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Neuntes Kapitel

. Die in Koblenz zurückgebliebnen Emigranten – Frauen, Greise und Priester – waren mit den Nachrichten, die sie von der Armee erhielten, keineswegs zufrieden. Ihrer Überzeugung nach war die Marschroute ganz unzweckmäßig gewählt worden; das Vorrücken der Streitmacht ging viel zu langsam vonstatten, und die strategischen Operationen ließen deutlich erkennen, daß der Herzog von Braunschweig den Respekt, den man seinem Feldherrngenie gezollt hatte, durchaus nicht verdiente. Hätten die Verbündeten nicht besser daran getan, den Oberbefehl einem der französischen Offiziere anzuvertrauen? Und wenn man den Marschall von Broglio wirklich für zu alt hielt, waren nicht noch Generale wie Miran, la Rosière, Janson und Martagne da, deren jeder im kleinen Finger mehr Begabung hatte als dieser deutsche Herzog, der doch nichts weiter war, als der herzlich unbedeutende Neffe eines berühmten Oheims?

Und als dann endlich Siegesbotschaften anlangten, als Longwy genommen worden war, und Verdun kapituliert hatte, da zeigten sich die alten Aristokraten wiederum unzufrieden. Sie gönnten im Grunde ihres Herzens den Preußen die Erfolge nicht und empfanden die Niederlagen ihrer republikanischen Landsleute als eine nationale Schmach. Ja sie standen nicht an, die Tat des unglücklichen Kommandanten Beaurepaire, der nach Unterzeichnung der Kapitulation seinem Leben durch einen Pistolenschuß ein Ende gemacht hatte, als ein Beispiel antiker Seelengröße zu bewundern.

Nun durfte man freilich keine Zweifel mehr hegen, daß der Zweck des kriegerischen Unternehmens, die Befreiung des Königs und die Unterdrückung der Revolution, dennoch über kurz oder lang erreicht werden würde, und man tröstete sich schon damit, daß dieser zu erwartende Erfolg trotz der Beihilfe der Preußen und Österreicher schließlich doch nur der Intelligenz der Emigranten als der geistigen Urheber und Leiter des ganzen Unternehmens zuzuschreiben sei. Unter solchen Umständen machte die Nachricht von der Erstürmung der Tuilerien durch den Pariser Pöbel und die Einkerkerung der königlichen Familie auf die meisten der Flüchtlinge keinen allzustarken Eindruck.

Auch Marigny hatte sich im Laufe der Zeit daran gewöhnt, die Ereignisse in Frankreich mit philosophischem Gleichmut zu verfolgen. Was die Journale brachten, und was als dunkles Gerücht die Luft durchschwirrte, hatte sich schon so oft als völlig erfunden oder zum mindesten als übertrieben und entstellt erwiesen, daß ihn Neuigkeiten dieser Art nicht mehr aus seiner Fassung zu bringen vermochten.

Nun wollte es jedoch der Zufall, daß er in einem Wirtsgarten zu Pfaffendorf die Bekanntschaft eines kurhessischen Kuriers machte, der geradeswegs von Paris kommend in Koblenz einen Rasttag hielt und als Augenzeuge der Vorgänge vom 10. August berechtigtes Interesse erregte. Der Mann erzählte seine Erlebnisse in einer ruhigen und beinahe trocknen Art, aber gerade diese Sachlichkeit, die ohne rhetorische Zutaten die Vorgänge selbst reden ließ, verfehlte ihren Eindruck auf die Zuhörer nicht. Er berichtete, wie er fast wider Willen unter die Volksmenge geraten sei, die mit den Aufständischen vom Karussellplatz aus gegen das Schloß vorgedrungen wäre, und wie ihn dann die unaufhaltsam vorwärtsflutende Menschenwoge mit den Bataillonen der Marseiller und Bretagner in den mit Kanonen dicht besetzten Hof geschwemmt habe, aus dem kein Entkommen möglich gewesen sei. Da habe er dann Zeuge sein müssen, wie Schweizer und Aufständische sich eine lange Reihe banger Minuten unbeweglich und unschlüssig gegenübergestanden hätten, bis – von welcher Seite, habe er nicht erfahren können – ganz plötzlich und überraschend der Kampf begonnen worden sei. Er selbst habe, mit andern Unbeteiligten in einen Winkel gedrückt, dem wechselnden Vorrücken und Zurückweichen der Angreifer ganz gelassen zugeschaut und nur in den Augenblicken Schauder empfunden, wo die auf die Mauer aufschlagenden Gewehrkugeln ihn mit Kalk und Ziegelstücken überschütteten. Aber Furcht habe er eigentlich gar nicht verspürt, auch dann nicht, als die gegen das Schloß gewandten Kanonen ein mörderisches Feuer auf die braven Schweizer eröffnet hätten. Als der Donner der Geschütze verstummt sei, habe sich in den Korridoren des Erdgeschosses ein verzweifelter Kampf zwischen den Belagerten und den Eindringlingen entsponnen, dann seien die Angreifer und mit ihnen der Pöbel von St. Antoine über die Leichen der bis auf den letzten Mann niedergemachten Schweizer in die Gemächer gedrungen und hätten Möbel und Spiegel zerschlagen, Vorhänge und Kronleuchter herabgerissen und Gemälde und Gobelins mit Messern und Piken zerschlitzt.

