Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

.

Zwölftes Kapitel

. Madame Haßlacher hatte sogleich nach Marignys Abreise das »Atelier« ihres Seligen einer gründlichen Reinigung unterworfen und dann wieder den Äpfeln eingeräumt. Aber es schien beinahe, als ob sich die schönen Renetten, Kalvillen und Schlotterkerne in diesen bösen Zeitläuften ihres alten Domizils nicht mehr erfreuen sollten, denn kaum hatten sie den Raum mit ihrem feinen Duft erfüllt, so erschien ein österreichischer Quartiermacher, um ihn für vier oder fünf blessierte Rotmäntler in Anspruch zu nehmen. Diese Gefahr wurde zwar zum Glück noch einmal abgewandt, denn die Wittib erinnerte sich rechtzeitig ihrer Beziehungen zum kurfürstlichen Hofe, rannte in ihrer Herzensangst zum Kapaunenstopfer Schickhausen und ersuchte ihn, auf dem schon oft begangnen Instanzenwege für ihre Befreiung von der Last einer Einquartierung zu wirken. Ein paar Körbe der besten Äpfel, an den Hauptstationen des gedachten Wegs zurückgelassen, taten ein übriges, und so erhielt die wackre Frau denn noch vor dem Eintreffen der Österreicher ein vom Rate ausgefertigtes und gesiegeltes Zertifikat, worin zu lesen stand, daß sie als alleinstehende Wittib mit Einquartierung zu verschonen und berechtigt sei, die ihr zugedachten Soldaten an das Kartäuserkloster zu verweisen.

Trotz eines solchen Schutzbriefs fühlte sie sich aber nicht ganz sicher. Sie hatte die Erfahrung gemacht, daß in Kriegszeiten Papier wenig gilt, und daß Militärbehörden die Verfügungen eines hochweisen Magistrats nicht immer respektieren. Deshalb konnte sie sich, wenn sie allmorgendlich die stark gelichteten Reihen ihrer Äpfel musterte, eines bangen Gefühls nicht erwehren.

Heute weinte die Wittib, zwischen den Strohschütten stehend, sogar helle Tränen. Aber diese galten nicht den gefährdeten Früchten, sondern dem bisherigen Inhaber der Mansardenwohnung, der, wie sie soeben von einer Nachbarin, der Waschfrau des Posthalters Barth, vernommen hatte, vor einer Woche in Trier eines gewaltsamen Todes verblichen war. Wenn Marigny nur auf ihre Warnungen gehört hätte! Sie war nur eine einfache Bürgersfrau, aber daß die Reise ihres Franzosen ein Ende mit Schrecken nehmen würde, das hatte sie gleich geahnt! Nun war er tot, von Meuchelmördern in dunkler Nacht hingemordet, in einer Stadt, wo ihn niemand kannte, niemand eine Seelenmesse für ihn lesen lassen würde!

Sie wählte die größte und schönste Renette aus, um sie zur eignen Tröstung zu verzehren und so wenigstens einen bescheidnen Leichenschmaus zu Ehren des Verstorbnen zu veranstalten. Dabei entdeckte sie ein paar faule Äpfel, die sie nicht liegen lassen konnte, weil das Sprichwort, daß böse Beispiele gute Sitten verderben, nirgends mehr Giltigkeit als gerade in der Obstkammer hat. Sie nahm sie von ihrem Siechenbett aus Stroh auf und öffnete das Fenster, um sie nach ihrer alten Gepflogenheit ins Freie zu befördern. Da sie aber nicht ganz bei der Sache war, schleuderte sie den guten Apfel ins Ungewisse und behielt dafür die faulen in ihrer Schürze zurück. Als sie dann, in ihrer Wohnstube wieder angelangt, das Versehen bemerkte, konnte sie nicht umhin, eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihrer Handlungsweise und der des Schicksals festzustellen. Und unter einem erneuten Tränengusse stammelte sie: Der beste von allen hat untergehn müssen, und die andern, die gar nichts taugen, leben ruhig weiter!

Etwa um die nämliche Zeit flossen auch noch in einem zweiten Hause der Stadt um den Marquis von Marigny Tränen.

