung in Sicherheit brachte, gelang es Henri, endlich zu Worte zu kommen. Er kannte die Schwäche seines väterlichen Freundes zu genau, daß er nicht hätte wissen sollen, man müsse ihr kleine Zugeständnisse machen, wenn man mit dem Marquis auf gutem Fuße leben wollte.

Ich will nicht leugnen, sagte er verbindlich, daß Sie nicht so ganz Unrecht haben, und daß die Küche von Aigremont jederzeit eine nicht geringe Anziehungskraft auf mich ausgeübt hat –

Hörst dus, Marguerite? rief Marigny triumphierend, und du bildetest dir immer ein, er käme unsertwegen!

– Daß ich aber außer einem Magen, den Sie, solange ich zurückdenken kann, zu Dankbarkeit verpflichtet haben, fuhr Henri fort, auch ein Herz habe, wird Ihnen vielleicht meine Ankunft hier in Koblenz beweisen. Hierher hat mich nur die Stimme des Herzens gerufen. Ich weiß, daß man in der Fremde unter Entbehrungen lebt, daß man Ungemach und sogar Gefahren ausgesetzt ist, und um diese mit Ihnen zu teilen, habe auch ich Frankreich verlassen. Sie, mein väterlicher Freund, sind nicht mehr jung, Marguerite ist ein schwaches Mädchen, das, durch Ihre Liebe verwöhnt, die Unbequemlichkeiten der freiwilligen Verbannung doppelt schwer empfinden muß. Dies alles kam mir zum Bewußtsein, als ich Sie an jenem Morgen in die Reisekutsche steigen sah. Jetzt ist, so sagte ich mir, der Augenblick gekommen, wo du deinen Freunden nützlich werden kannst. Ich entschloß mich schnell, packte meinen Mantelsack und sicherte mir einen Platz auf der Post nach Nancy. In Chalons traf ich mit einem ehemaligen Kameraden zusammen, der ebenfalls nach Koblenz reiste und mir einen Platz in seinem Wagen anbot. Nun bin ich hier, verfügen Sie über mich! Ich höre, daß Sie hier Ihr eigner Sekretär, Kammerdiener, Jäger, Kurier und Koch sind; wohlan, übertragen Sie mir einige dieser Funktionen, Sie sollen mit meinen Diensten zufrieden sein!

Villeroi hatte mit großer Wärme gesprochen, und seine Worte waren nicht ohne Wirkung geblieben.

Das Amt des Kochs habe ich allerdings selbst übernommen und möchte es, Marguerites wegen, auch keinem andern übertragen, erwiderte Marigny; und was Sekretär, Kammerdiener, Jäger und Kurier anbelangt, so denke ich, daß wir diese für die paar Wochen schon entbehren können. Aber was uns fehlt, ist ein fröhlicher Gesellschafter. Wenn Sie als solcher in meine Dienste treten wollen, daß ich bei Ihrer Ausdrucksweise bleibe, so sollen Sie uns willkommen sein. Nicht wahr, Marguerite?

Sie wissen doch, lieber Vater, daß Ihre Freunde auch meine Freunde sind, gab das Mädchen gehorsam und korrekt wie immer zurück.

Ob ich ein fröhlicher Gesellschafter sein werde, sagte Villeroi nachdenklich, möchte ich bezweifeln. Wir leben in einer ernsten Zeit. Jeder Tag kann Ungeahntes bringen.

A bah! Ernste Zeit! Wir haben in der guten Stadt Paris schon andre Dinge erlebt, als solche Revolten des Pöbels. Geben Sie acht, ehe der Winter kommt, wird die Ruhe wiederhergestellt sein. Der König mußte einsehen, daß seine Langmut und Nachsicht der von Schurken oder Wahnsinnigen aufgewiegelten Masse gegenüber übel angebracht sind, und daß man um so mehr fordern wird, je mehr er in seiner unerklärlichen und kaum zu entschuldigenden Milde gewährt. Man muß ihn schlecht beraten haben, sonst hätte er für die Ereignisse des 14. Juli furchtbare Vergeltung verlangt. Er hätte St. Antoine beschießen lassen und den Pöbel mit Waffengewalt zwingen müssen, die Bastille wieder aufzubauen. Aber indem er ruhig zusah, wie man das Ansehen seiner geheiligten Person untergrub, wie man ihm ein Recht nach dem andern bestritt, ermutigte er die Gegner der Ordnung zu immer tollern Ausschreitungen. Sagen Sie selbst, Henri, durfte er überhaupt die Nationalversammlung anerkennen? Durfte er den Rebellen Lafayette empfangen? Durfte er sich herablassen, nach Paris zu gehn und aus den schmutzigen Händen eines Galerieaufsehers die dreifarbige Kokarde entgegenzunehmen? Für die Person des Königs fürchte ich nichts, er hat seine Macht von Gott, und Gott wird ihn auch zu schützen wissen. Aber durch seine Nachgiebigkeit bringt er die in Gefahr, die der königlichen Sache ergeben sind. Wie will der König das verantworten? Er muß und wird sich ermannen, auch seine Langmut muß sich endlich erschöpfen, und dann wehe allen, die sich der Verführung des Volks schuldig gemacht haben!

Der Marquis war in heftige Erregung geraten und fuhr sich jetzt hastig mit dem seidnen Schnupftuch über die Stirn.