Er selbst sei auf dem Hofe geblieben und habe zugeschaut, wie ein andrer Volkshaufe unter der Führung eines betrunknen Fleischers die königlichen Staatskarossen aus den Remisen des Marstalls gezogen und mit Äxten, Schmiedehämmern und Brecheisen vollständig zertrümmert hätte. Es sei ein überaus widerwärtiger Anblick gewesen, wie der Pöbel seine Wut an den doch gewiß ganz unschuldigen Sammetpolstern, Atlasgardinen und Wagenlaternen ausgelassen und nicht ohne Mühe die metallnen Schildchen mit dem königlichen Wappen aus den lackierten Holzwänden der Kutschengehäuse herausgebrochen und in den Kot getreten habe.

Bei diesen Worten zog der Erzähler eine im Feuer vergoldete ovale Bronzeplakette aus der Tasche und warf sie auf den Tisch.

Das habe ich, sagte er, bevor ich den Tuilerienhof verließ, aus dem Schmutze aufgelesen und mir zur Erinnerung an den 10. August 1792 mitgebracht.

Marigny nahm das Metallplättchen in die Hand und betrachtete es nachdenklich. Die drei bourbonischen Lilien, die reliefartig auf dem horizontal schraffierten Grunde lagen und in der Tasche des wackern Hessen blankgescheuert worden waren, strahlten heller denn je in der Sonne des Spätsommertages. Aber in den vertieften Linien ließ sich noch eine schwache Spur von graubrauner Erde erkennen – Erde nur, aber Erde von Frankreich, Erde von Paris, ein paar winzige Körnchen von dem heiligen Boden, auf dem ein König die Sünden seiner Ahnen durch das Ertragen von tausend und aber tausend Demütigungen reichlich, mehr als reichlich gesühnt hatte!

Was verlangen Sie für dieses Stückchen Metall? fragte der Marquis, die Reliquie behutsam aus der Hand legend.

Es ist mir nicht feil, mein Herr, entgegnete der Kurier, indem er die königlichen Lilien am Aufschlage seines Ärmels mit großem Aufwande von Kraft abrieb, als bedürften sie noch einer stärkern Politur; solche Andenken verkauft man nicht. Übrigens will ich das Ding meiner Frau mitbringen, die kann es als Brosche tragen. Man braucht nur auf der Rückseite eine Nadel einlöten zu lassen.

Eigentum des Königs von Frankreich zum Schmuck einer deutschen Bürgersfrau entweiht! Zum erstenmal kam dem alten Aristokraten die ganze Schwere von Ludwigs des Sechzehnten unerhörtem Schicksal in diesem Augenblick zum Bewußtsein. Was alle Schreckensnachrichten der Zeitungen und Briefe aus der Heimat nicht vermocht hatten, gelang dem elenden Stückchen Metall: es trieb Marigny die Tränen in die Augen. Und er schämte sich dieser Tränen nicht, er wandte sich ab und weinte wie ein Kind, weinte um seinen König und um sein armes Vaterland, weinte um seine eigne entschwundne Jugend und weinte um die Tränen selbst, die er hier in ohnmächtigem Zorn und Kummer vergießen mußte. In dieser Stunde drückte ihn zum erstenmal die Last des Alters und das Gefühl seiner Unfähigkeit, den Degen zu führen, aber in dieser Stunde erhielt auch das schwache, gebrechliche Gefäß seines Körpers einen neuen Inhalt: die Seele eines Helden.