Villeroi, der seit der Abreise seines Schwiegervaters jeden Tag zur Posthalterei gegangen war, um nach Briefen zu fragen, war, als er wieder einmal vorsprach, in das Privatzimmer des Postmeisters geführt worden, wo man ihn von dem in Trier erfolgten Tode des alten Herrn in Kenntnis setzte. Der Postillon, der am letzten Samstag von Kochem gekommen sei, habe die Nachricht mitgebracht, es sei derselbe, der den Verstorbnen vor acht Tagen bis zur ersten Station gefahren habe und ihn daher genau kenne und zu beschreiben vermöge. Nach allem, was der Mann gesagt habe, dürfe man leider nicht daran zweifeln, daß der Herr Marquis in der Tat der alte Franzose wäre, dessen Ermordung letzten Freitag in Kochem durch Reisende, die aus Trier gekommen waren, gemeldet worden sei.

Wenn Henri und Marguerite auch keinen Augenblick gezweifelt hatten, daß Marigny das Ziel seiner Reise unter den gegenwärtigen Umständen nie erreichen werde, so wurden sie doch durch die so bald schon eingelaufne Nachricht von seinem Tode aufs höchste überrascht und erschüttert. Sie machten sich Vorwürfe, weil sie jeden Versuch unterlassen hatten, den Vater von seinem tollkühnen Vorsatz abzubringen, und suchten sich zugleich wieder vor sich selbst mit dem Hinweis auf die plötzliche Abreise, die einen solchen Versuch unmöglich gemacht habe, zu rechtfertigen. Sie hatten beide mit ihrem Kummer soviel zu tun, daß Henri sich erst nach einigen Tagen der mit der Annahme der bewußten Kiste übernommnen Verpflichtung entsann, die darin eingeschlossene Kassette weiter zu befördern.

Er holte die Kiste nun aus ihrem Versteck hervor und öffnete sie in Gegenwart seiner Frau. Das versiegelte Papier, das am Deckel des eisernen Kästchens befestigt war und offenbar den Schlüssel enthielt, trug die Aufschrift: »An Frau Marguerite von Villeroi, geborne Marquise von Marigny.«

Meine Arbeit ist getan, sagte Villeroi, indem er die Zange beiseite legte und den Verband seiner Hand, der sich verschoben hatte, wieder in Ordnung brachte, ich übergebe dir hiermit die Kassette in dem Zustande, wie ich sie der Kiste entnommen habe.

Marguerite erbrach mit zitternden Fingern die Siegel, band das Schlüsselchen los und ließ den Deckel aufspringen. Sie fand zunächst einen Brief, den sie hastig auseinanderfaltete und mit ruhiger, nur zweimal von Schluchzen unterbrochner Stimme dem Gatten vorlas. Er lautete:

 

Meine geliebte Tochter!

Wenn du diese Zeilen zu Gesicht bekommen wirst, werde ich nicht mehr unter den Lebenden weilen. Aber welches Schicksal mir auch bestimmt sein mag, das eine weiß ich gewiß: mein letzter Gedanke wird meine Marguerite sein, und den letzten Atemzug werde ich dazu verwenden, dich und die Deinen zu segnen. Was zwischen uns gelegen hat, vergiß es, wie ich es längst vergessen habe. Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben, ja als einer, der sich zum Sterben bereit macht, darf ich es bekennen: ich habe dich nie heißer geliebt, als von dem Augenblick an, wo ich dich verloren hatte. Was uns trennte, war das, was uns auch verband: das Blut der Marignys. Deinen Gatten bitte ich für all die Kränkungen, die ich ihm zugefügt habe, von ganzem Herzen um Verzeihung. Versuche du es, durch Liebe und Treue gutzumachen, was dein armer Vater an ihm gesündigt hat. Erziehe deinen Sohn, meinen teuern Enkel, den Gott segnen möge, so, daß er ein Ehrenmann wie Henri und ein echter Villeroi wird. Ich fürchte ohnehin, daß er allzuviel von uns Marignys hat. Stirn und Nase wenigstens hat er ganz sicherlich von uns, und dazu noch von dir die Augen und das Haar. Das sind ja keine Fehler, aber ich glaube, dein Mann wird wünschen, daß er ihm mehr gliche. Sieh also zu, was du in dieser Hinsicht durch die Erziehung auszurichten vermagst.

