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Neuntes Kapitel.

 

Phidias Amandus Blasedow.

 

»Amandus!« rief nun Blasedow seinem Sohn.

Dieser hatte gerade ein Stück seines Raubes rund genug geknetet, um es mit Behagen zu verschlucken, und wußte sich auch, um dabei unbemerkt zu bleiben, nicht anders zu helfen, als daß er seinem Vater zurief: »Ach, sieh', Vater!« Dabei zeigte er auf einen Fleck in die blaue Luft, der aber gar keiner war und am wenigsten ein Vogel. Blasedow sah hin und bemerkte nur eine fliegende Mücke ( mouche volante), einen Täuschungspunkt seiner schwachen Augen, der mit Blitzesschnelle wie ein Vogel aus der Luft herabfuhr, sich im Walde verlor und doch nichts war, als ein bloßer Blitzableiter des Donnerwetters, welches Amandus befürchtet und glücklich genug vermieden hatte. Als indeß Blasedow nur einen Vogel – und eigentlich nicht einmal diesen – gesehen hatte, begann er: »Amandus, wie viel Sinne hat der Mensch?«

Dieser nahm die seinigen zusammen und sagte: »Fünf!«

Blasedow dachte, daß die Redensart: er kann nicht fünf zählen, wahrscheinlich von den fünf Sinnen herrühre. Er dachte ferner: Hätt' ich fünf Söhne, so würd' ich sie nach den fünf Sinnen erziehen lassen. Jeder müßte einen besondern Sinn vorstellen, eine Kunst oder Wissenschaft, die gerade die vorzügliche Blüthe eines Sinnes wäre. Alle Brüder bildeten dann zusammen die höchste Potenz eines einzigen Menschen, sie würden sich wechselseitig in ihren Leistungen unterstützen können, wie ja die Sinne nicht selten unter einander ihre Thätigkeiten vertauschen. Blinde riechen die Farben. Taube sehen den Schall. Das Unglück der meisten Menschen kömmt daher, daß sie sich einbilden, sehend zu seyn, und auf Alles doch mit wahrhafter Blindheit losgehen. Wüßten sie ihre Blindheit, so würden sie suchen, ihren Verstand auf ein andres Organ zu stützen, wie Somnambüle, welchen ihr Verstand nicht mehr im Kopfe, ihn in die Gegend werfen, wo wir unsre Verdauungswerkzeuge haben.

Wir überraschen Blasedow bei diesen Gedanken auf einer Schwäche, die er sich selber nur nicht gestehen will. In dem großen dunkeln Abendhimmel von Hoffnungen, welcher ihm die Zukunftssonne seiner Söhne verhüllt, tastet er noch mit seiner Erziehungslaterne. Er fängt mit den fünf Sinnen an und hat alle Aehnlichkeit mit jenen Philosophen, die erst denken, indem sie streiten, mit jenen Schriftstellern, die erst Ideen haben, indem sie sie schon auf dem Papier entwickeln. Er hätte so gern aus seinen vier Söhnen fünf gemacht, wenn es nicht zu spät gewesen wäre. Er mußte das Theilungsprincip je nach den fünf Sinnen aufgeben, welches er so gern beibehalten hätte, weil er ganz für die Idee war, daß Einer in der Welt nicht mehr Alles tragen könne, daß die größte Universalität aus der größten Einseitigkeit erzielt werden müßte, wie schon die Gebrüder Müller aus Braunschweig bewiesen, welche ihre ganze Lebenslaufbahn nach den vier Saiten der Streichinstrumente eingerichtet haben und mit einander so groß geworden sind zum und durch Quartettspielen. Ja, Blasedow, obschon seinem Namen nach mehr für die Flöte und das Fagott bestimmt, war nur überhaupt kein hinlänglicher Musiker, oder es kümmerte ihn die moralische Erziehung nicht so sehr als die spirituelle; sonst würd' er sich gesagt haben: Aus deinen vier Kindern lasse wenigstens vier halbwege Musikanten werden, damit sie in ihrem Alter wissen, wie viel Verträglichkeit dazu gehört, um sein Leben lang seinen Onslow und Spohr zu spielen, nämlich vierfach. Und er würde nicht unrecht gethan haben, da sich vier Brüder leicht erzürnen (obschon nicht so leicht, wie vier Schwestern) und in ihrem Alter noch viel öfter. – Bedürfte jedoch einer des andern, wenigstens um alle Montage das zur zweiten Natur gewordene Quartett zu spielen, sie würden sich einander ertragen und vielen Dingen durch die von Colofonium schwitzenden Finger sehen. Blasedow war leider unmusikalischer, als sein Name. Hätte Paganini vier Söhne gehabt, er würde wahrscheinlich Jeden gelehrt haben, auf einer Saite zu spielen, so daß nach Art der russischen Hornmusiker, ihrer Vier für Einen gespielt hätten, was freilich weit weniger künstlich und angenehm ist, als wenn es einmal eine Geige auf ein ganzes Quartett ankommen ließe.