Der biedre Hesse, von der unerwarteten Wirkung seiner Erzählung peinlich überrascht, wußte in seiner Verlegenheit nichts besseres zu tun, als dem schluchzenden alten Herrn kräftig auf den Rücken zu klopfen, ganz in der Weise, wie man einem Menschen, der dem Ersticken nahe ist, gewaltsam zur Reaktion seiner Lungen gegen den in die Luftwege eingedrungnen Fremdkörper zu verhelfen sucht. Als er hiermit keinen Erfolg erzielte, rief er den Wirt, weil er seine Zeche bezahlen und fortgehn wollte. Aber Marigny deutete durch Gesten an, daß der Kurier sein Gast sei, und bestellte unbekümmert um dessen Proteste noch eine Flasche Ingelheimer, die sie dann schweigend miteinander austranken.

Seit diesem Tage wurde der alte Edelmann das lähmende Gefühl, ein Überflüssiger auf dieser Welt zu sein, nicht mehr los. Zum Unglück hatte er jetzt auch genügend Zeit, seinen trüben Gedanken nachzuhängen, denn in der kurfürstlichen Küche gab es nach der Abreise der hohen Gäste für ihn nichts mehr zu tun. Clemens Wenzeslaus, sonst ein Verehrer der Tafelfreuden, hatte auf die Nachricht von den Erfolgen der revolutionären Truppen am Oberrhein seinen sonst so gesegneten Appetit zum größten Teil eingebüßt und begnügte sich seit der Einnahme von Speier durch Custine mit vier höchst einfachen Gängen, von denen nach der Überrumplung von Worms durch Neuwinger sogar noch einer gestrichen wurde. Und als dann die niederschmetternde Nachricht kam, daß die Reichstruppen in Mainz bei einem falschen Alarm auseinandergelaufen seien, und daß Studenten zusammen mit Rheingauer Winzern die Verteidigung der Stadt übernommen hätten, wurde im Koblenzer Residenzschloß schleunigst alles Tafelsilber in Kisten verpackt und auf das Schiff verladen, das schon längst bereit lag, um die geheiligte Person des Landesherrn bei den ersten Anzeichen ernster Gefahr stromabwärts in Sicherheit zu bringen.

Wenn es für Marigny in dieser traurigen Zeit noch einen schwachen Trost gab, so war es das Bewußtsein, daß seine Tochter jetzt mehr als je der Unterstützung bedurfte, und daß er selbst in der Lage war, ihr – wenn auch nur im geheimen – Wohltaten zu erweisen. Er hatte in Erfahrung gebracht, Marguerite suche sich durch Anfertigung feiner Stickereien zu ernähren und habe unter den Damen der Koblenzer Noblesse einen kleinen Kreis von Kundinnen, die ihr die Arbeiten um ein Billiges abkauften. Das brachte ihn auf den Gedanken, seiner Tochter einen Teil ihrer häuslichen Pflichten und Sorgen abzunehmen, indem er jeden Mittag in Mutter Haßlachers Küche höchst geheimnisvoll irgendein Gericht kochte und durch einen verschwiegnen alten Lohndiener nach der Weisergasse bringen ließ. Der Bote mußte sich Marguerite gegenüber stellen, als käme er im Auftrage einer vornehmen Dame, die jedoch nicht genannt sein wolle.

Die List gelang, und mehrere Wochen lang wanderte der Topf des geheimnisvollen Kochs zwischen Kornpforte und Weisergasse hin und her. Aber eines Tags kam der alte Herr auf den nicht gerade glücklichen Einfall, ein Gericht zu kochen, von dem er wußte, daß es die Lieblingsspeise seiner Tochter war. Und dieses Gericht wurde zum Verräter. Nie war die Scheidewand zwischen den Häusern Marigny und Villeroi dem Einsturz näher gewesen, als an dem Tage, wo Marguerite schon an dem Duft ihres Mittagsmahls den Urheber und Spender erkannte. Wohl hatte Henri seiner Frau auf das strengste verboten, sich ihrem Vater zu nähern, aber sie hätte kein Weib, keine Tochter sein müssen, wenn unter dem warmen Hauche von soviel sorgender, selbstloser Liebe nicht die dünne Eiskruste ihres Herzens zum Schmelzen gebracht worden wäre.