Dieser Brief soll zugleich auch mein Testament sein, und ich bitte dich, ihn dafür anzusehen, wenn ihm auch die für ein solches Dokument vorgeschriebne Fassung und die notarielle Beglaubigung fehlen. Dir, liebe Marguerite, als meiner einzigen Tochter und alleinigen Erbin, vermache ich die in dieser Kassette eingeschlossenen und auf der beiliegenden Liste verzeichneten Juwelen. Es ist das Letzte von Geldeswert, was mir nach der Konfiskation des Gutes Aigremont – die zu gelegner Zeit anzufechten ich dir übrigens empfehle – geblieben ist. Vor etwa sechs Jahren ließ ich die Steine von Herrn Duvoisin, Juwelier des Königs, taxieren. Er berechnete ihren Wert ohne die Fassung, die auch kaum in Betracht kommt, auf 180 000 Livres. Aber das war, wie gesagt, vor sechs Jahren, und seitdem ist der Preis der Edelsteine jedenfalls beträchtlich gesunken. Wenn du sie veräußerst – und dazu möchte ich dir raten –, so tue es nicht in Koblenz, wo man sie weit unter ihrem Werte bezahlen würde, sondern wende dich nach Frankfurt. Am besten wird es sein, du überläßt die Abwicklung dieses Geschäfts deinem Mann.

Ich bitte dich jedoch, das Armband mit dem großen Opal und die Busennadel mit den drei Rubinen nicht zu verkaufen, sondern diese Stücke zur Erinnerung an deine selige Mutter und mich zurückzubehalten. Die goldne Dose mit dem Bildnisse des Kurfürsten von Trier, die er mir selbst verehrt hat, bitte ich Henri als ein kleines Gedenkzeichen anzunehmen. Die Uhrkette aus dreifarbigem Gold mit den Amethystberlocken bestimme ich meinem Enkel. Er äußerte, als ich im Juli vorigen Jahres das Vergnügen hatte, mich mit ihm zu unterhalten, den Wunsch, sie zu besitzen. Desgleichen bestimme ich ihm mein von seinem Vater gemaltes Miniaturporträt. Der Junge soll doch wissen, wie sein Großvater, für dessen Dasein er der letzte Sonnenstrahl war, ausgesehen hat! Des weitern wirst du, liebe Marguerite, in der Kassette ein Buch finden. Es enthält, von meiner eignen Hand geschrieben, alle Kochrezepte, die ich selbst zu erproben Gelegenheit gehabt habe, und die ich mit gutem Gewissen als in jeder Hinsicht bewährt empfehlen kann. Viele von ihnen beruhen auf mündlicher Mitteilung berühmter Kenner und Fachleute; es genügt wohl, wenn ich dir die Versichrung gebe, daß der Herzog von Richelieu mit vier Suppen, zwei Fischgerichten, sechzehn Entremets und neun Fleischspeisen vertreten ist. Ihr werdet allerdings zunächst wohl kaum dazu kommen, das Buch bei der Zusammenstellung und Zubereitung der Mahlzeiten zu Rate zu ziehn, aber ich sollte denken, es müßte Henri, der in Aigremont jederzeit ein feines Verständnis für außergewöhnliche Platten an den Tag legte, Vergnügen bereiten, hin und wieder einmal ein wirklich gutes Rezept zu lesen.

Und nun, meine Lieben, statt langer Abschiedsworte nur die eine Bitte: Bewahrt euerm Vater und Großvater ein freundliches Gedächtnis!

Geschrieben zu Koblenz am 18. Januar 1793.

Jean-Baptiste Claude Marquis von Marigny.

P. S. Die mit einem * bezeichneten Rezepte sind meine eignen Erfindungen.

 

Die junge Frau legte den Brief auf den Tisch und blickte zu ihrem Mann empor, der während des Vorlesens neben ihr gestanden und seine gesunde Hand auf ihre Schulter gestützt hatte. Als sie in seinen Augen Tränen bemerkte, brach sie in lautes Weinen aus. Auch das Büblein, das auf einem Teppiche am Boden saß und sich damit beschäftigt hatte, dem aus Papier geschnittnen und mit Wasserfarben angepinselten Konterfei des Generals Dumouriez die Stiefel abzulecken, verzog, durch das seltsame Gebaren der Eltern erschreckt, das angeschwärzte Mäulchen und machte Miene, in die Schmerzensäußerungen der Mutter einzustimmen. Da aber der kleine Claude die von der Marignyschen Seite ererbte Hartnäckigkeit nie ausgiebiger zu betätigen pflegte als beim Schreien, so suchten ihn die Eltern, sobald sie das zu ihren Füßen heranziehende Unwetter bemerkten, mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln zu beruhigen, was für sie selbst unter den gegebnen Umständen eine heilsame Ablenkung bedeutete. Da aber alles nicht recht verfangen wollte, durchwühlten sie die Kassette nach dem großväterlichen Uhrgehänge, das denn seine aufheiternde Wirkung auf das Gemüt des Enkels auch nicht verfehlte. Und weil man nun einmal mit der Durchmusterung der Schätze begonnen hatte, so entschloß man sich, diese Beschäftigung fortzusetzen. Marguerite stellte die Kapseln mit den Schmuckstücken geöffnet im Halbkreise vor sich auf den Tisch und ließ die Diamanten mit ihren Tränen um die Wette funkeln, während Henri, nachdem er die Steine flüchtig betrachtet hatte – er war als echter Villeroi kein Kenner von Pretiosen! –, nach dem Pergamentbande griff und darin zu blättern begann.