Villeroi betrachtete den alten Herrn mit wehmütigem Lächeln. Ich fürchte, Sie unterschätzen das Volk und überschätzen die Macht des Königs, sagte er ruhig. Ludwig kann nicht mehr, wie er will. Die Bewegung ist ihm über den Kopf gewachsen. Er nennt sich noch König, aber er hat aufgehört, es zu sein.

Marigny sah den Sprecher einen Augenblick erstaunt an und lachte dann laut auf.

Er kann nicht mehr, wie er will? rief er. Henri, wissen Sie auch, was Sie da reden? Glauben Sie, daß eine von Gott eingesetzte Einrichtung wie die Monarchie durch eine Rotte Wahnsinniger beseitigt werden könne? – daß das achthundertjährige Haus der Kapetinger zusammenstürzen müsse, weil einige Tobsüchtige mit ihren Köpfen seine Mauern berennen?

Was Sie da eine Rotte Wahnsinniger nennen, Herr Marquis, ist ein guter Teil des französischen Volks. Ich will den König nicht anklagen, denn er ist der mildeste, der menschenfreundlichste aller Fürsten. Hätte die Stimme der Untertanen bis an sein Ohr zu dringen vermocht, so würde er der erste gewesen sein, der die Lasten, die das Volk drücken, erleichtert hätte. Aber man hat ihn geflissentlich in Unkenntnis der wirklichen Verhältnisse gelassen, man hat ihn mit einem Kordon von Heuchlern, Schmeichlern und Lügnern umgeben, die dafür sorgten, daß er nie aus dem Traum erwachte, er sei der Herrscher eines glücklichen Volks. Und diese Heuchler werden jetzt ernten, was sie gesät haben. Für die Person des Königs fürchte auch ich nichts, denn jene Leute, die für die Menschenrechte kämpfen und die willkürliche Bedrückung ihrer Brüder verdammen, werden das gesalbte Haupt der Majestät respektieren. Das Volk will kein Blut, es bringt dem König keinen Haß entgegen, aber es fordert, worauf auch der Ärmste ein Anrecht hat: Brot und väterliche Liebe. Dies aus freien Stücken zu gewähren, hat man Ludwig den rechten Augenblick versäumen lassen, und die Folge davon ist, daß ein Teil der Nation, und nicht der kleinste, jetzt mehr heischt, als der König geben darf, wenn er sein Ansehen nicht aufs Spiel setzen und sich zum stummen Werkzeuge des Volkswillens erniedrigen will. Und das ist es, Herr Marquis, was ich fürchte.

Während Henri so sprach, wandte Marguerite kein Auge von ihm, indes Marigny mit verschränkten Armen auf und nieder schritt und die einzelnen Ausführungen des jungen Mannes mit Kopfschütteln begleitete.

Henri! sagte er nach einer langen Pause, jetzt weiß ich, weshalb Sie der Himmel hierher geführt hat. Er wollte Sie vor dem Gifte bewahren, das Sie so begierig einzusaugen scheinen.

Mag sein, daß es Gift ist, entgegnete Villeroi achselzuckend, aber es gibt ja auch Gifte, die heilsam sind. Sie sehen, setzte er lächelnd hinzu, daß ich kein so guter Gesellschafter mehr bin, wie Sie vorausgesetzt haben. Aber vielleicht war es gut, daß wir uns endlich einmal über unsre Auffassung der Zustände in Paris verständigt haben, nachdem wir bisher stets vermieden hatten, diesen Punkt zu berühren. Ich weiß, daß unsre Meinungsverschiedenheit die freundschaftlichen Gesinnungen, die Sie für mich hegen, nicht beeinträchtigen kann. Erlauben Sie mir also, meinen Besuch schon morgen zu wiederholen, denn ich glaube, heute sind wir beide zu erregt, als daß wir unsre Unterhaltung in ruhigere Bahnen lenken könnten.

Er wartete nicht erst ab, was der Marquis erwidern würde, sondern trat in die Fensternische, küßte Marguerite die Hand und verabschiedete sich dann von Vater und Tochter mit einer ziemlich förmlichen Verbeugung.

Als seine Schritte auf der Treppe verhallten, fand Marigny erst wieder Worte.

Was sagst du zu diesem Demokraten? fragte er das Mädchen. Hättest du es für möglich gehalten, daß ein Villeroi für die sogenannten Menschenrechte einträte?

Ich verstehe von diesen Dingen nichts, lieber Vater, entgegnete Marguerite ruhig, man hat mich in Sainte-Madeleine ja nichts andres gelehrt, als Gebete hersagen und sticken, aber mich dünkt, was Henri da äußerte, wäre vernünftig und gut gewesen.

Marigny blieb in der Mitte des Gemachs stehn und heftete einen langen, prüfenden Blick auf die Tochter. Hatte auch sie schon von dem Gifte gekostet? Es war das erstemal, daß ihm Marguerite nicht bedingungslos beistimmte. Wie sollte er sich diese Wandlung in ihrem Wesen erklären?

Ohne sie eines weitern Wortes zu würdigen, begab sich der alte Herr in die Küche, wo er zu Mutter Haßlachers Verwunderung eine volle Stunde lang untätig am Herd sitzen blieb und in die Glut starrte, ehe er mit den Vorbereitungen zum Diner begann. Und als er dann endlich ins Atelier zurückkehrte und die Wittib ihm mit dem Werke seiner Hände folgte, da fand sichs, daß beide Omeletten auf der einen Seite verbrannt waren.

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