Diesesmal setzte sich die junge Frau, nachdem sie ihr Mahl gehalten, nicht wie sonst sogleich wieder an den Stickrahmen, sondern blieb, das Haupt in die Hand gestützt, am Tische sitzen. Sie vergegenwärtigte sich noch einmal alles, was sie seit ihrer Flucht aus Aigremont erlebt hatte, sie rief alle Gespräche, all die peinlichen Auftritte in ihr Gedächtnis zurück, die dem Bruche mit ihrem Vater vorangegangen waren, und durchlebte in der Zeitspanne von kaum einer einzigen Stunde zum zweitenmal die lange Kette der bitter-seligen Monate ihrer Brautzeit. Und das Ergebnis ihres Nachdenkens war die Erkenntnis, daß sie selbst es sei, die die Schuld an dem Zerwürfnis trage. Hätte sie mit ihrem Vater mehr Geduld und Nachsicht gehabt, hätte sie es verstanden, mit etwas mehr weiblichem Feingefühl auf seine Eigentümlichkeiten einzugehn und nach und nach die Gegensätze in den Anschauungen der beiden Männer auszugleichen, so wäre jene gewaltsam herbeigeführte Entfremdung wahrscheinlich vermieden worden. Sie hatte den Vater auf eine lieblose und unkindliche Weise verlassen, an ihr war es also jetzt auch, den ersten Schritt zur Versöhnung zu tun.

Sie bat die Nachbarin, das Kind zu hüten, warf ein Tuch um die Schultern und begab sich zum »Englischen Gruß.« Die Wittib Haßlacher öffnete ihr die Tür. In Wesen und Gesichtsausdruck der Alten lag etwas Kaltes, Zurückhaltendes, ja beinahe Abstoßendes, das Marguerite nichts Gutes ahnen ließ.

Ist mein Vater zuhause? fragte die junge Frau.

Die Wittib lachte laut auf. Ihr Vater? Wie soll ich wissen, ob Ihr Vater zuhause ist? sagte sie, wie käme ich – eine anständige Frau – dazu, Ihren Vater zu kennen?

Mein Gott, Madame, entsinnen Sie sich meiner nicht mehr? Wissen Sie nicht, daß ich die Tochter des Marquis von Marigny bin?

Meine Gute, das glauben Sie doch selbst nicht. Und wenn Sie wirklich so einfältig sein sollten, sich einzubilden, daß der Herr Marquis Ihr Vater wäre, so lassen Sie sich von mir belehren, daß Sie mit Ihrer Meinung auf dem Holzwege sind.

Ich verstehe Sie nicht, Madame. Aber ich bitte Sie, mich dem Herrn Marquis zu melden. Ich muß ihn sprechen.

Das werde ich wohl bleiben lassen. Gehn Sie Ihrer Wege und lassen Sie sich nicht wieder in diesem Hause blicken. Wenn der Herr Marquis Sie hier sieht, könnte es Ihnen schlecht ergehn. Also seien Sie vernünftig und machen Sie hier keine Szenen. Ich weiß alles. Der Herr Marquis hat mir die ganze Geschichte haarklein erzählt. Er sagte, er sei herzlich froh, Sie endlich los geworden zu sein.

Vor den Augen der jungen Frau begann es zu flimmern. Sie mußte sich am Türpfosten festhalten, um nicht zu Boden zu sinken. Kein Zweifel: ihr Vater hatte die Alte angewiesen, sie nicht vorzulassen! Er verleugnete sie, und seine Wohltaten waren nichts weiter als Demütigungen – Almosen, wie man sie einem lästigen Bettler hinwirft, um ihm seine Verworfenheit und sein Elend doppelt fühlbar zu machen!

Sie wollte noch eine letzte Frage an die Wittib richten, aber ehe sie dazu kommen konnte, flog die Tür ins Schloß. So stand sie auf der Gasse – eine Verachtete und Verstoßene. Sie wankte nach Hause, entließ die Nachbarin und warf sich vor dem Bettchen des Kindes auf die Kniee. Hier fand sie Beruhigung und Trost. Aber mit ihrer Stickerei kam sie an diesem Tage nicht mehr recht vom Flecke.

Der Marquis, der von dem beabsichtigten Besuche seiner Tochter im »Englischen Gruß« nichts wußte und natürlich den Zusammenhang der Dinge nicht ahnte, war aufs höchste überrascht, als am nächsten Mittag der alte Lohndiener den Speisetopf gefüllt, wie er ihn erhalten hatte, zurückbrachte und berichtete, Frau von Villeroi habe ihm aufgetragen, der unbekannten Spenderin ihren Dank auszusprechen, zugleich aber auch zu sagen, daß sie einer Unterstützung nicht mehr bedürfe.