Wenn es wahr ist, daß die Ruhe eines Toten von der gewissenhaften Erfüllung seiner letztwilligen Bestimmungen abhängt, so hätte sich Marigny einer ausgezeichneten Ruhe erfreuen müssen, vorausgesetzt, daß er wirklich tot gewesen wäre. Aber das Schicksal, das dem alten Edelmann gegenüber manches wieder gut zu machen hatte, wollte ihm wenigstens schon hier die Freude bereiten, die andre Testatoren bestenfalls im Jenseits erleben. Und so ließ es ihn denn gerade in dem Augenblick das Haus in der Weisergasse betreten, wo Marguerite sich das Armband mit dem Opal über die schmale Hand gestreift hatte und die Busennadel mit den Rubinen zwischen den schlanken Fingern hielt, wo Henri das Rezept zu einer »Schildkrötensuppe auf portugiesische Art« las, und der kleine Claude die Uhrkette in den Händchen hielt und sich mit dem aussichtslosen Versuche abmühte, den Amethyst mit dem Marignyschen Wappen in den winzigen Mund zu zwängen.

Die Familie vernahm allerdings auf dem Vorsaale Schritte, aber sie glaubte, es sei die Nachbarin, die für Marguerite Einkäufe zu machen weggegangen war und um diese Zeit zurückkehren mußte. Nun wurde an die Tür gepocht, und auf Henris »Herein!« trat ein Mann ins Zimmer, und dieser Mann war der als tot beweinte Vater!

Das Erstaunen des Villeroischen Paares fand allerdings keinen so elementaren Ausdruck wie das der Kochemer Wirtin und ihrer Stammgäste, aber es gab sich doch in unzweideutiger Weise als ein grenzenloses, mit Schreck gemischtes Erstaunen zu erkennen.

Da bin ich wieder! sagte der Ankömmling. Aus der Reise nach Paris ist nichts geworden. Der, dem ich mich zur Verfügung stellen wollte, lebt nicht mehr. Der König ist tot –

Es lebe der König! ergänzte Villeroi die alte Losung der Royalisten.

Henri, wahrhaftig, daran habe ich noch gar nicht gedacht! Es lebe Ludwig der Siebzehnte! Und Gott gebe, daß er auch als König leben möge! rief der Marquis. Und leiser setzte er hinzu: Ich wage kaum noch, darauf zu hoffen. Das arme, arme Kind!

Auf Marguerite hatte die längst erwartete Nachricht von der Hinrichtung des Königs keinen sonderlichen Eindruck gemacht. Die Freude über die Rückkehr des totgesagten Vaters überwog jedes andre Gefühl und äußerte sich zunächst in der gewiß höchst überflüssigen Frage:

Und Sie sind wirklich nicht ermordet worden, lieber Vater?

Nicht, daß ich wüßte, gab Marigny, der Gleiches mit Gleichem vergelten wollte, zurück. Er befühlte sich dabei, als müsse er auch sich selbst von seiner körperlichen Existenz überzeugen.

Man hat also auch hier das alberne Märchen von meinem Tode erzählt? fragte er, und ihr habt daran geglaubt?

Würden wir sonst die Kiste geöffnet haben? entgegnete Villeroi, indem er nach den auf dem Tische ausgebreiteten Kostbarkeiten wies. Der Postmeister ließ mich zu sich rufen und teilte mir mit, Sie seien am Morgen des 23. in Trier ermordet aufgefunden worden.