Der alte Herr würde diesen neuen Schlag vielleicht schwerer als alles andre vorher empfunden haben, wenn nicht gerade in diese Oktobertage Ereignisse gefallen wären, vor denen die persönlichen Sorgen und Kümmernisse eines einzelnen Menschen zurücktreten mußten. Paris hatte Schule gemacht: auch die sonst so friedlich-pfahlbürgerliche Residenzstadt an der Mündung der weinfröhlichen Mosel hatte jetzt ihre Revolution! Natürlich eine Revolution in handlicher Taschenausgabe, eine Revolution ohne Nationalversammlung und Konvent, ohne Guillotine und Straßenkampf, aber dennoch eine regelrechte Revolution, wie man sie unter der gepriesenen milden Herrschaft des Krummstabs noch nicht erlebt zu haben vermeinte.

Clemens Wenzeslaus hatte sich nach seinem Lustschlosse Kärlich begeben, um hier, von der durch die anrückenden Franzosen gefährdeten Residenz weit genug entfernt, gemächlich abzuwarten, ob und wann die Entwicklung der Dinge seine Abreise wünschenswert machen würde. Seinem Beispiele folgte die Hofgesellschaft und ein Teil des Adels. Die Bürgerschaft beobachtete die Vorbereitungen zur Flucht mit Befremden und fürchtete nicht ohne Grund, der Feind werde sich an ihrem Besitztum schadlos halten, während die Noblesse alles Hab und Gut von einigem Werte in Sicherheit gebracht haben würde. Man rottete sich zusammen und nötigte eine Anzahl adlicher Personen, ihre Kisten und Koffer wieder von den Schiffen in die Stadt bringen zu lassen. Die Empörung wuchs, als die Absicht der Regierung, die Stadt dem General Custine sogleich auszuliefern, bekannt wurde. Nun sah sich der Kurfürst gezwungen, die kleine Garnison durch Truppen zu verstärken, die schleunigst aus Trier herbeigezogen wurden. Aber während die Bürgerschaft, unterstützt von den Bewohnern Ehrenbreitsteins, Horchheims und Pfaffendorfs, Tag und Nacht ununterbrochen am Ausbau der Befestigungen arbeitete, Wälle und Schanzen aufwarf und Faschinen anfertigte, reiste wider Wissen und Willen des Kurfürsten der landständische Syndikus von Lassaulx an der Spitze einer Deputation nach Mainz, um Custine die Schlüssel der Stadt anzubieten.

Diese verräterische Tat einer kleinen Zahl von Feiglingen, die, um sich selbst zu retten, das Eigentum ihrer Mitbürger und das Leben der in den Mauern der Stadt weilenden französischen Aristokraten ohne Bedenken aufs Spiel setzten, sollte Koblenz zum Segen werden. Custine, der dieses wichtigen Punktes am Mittelrhein sicher zu sein glaubte, nahm sich mit der Besetzung der Stadt Zeit. Und so geschah es, daß das hessische Korps, das der nach den anfänglichen Erfolgen bald zum Rückzuge aus Frankreich gezwungne preußische Oberbefehlshaber zur Rettung von Koblenz vorausgeschickt hatte, die Stadt eher als der Feind erreichte.

Bürger und Emigranten atmeten erleichtert auf und ließen sich keine Mühe verdrießen, die braven Grenadiere und Husaren, die am 26. Oktober nach anstrengenden Eilmärschen über die Moselbrücke zogen, mit dem Besten, was Küche und Keller boten, zu bewirten.

Hier war Marigny am rechten Platze. Galt es jetzt auch nicht, Geflügelpasteten und Salmis zu bereiten, so zeigte er doch, daß sein Genie selbst den ungewöhnlichen Ansprüchen gerecht zu werden verstand, die völlig ausgehungerte Soldaten an Speise und Trank stellen. Wo die Kochfeuer am stärksten rauchten, die Krautkessel am lustigsten brodelten und die Bratpfannen am einladendsten zischten und knatterten, da stand ganz gewiß, von Dampfwolken umwallt, der alte Edelmann und leitete die friedlich-kriegerischen Operationen, bei denen mancher eine bessere Klinge schlug als vorher draußen im Felde.

Als er eines Abends mit gründlich durchräucherten Kleidern in den Klub kam, nahm ihn der alte Graf Cayla beiseite.

Entsinnen Sie sich des Abbé Tallandier? fragte er den Marquis.

Tallandier? Ist das nicht der dicke Rotkopf, der damals bei dem Jagdfrühstück, das der Steuerpächter Lully in St. Germain gab, behauptete, nur in England wisse man Hammelkeule zu braten?

Mag sein, daß er so etwas behauptet hat. Ich erhielt heute von ihm einen langen Klagebrief.

Aus Paris? Er ist nicht geflohen?

Nein. Dazu war er zu bequem. Er hat den Eid geleistet.

Das sieht ihm ähnlich. Charakterstärke war seine Sache nicht.

Desto mehr Anerkennung verdient sein Neffe. Sie wissen doch, daß Ihr Vikar Durand sein Neffe war?

Ich glaube so etwas allerdings gehört zu haben. Um die verwandtschaftlichen Beziehungen meiner Leute habe ich mich nie besonders bekümmert. Nun – und was ist mit Durand geschehn?

Er hat den Eid verweigert und unbekümmert um alle Verbote in der Kapelle zu Aigremont die Messe gelesen.

Auch nachdem mein Gut konfisziert worden war?

Auch dann noch.

Das hätte ich dem kleinen Vikar nicht zugetraut.

Man hat ihm den Prozeß gemacht.

Und der Ausgang dieses Prozesses?

Darüber können Sie noch im Zweifel sein? Er hat in den Sack niesen müssen.

Der arme kleine Durand! Graf, lassen Sie uns vor diesem Manne den Hut abnehmen. Er ist als ein Märtyrer gestorben.

Freund, er war mehr als ein Märtyrer. Er starb für eine Sache, an die er selbst nicht glaubte. Um einer Sache willen sterben, für die man sich begeistert, das ist leicht, aber Durand starb wie ein Soldat, der auf seinem Posten ausharrt, weil er seine Pflicht kennt. Er starb, um mit seinem Blute gegen die Ungesetzlichkeit der Konstitution zu protestieren.

Ich hielt ihn stets für einen gläubigen Christen.

Das war er vielleicht auch, aber in anderm Sinne, als Sie anzunehmen scheinen.

Er schenkte den Armen sein letztes Hemd –

Aber in seiner Wohnung fand man Voltaires Werke. Sein Verteidiger, der ihn retten wollte, versuchte diese Tatsache zu seinen Gunsten geltend zu machen.

Und das Tribunal maß diesem Umstande keine Bedeutung bei?

Es würde es getan haben, so schrieb mir der Abbé, wenn Durand, der offenbar nicht gerettet werden wollte, nicht behauptet hätte, er habe Voltaire nur gelesen, um ihn widerlegen und bekämpfen zu können.

Die Dazwischenkunft eines Dritten machte der Unterhaltung der beiden Herren ein Ende.

Man sprach über den unglücklich verlaufnen Feldzug und die verzweifelte Lage, in die Ludwig der Sechzehnte durch den kläglichen Mißerfolg des mit so großer Zuversichtlichkeit begonnenen Befreiungswerkes geraten war. Und wie immer, wenn der Name des Königs genannt wurde, sammelte sich um die miteinander Sprechenden ein ganzer Kreis von Männern, deren jeder eine neue erschütternde Einzelheit aus den Pariser Ereignissen zu berichten wußte. Die Frage, ob man es wagen würde, Ludwig in den Anklagezustand zu versetzen, wurde am lebhaftesten erörtert und nach den Erfahrungen der letzten Zeit von niemand mehr ernstlich verneint. Als jedoch einer der Anwesenden die Behauptung aussprach, der Konvent wünsche nicht nur die Verbannung des Königs, sondern vielmehr seinen Tod, da vereinigten sich die übrigen zu entschiednem Widerspruch. Die Hinrichtung des edelsten und besten aller Monarchen – das würde ein Vorschlag sein, zu dem auch der verworfenste der Verworfnen seine Zunge nicht leihen konnte!

Marigny hörte diesen Auseinandersetzungen schweigend zu. Er war in der Gesellschaft der letzte, der an einen solchen Ausgang geglaubt hätte, und hielt schon die Erörterung dieses Gegenstands für eine Art von Hochverrat. Weit mehr beunruhigte und schmerzte ihn das, was man über die Gefangenschaft der königlichen Familie in den düstern Gemächern des Temple, über ihren Mangel an jeglicher Bequemlichkeit und die argwöhnische Bewachung durch übelgesinnte Männer aus den untersten Volksklassen erzählte. Ludwig der Sechzehnte, in glücklichern Tagen gewohnt, inmitten eines Hofstaats von vielen tausend Köpfen zu leben, hatte für seine eigne Person und seine Angehörigen nur noch einen einzigen Kammerdiener zur Verfügung! Der Mann, für dessen leibliche Bedürfnisse ein ganzes Heer von Köchen gesorgt hatte, mußte sich jetzt mit den schlechten und sogar halb verdorbnen Speisen begnügen, die man ihm aus einer schmutzigen Garküche in seinen Kerker sandte!