Davon ist mir nichts bekannt, bemerkte Marigny trocken und mit einem leichten Tone der Verstimmung, zu dem er sich nur zwang, weil er sich nicht merken lassen wollte, wie froh er im Grunde war, daß dieser Besuch bei seinen Kindern ohne die herzbewegende Versöhnungsszene ablief, vor der er sich immer am meisten gefürchtet hatte. Wie ich sehe, bemerkte er mit einem Anflug von heiterer Laune, habt ihr auch schon die Erbschaft euers ermordeten Vaters angetreten. Nun, mein kleiner Bursch – hier beugte er sich zu dem Enkel hinab, hob ihn auf und tänzelte mit ihm durch das enge Gemach –, da hast du sie ja schon, die Kette! Früher, als Großvater sichs damals ahnen ließ. Tut nichts, Bürschchen, tut nichts! Wenn sie dir nur Freude macht!

Wie habt ihr den Jungen eigentlich genannt? wandte er sich an seine Tochter.

Claude Henri Bayard! antwortete diese.

Und welches ist der Rufname?

Claude.

Claude? Wahrhaftig? Kinder! Trotz allem habt ihr ihn Claude genannt?

Glauben Sie, Herr Marquis, daß Mißverständnisse geringfügiger Natur uns hätten davon abhalten können, dem Jungen den Namen seines Großvaters zu geben?

Ach, die Mißverständnisse! Henri, Marguerite! Wenn ihr wüßtet, wie ich diese Mißverständnisse schon verflucht habe! Ich habe in mancher schlaflosen Nacht darüber nachgegrübelt, was an diesen – nun ja, ihr versteht mich schon – die Schuld trägt. Und da bin ich denn zu der Einsicht gekommen, es sei nichts andres als unsre erbärmliche Charakterfestigkeit. Ja, Henri, das gilt dir auch, du hast einen ebenso harten Schädel, wie wir Marignys, also verteidige dich nicht! Der einzige Unterschied ist der, daß die Charakterfestigkeit bei uns ihres Ziels bewußter und nachhaltiger auftritt als bei euch Villerois. Ihr seid sprunghafter in euern Entschlüssen, ihr verrennt euch heute in dies und morgen in jenes, und dann wundert ihr euch, wenn ihr weder vorwärts noch rückwärts könnt. – Marguerite, nimm mir doch einmal den Jungen ab, es kommt mir vor, als ob er nicht so recht trocken wäre! – In Zukunft werden wir gut daran tun, ein wenig aufeinander Rücksicht zu nehmen, dann werden sich Mißverständnisse sicherlich vermeiden lassen. Vorausgesetzt übrigens, daß ihr noch Lust habt, mit euerm alten Vater, der nichts mehr sein nennt als die Kleider, die er auf dem Leibe trägt, zu verkehren.

Sind diese Dinge dort plötzlich so sehr im Preise gesunken, daß Sie sie für nichts rechnen? fragte Villeroi, indem er auf die Pretiosen deutete.

Mein Lieber, entgegnete Marigny, diese Dinge gehören, wie du weißt, nicht mehr mir. Ich habe nie vernommen, daß ein Testator sein eignes Testament hinterher angefochten hätte.

Erbschaften können doch erst angetreten werden, wenn der Erblasser auch wirklich gestorben ist, bemerkte Henri.

Kinder, ihr werdet doch nicht verlangen, daß euer Vater, bloß um eine solche Formalität zu erfüllen, sich hinlege und sterbe?

Marguerite hatte inzwischen die Kapseln mit den Schmucksachen wieder in die Kassette gelegt und den Deckel ins Schloß fallen lassen. Ihr Mann zog das Schlüsselchen ab und hielt es dem Marquis hin. Wir verlangen weiter nichts, sagte er, als daß Sie den Schlüssel zu sich stecken und bestimmen, wann Sie den Kasten in Ihre Wohnung gebracht zu haben wünschen.

Geht nicht, mein Freund, geht nicht! Erstens habe ich mich des Besitzrechts an diesen Dingen entäußert, und zweitens habe ich noch gar keine Wohnung. Ich bin von der Post sogleich hierher gekommen. Ich glaubte, daß ein tapfrer Soldat, der der royalistischen Sache seine rechte Hand zum Opfer gebracht hat, ein Anrecht darauf habe, die Nachricht vom Tode seines Königs zuerst vor allen andern zu erhalten. O Henri, setzte er hinzu, und jetzt stiegen dem alten Manne die Tränen in die Augen, wenn du wüßtest, wie ich dich um deine Verwundung beneidet habe! Du hast dem Könige wenigstens eine Hand opfern dürfen. Ich wollte mein Leben für ihn lassen, aber das Schicksal hat mein Opfer zurückgewiesen.