Andre mochten den Erben des Sonnenkönigs bemitleiden, weil man ihn des Glanzes der Majestät entkleidet und seinen milden Händen das Zepter der Macht entwunden hatte, andre mochten den Verlust seiner persönlichen Freiheit beweinen und die Demütigungen und Kränkungen beklagen, durch die der vertierte Pöbel ihm seinen Sturz noch fühlbarer machen zu müssen glaubte, wieder andre mochten darüber jammern, daß der königliche Weidmann, dem ein Birschgang durch die grünen Wälder von Saint Cloud und Fontainebleau die höchste Wonne des Daseins gewesen war, nun schon seit Monaten in dem engen Zwinger saß, durch dessen Gitterstäbe kein würziger Hauch aus den geliebten Forsten, kein Standlaut der Schweißhunde und kein Hallali des Jagdhorns zu dem Gefangnen drang! Was Marigny bekümmerte, war der Gedanke an die Garküche und an das, was aus ihr hervorging, an Speisen, die ohne Kunst und ohne Sorgfalt gekocht waren, an Teller aus grobem Steingut, an rostige Messer und verbogne Gabeln, die locker und in unsaubern Holzgriffen saßen.

Dieser Gedanke verfolgte den alten Herrn von jetzt an Tag und Nacht. Die plebejischen Messer und Gabeln beunruhigten fortan seine Träume, und mehr als einmal fuhr er aus dem Schlummer empor, weil er den fettigen Dunst der Garküche einzuatmen glaubte. Immer aber schwebte über diesen Schreckgesichtern das verklärte Bild des armen kleinen Vikars, der als ein Märtyrer der Pflicht gestorben war, und dessen ernstes Antlitz die Mahnung auf den Lippen zu tragen schien: Folge mir nach!

Der Marquis empfand, daß er irgend etwas unternehmen müsse. Seine jungen Standesgenossen hatten getan, was sie vermochten; es war nicht ihre Schuld, daß den Waffen der Verbündeten das Kriegsglück nicht hold gewesen war. Nun mußten die Greise vor! Freilich, zum Fechten war der Arm des alten Edelmanns nicht mehr gelenkig genug, aber mußte man, um ein Held zu sein, den Degen führen? Hatte der kleine Vikar etwa gekämpft? Verdient nicht der die größte Bewunderung, der mit vollem Bewußtsein Leiden auf sich nimmt, gegen die es keinen Widerstand gibt, und die nur der Tod endet? Ach, wie froh wäre Marigny gewesen, wenn ihm jemand den Weg nach einem solchen Golgatha gezeigt hätte!

In den ersten Novembertagen rückten die Preußen wieder ein, und mit ihnen ein Teil der französischen Royalisten, die vor drei Monaten in zuversichtlicher Hoffnung auf den Sieg der gerechten Sache von Koblenz Abschied genommen hatten.

Und wieder zogen unabsehbare Kolonnen über die Moselbrücke, aber wie hatte sich das Aussehen der Krieger verändert! Drei Monate hatten ausgereicht, die Regimenter, die mit dröhnendem Schritt über die vom Alter geschwärzten Steinbogen marschiert waren, in eine Armee von bleichen, hohläugigen Gespenstern zu verwandeln, denen die bis zu den Epauletten hinauf mit Schlamm und Lehm überzognen Uniformen um die Glieder schlotterten. Diese Männer hatte nicht der Feind besiegt, sie waren höhern Mächten gewichen: ununterbrochne Regengüsse, grundlose Wege, Nachtlager auf durchnäßter Erde, Mangel an Brot und Fleisch, und nicht zuletzt der Genuß von rohem Gemüse und unreifen Weintrauben hatten in ihren Reihen weit ärger gewütet, als es die fürchterlichste Kanonade, das heftigste Gewehrfeuer vermocht hätten.

Der Marquis von Marigny versäumte die Ankunft keines Bataillons und keiner Schwadron. Mit Luchsaugen musterte er Mann für Mann. Wenn sich eine französische Uniform zeigte, wenn ein roter Mantel, wie ihn die Garden d'Artois trugen, sichtbar wurde, begann sein Herz zu klopfen. Aber der, auf den er wartete, kam nicht.