Weil es Sie Ihren Kindern und Ihrem Enkel erhalten wollte! entgegnete Villeroi.

Zu was wäre ich alter Mann noch nütze! sagte der Marquis, indem er sich seufzend auf einen Stuhl fallen ließ und dem zu seinen Füßen spielenden Kinde über das Köpfchen strich. Ich bin ja nie zu etwas nütze gewesen. Und deshalb wünsche ich auch, daß ihr den Kasten dort behaltet. Ich kann ihn entbehren, ich werde schon nicht verhungern, aber ihr, ihr seid in Not, ja Henri, leugne es nicht, ich weiß es wohl: ihr seid in Not, und mit dem Malen ists nun auch vorbei, und deshalb sollt ihr die Pretiosen behalten. Wenn ich Geld brauchte, hätte ich sie längst verkauft. Das könntet ihr euch doch selbst sagen. Kurzum, ich will den Kasten nicht mehr, er steht mir nur im Wege, und es ist mir auch lästig, ihn Tag und Nacht bewachen zu müssen. Also tut mir den Gefallen und befreit mich davon!

Und da jeder der beiden Männer auf seinem Kopfe bestand und keiner dem andern an Edelmut und Opferfreudigkeit etwas nachgeben wollte, so drohte der Starrsinn, der, wie wir wissen, die gemeinsame Eigentümlichkeit der Häuser Marigny und Villeroi war, einen neuen ernstlichen Zwist herbeizuführen. Aber da zeigte es sich, daß wenigstens einer der drei Menschen aus den Erlebnissen der letzten Jahre eine Lehre gezogen hatte und diese Lehre zu beherzigen verstand. Es war Marguerite.

Wenn hier jemand über die Dinge in dieser Kassette zu bestimmen hat, so bin ich es, sagte die junge Frau. Sie, lieber Vater, haben freiwillig auf ihren Besitz verzichtet, und dich, mein guter Henri, geht der Kasten überhaupt nichts an. Du hast deine Tabatière, und damit gut! Wünschest du noch etwas zu sagen? Nein? Dann sei so freundlich und setze dich still hierher! So. Nun weiter! Ich erkläre hiermit, daß ich das Geschenk annehme –

Das darfst du nie und nimmer! fuhr Henri auf.

Still, mein Freund! – Daß ich das Geschenk annehme –

Sehr gut! bemerkte der Marquis.

– Aber nur unter gewissen Bedingungen, fügte Marguerite hinzu.

Nichts von Bedingungen! rief Marigny.

Bitte, lieber Vater, unterbrechen Sie mich nicht! Diese Bedingungen sind folgende: Ich nehme die Juwelen nicht für mich, sondern für Claude an und betrachte mich nur als die Verwalterin des daraus zu lösenden Vermögens.

Vorzüglich! bemerkte der Großvater.

Aber bei dieser Vermögensverwaltung bedarf ich der Unterstützung und des Rats erfahrner Männer. Dabei rechne ich zunächst auf Sie, Vater. Sie sind in Geschäften erfahren, Sie verfügen über Scharfsinn, Weltklugheit und Vorsicht.

Marigny lächelte geschmeichelt, machte aber, weil die Bescheidenheit es erforderte, eine abwehrende Handbewegung.

Sodann wähle ich zum zweiten Beirat dich, Henri. Du kannst als Claudes natürlicher Vormund Anspruch darauf erheben. Ihr beide würdet alle Verfügungen gemeinschaftlich zu treffen haben. Im Falle einer Meinungsverschiedenheit behalte ich mir die Entscheidung vor. Es würde unbillig sein, die Leistungen, zu denen ihr euch verpflichtet, umsonst zu verlangen. Aus diesem Grunde bestimme ich die Hälfte der Zinsen zum Unterhalt der drei Vermögensverwalter, während die andre Hälfte zum Kapital geschlagen werden soll. Zur Ersparung unnötiger Ausgaben mache ich endlich zur Bedingung, daß Sie, lieber Vater, bei uns Wohnung nehmen. Wir können Ihnen freilich nur eine bescheidne Kammer zur Verfügung stellen, aber ich dächte, jemand, der von seinem Enkel abhängig ist, müßte damit auch zufrieden sein.