Drei oder vier mal begegnete er bei seinen Gängen zur Moselbrücke der Tochter. Sie vermied es geflissentlich, mit ihm zusammen zu treffen, und verschwand, sobald sie seiner ansichtig wurde, in der dichtgescharten Volksmenge.

Wenn er unter den Heimkehrenden einen Bekannten erblickte, so begrüßte er ihn und begleitete ihn eine kurze Strecke, um ihn nach Villerois Verbleib zu fragen. Den Namen seines Schwiegersohns sprach er zwar nie aus, aber die Gefragten verstanden trotzdem, wen er meinte, wußten jedoch niemals über das Schicksal des jungen Landedelmanns, »der ein so geschickter Miniaturmaler gewesen war,« Auskunft zu geben. Der eine wollte ihn zuletzt im Lager zu Konz gesehen haben, ein andrer behauptete, er habe ihn beim Regiment Hessen-Philippsthal bemerkt, der dritte meinte, er sei bei Longwy noch gesund gewesen. Nach mehreren bangen Tagen erfuhr der Marquis endlich etwas Näheres. Der Baron von Gramont, der den Feldzug als Stabsoffizier des Generals Miran mitgemacht hatte, berichtete, Villeroi sei am Abend von Valmy verwundet worden. Er habe aus einem Hinterhalt einen Schuß durch die rechte Hand erhalten. Ob die Verletzung ernster Natur gewesen und ob vielleicht sogar die Amputation des verwundeten Glieds notwendig geworden sei, wußte Gramont selbst nicht, auch konnte er nichts Genaueres darüber angeben, wo sich der Blessierte zur Zeit befände. Er vermutete nur, daß er mit den von Trier aus auf Schiffen beförderten Krankentransporten eintreffen würde.

Von nun an schenkte Marigny den einmarschierenden Truppen kaum noch Beachtung, überwachte dafür aber um so gewissenhafter die Moselfahrzeuge, die unterhalb der Brücke anlegten. Und in der Tat brachten manche von ihnen Verwundete mit, wenn auch die meisten bis auf den letzten Platz mit den Leuten besetzt waren, deren Anwesenheit im Feldlager den Herzog von Braunschweig so erbittert hatte. Sie schienen unter den Strapazen der Kampagne auch am allerwenigsten gelitten zu haben und die Heimreise durch das liebliche Moseltal trotz der vorgerückten Jahreszeit mehr als eine Lustfahrt zu betrachten. Hie und da konnte man an Bord der Kähne sogar ein Weinfäßchen bemerken, um dessen letzten Inhalt sich jetzt bei der Landung aufgeputzte, aber deshalb nicht minder tatkräftige Dämchen mit trunknen Livreebedienten und fluchenden Packknechten stritten.

Wenn Kranke über die schmalen Stege ans Ufer geleitet oder getragen wurden, war Marigny regelmäßig einer der Ersten, der sich erbot, sie mit Speise und Trank zu stärken und ihnen mit kleinen Dienstleistungen an die Hand zu gehn.

Und alle nahmen die Hilfe des alten Mannes dankbar an, nur einer, der den rechten Arm in der Binde trug, wies, als ihm Marigny beim Aussteigen behilflich sein wollte, mit der gesunden Hand nach dem Stern des Schiffes und sagte kühl:

Ich bin Ihnen für Ihre Güte verbunden, mein Herr. Aber dort liegt jemand, der Ihrer Unterstützung mehr bedarf als ich. Bei dem dort sind Samariterdienste am Platze.

Dann schleuderte er seinen Mantelsack ans Ufer und sprang selbst hinterher.

Der Marquis schritt über den Steg und richtete mit Hilfe des Schiffsknechts den Kranken, der seiner Sorge empfohlen worden war, auf. Es war ein Gendarm, der mit einer schweren Blessur an der Schulter im heftigsten Wundfieber lag und von einer Ohnmacht in die andre fiel. Man brachte ihn ins Lazarett, wo er trotz der sorgsamsten Pflege, die ihm Marigny angedeihen ließ, nach einigen Tagen starb. Der arme Teufel wußte in lichten Augenblicken nicht genug die liebevolle Aufmerksamkeit zu rühmen, mit der sich unterwegs ein an der Hand verwundeter Kavalier seiner angenommen habe, und sagte kurz vor seinem Tode: Ich hatte das seltsame Glück, den beiden besten Menschen auf der ganzen Welt begegnet zu sein. Der eine ist der Artoisgardist, und der andre sind Sie, mein Herr. Möchte der gütige Himmel Sie beide zusammenführen und jeden von Ihnen mit der Freundschaft des andern belohnen!

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