Ich finde, daß Marguerite sehr vernünftig gesprochen hat, erklärte der Marquis, sehr gescheit, wie man es von einer Marigny nicht anders erwarten durfte. Er machte eine Geste, die offenbar andeuten sollte, daß er die Komplimente, mit denen Marguerite ihn bedacht hatte, nun prompt zurückgezahlt habe.

Aber über einen Punkt erbitte ich noch eine Aufklärung, fuhr er fort; in welcher Weise soll das Kapital angelegt und nutzbar gemacht werden?

Das wäre der erste Punkt, der zu beraten wäre, entgegnete die junge Frau. Ich frage zunächst, ob ihr bereit seid, mit mir zusammen die Verwaltung von Claudes Vermögen zu übernehmen.

Was tut man nicht für einen Enkel! rief der Marquis.

Und für einen Sohn! ergänzte Villeroi.

Gut! Meine Bedingungen sind also angenommen.

Eine Frage, Marguerite! sagte Marigny. Wir haben immer nur von dem kleinen Burschen dort gesprochen. Wenn nun das Schicksal bestimmt haben sollte, daß – nun, du verstehst mich vielleicht –, ich meine, du und Henri, ihr seid beide noch jung – und da wäre es doch nicht ganz ausgeschlossen, daß eines Tags noch so ein kleiner Kerl oder meinetwegen auch ein niedliches Frauenzimmerchen ankommen könnte – sollten die etwa ganz leer ausgehn?

Die junge Frau schien, obwohl sie sich eifrig mit dem Kinde beschäftigte, die Frage sehr genau verstanden zu haben. In diesem Falle tritt Teilung zu gleichen Teilen ein.

Selbstverständlich! warf Henri dazwischen, es wäre Unrecht, wenn wir ein Kind vor den andern begünstigen wollten. Meinem Herzen wenigstens werden alle Kinder gleich nahe stehn. Sind Sie nicht derselben Ansicht, Vater?

Nun – entgegnete der alte Herr, darüber ließe sich doch streiten. Eine Bevorzugung des Erstgebornen ist ja nichts Ungewöhnliches. Ich für meine Person würde nichts dagegen haben, wenn Claude ein wenig besser gestellt würde als seine Geschwister. Ich habe für den Jungen eine besondre Vorliebe. Das mag freilich daher kommen, weil ich die Enkel, mit denen ihr mich in Zukunft zu erfreuen gedenkt, noch nicht kenne. Vielleicht trifft bezüglich dieses Punktes Marguerite selbst die Entscheidung.

Ich halte meine Bestimmung aufrecht, sagte die junge Frau mit großer Entschiedenheit, Teilung zu gleichen Teilen!

Gut! Gehn wir also zur Erörterung der Frage über, in welcher Weise das Kapital anzulegen wäre, bemerkte Marigny.

Zunächst müßten die Juwelen zu Geld gemacht werden, meinte Henri.

Und das wird schwer halten, wenn man nicht allzuviel dabei einbüßen will, lieber Schwiegersohn. Ich rate zu einem Versuche mit Frankfurt. Natürlich müßte man abwarten, bis die Straßen wieder frei sind.

Und gesetzt, es gelänge uns, die Steine zu verkaufen – was fangen wir mit dem erlösten Gelde an? fragte Marguerite.

Wir leihen es auf Zinsen aus, erwiderte Henri eifrig.

Jetzt – in diesen unsichern Zeiten? warf der Marquis ein. Ich glaube nicht einmal, daß wir einen Abnehmer dafür fänden. Der Handel liegt danieder, die Manufakturen ruhn, und niemand wagt etwas zu unternehmen, weil man nicht weiß, was der nächste Tag bringen wird. Das beste scheint mir: wir nutzen die Zeitverhältnisse aus und erwerben hier in der Nähe Grundbesitz. Unser Vaterland wird uns verschlossen bleiben, solange die Leute, die die Herrschaft an sich gerissen haben, noch am Ruder sind; der Kurfürst kündigt uns über kurz oder lang die Gastfreundschaft; und so sind wir gezwungen, uns eine neue Heimat zu suchen. Ein Land auf der rechten Rheinseite wird uns Sicherheit gewähren, ein Acker- oder Weingut, und sei es auch nur klein, wird uns auskömmlichen Unterhalt bieten. Grund und Boden ist jetzt um ein Billiges zu haben und läßt sich, wenn bessere Zeiten eingetreten sein werden, mit Nutzen wieder veräußern, der Ertrag des Ackers ist jederzeit zu verwerten, und ein Ausfall der Ernte wird sich, wenn wir einen Teil von Claudes Kapital als Notpfennig in bar zurückbehalten, verschmerzen lassen. Was meint ihr zu meinem Vorschlage?

Ich halte ihn für gut, sagte Henri. Nur das mit der neuen Heimat will mir nicht in den Kopf.

Junge, rief der alte Herr, ich hätte nie geglaubt, daß du ein so guter Franzose sein könntest!

Man lernt sein Vaterland erst in der Fremde recht schätzen.

Und man bleibt ihm nahe, wenn mans im Herzen trägt, setzte Marigny hinzu. Ich denke, wir werden als deutsche Bauern nicht aufhören, französische Edelleute zu sein. Doch für heute genug der Zukunftspläne! Laßt uns jetzt an das Allernächste denken. Ihr wollt mich also wirklich bei euch aufnehmen?

Das war eine von Marguerites Bedingungen, bemerkte der Schwiegersohn.

Gut denn. Aber ihr müßt mir erlauben, die Miete im voraus zu bezahlen. Ihr werdet Geld gebrauchen. Kinder, verzeiht mir die Frage! Wovon habt ihr überhaupt in den letzten Monaten gelebt?

Wir haben alles Entbehrliche nach und nach verkauft, erwiderte Marguerite zögernd.

Und dann beziehe ich vom König von Preußen eine Pension, erklärte Henri, monatlich fünf Taler. Viel ists ja nicht, aber es reicht für uns aus.

Vom Könige von Preußen eine Pension? fragte der Marquis. Wie geht das zu?

Ich hatte, kurz vor meiner Verwundung, Gelegenheit, ein preußisches Geschütz, dessen Bedienungsmannschaft gefallen oder kampfunfähig geworden war, mit einigen Landsleuten gegen ein Dutzend Nationalgardisten zu halten, bis wir von hessischen Husaren herausgehauen wurden.

Also ein wirkliches Verdienst. Dann mags angehn. Es ist sonst bei uns bisher nicht Sitte gewesen, von einem fremden Souverän Geld anzunehmen.

Was blieb mir übrig, wenn ich Marguerite und den Kleinen nicht Hungers sterben lassen wollte?

Schon recht, Henri, schon recht! Ich will dir auch keinen Vorwurf machen. Aber ich glaube, in Zukunft kannst du auf die preußischen Taler verzichten. Und wenn euer alter Vater für euch betteln gehn sollte – nicht wahr, Henri, du tust es mir zu Gefallen?

Eine zustimmende Gebärde des Schwiegersohns schien den alten Edelmann zu beruhigen.

Da wir von der Kampagne sprachen – wie haben sich die Rebellen geschlagen?

Wie die Löwen, Vater, obgleich sie nicht gerade wie Löwen aussahen.

Gott sei Dank! rief der Marquis, mögen sie auch Königsmörder und Schurken sein, Franzosen bleiben sie deshalb doch. Ich würde es ihnen nie verziehn haben, wenn sie feige gewesen wären!

Die Rückkehr der Nachbarin machte dem Gespräch ein Ende. Marigny nahm zuerst die Kammer in Augenschein, die das Villeroische Paar ihm einräumen wollte, und begab sich dann in Henris Begleitung zur Post, um sein Gepäck in Empfang zu nehmen und durch einen Lohndiener in das neue Heim schaffen zu lassen.

Als er beim trüben Schein eines Talglichts den Koffer auspackte und seinen letzten Habseligkeiten in dem schmalen Gelasse ihren Platz anwies, fiel sein Blick auf die Ansicht des Schlosses zu Aigremont, die Marguerite während seiner Abwesenheit über dem schmalen Bette an die schmucklose getünchte Wand befestigt hatte. Er griff nach dem Leuchter und hielt ihn dicht unter das Bild.

Es hatte doch eine stattliche Front, dieses Schloß! sagte er nachdenklich. Einhundertundachtzehn Pariser Ellen ohne den Seitenflügel – das will schon etwas heißen! Hier wohne ich nicht ganz so geräumig. Wenn ich die Arme klaftere, kann ich mich rechts und links an der Wand festhalten. Das hat bei meinen Jahren ja freilich auch etwas für sich.

Aber Marguerite hat ganz Recht: wenn man von seinem Enkel abhängig ist, muß man in seinen Ansprüchen so bescheiden wie möglich sein!

.


 << zurück weiter >>