Mit solchen zerbrechlichen Rohrstielen von Ideen tappte Blasedow in der Zukunft seiner Kinder herum. Er betrachtete sie dabei wie vier Bälle zum Escamotiren. Er behandelte sie wie mathematische Größen, wo er seinen freien Willen hatte, bald mit vier Strichen einen Kreis, bald ein Viereck zu zeichnen, bald mit ihnen einen Satz aus der Stereometrie, bald aus der Trigonometrie zu beweisen. Die Ueberzeugung von einer organischen Gesetzgebung in dem kleinen Vernunftstaate eines jeden seiner Kinder, die Ueberzeugung von einer nothwendig zu respectirenden Grenze einer anderweitigen und wenn auch noch unmündigen Freiheit kannte er nicht. »Wohl dem,« sagte er, wie schon öfter, »welchen man nicht an eine volle Tafel setzt in seiner Jugend, wo er wählen kann hundert Dinge, von denen er nur nascht und sich verdirbt! Ach, bis zu welcher Vollkommenheit könnte es Jeder in seinem Fache bringen, wenn er von Jugend auf nur für eins bestimmt würde! Wer bei den Alten ein großer Mann werden wollte, zerdrückte schon in der Wiege Schlangen.« Und dann sprach er laut: »Wie viel ist vier Mal vier?«

»Sechzehn,« sagte Amandus.

»Keine organische Zahl,« beklagte sich Blasedow in der Stille. »Das Schicksal will sie trennen. Sie sollen jeder für sich stehen. Die Zahl vier ist in der Musik nur eine scheinbare Einigkeit und kömmt auf die heilige Sieben zurück: eine Aussicht, die bei meiner bösen Sieben nicht vorhanden ist. Aber vier Elemente gibt es und nach diesen vier Temperamente, auch viererlei Arten von Wahnsinn, nämlich Blödsinn, Narrheit, Wahnsinn, Tollheit. Blödsinn ist gleich dem Phlegma und der Erde. Narrheit ist gleich dem Sanguinismus und dem Feuer. Wahnsinn ist gleich der Melancholie und dem Wasser. Tollheit ist gleich dem Cholerismus und der öden, ganz leeren und unbewußten Luft.«

Jetzt hätte Blasedow auf Amandus schließen müssen; doch ward ihm selber angst, da er für jeden gescheidten Gedanken, den er jetzt etwa finden konnte, gleich einen entsprechenden Wahnsinn gefunden hätte. Er ward über die allzugroße Fruchtbarkeit seines Witzes so unmuthig, daß er sich recht freute, eine Gelegenheit zu haben, sich zu fassen. Er faßte aber Amandus, dessen fortwährende verstohlene Gebärden ihm mißfielen, und schlug ihm mit einem grünen verblaßten Regenschirm auf die Finger, die zwischen der Rocktasche und dem Munde eine für den Vater nachgerade unausstehliche Correspondenz unterhielten. Während Amandus wie ein scheues Pferd auf die Seite sprang und sich auf die Hinterfüße setzte und Blasedow: Oho! rief, gleichsam, als wollt' er ihn lehren Mienen machen, entdeckte dieser auch die plastische Masse, die Amandus bei sich trug, indem er seine Rocktasche untersuchte. Blasedow zitterte, aber nicht vor Wuth, sondern vor Freude; denn es schien sich ihm Alles bestätigen zu wollen, was er über die Anlage des Knaben zur Bildhauerei schon vorausgesetzt hatte. Er nahm das corpus delicti und knüpfte daran die unmittelbare Unterweisung, die er jetzt dem Genius seines Kindes schuldig zu seyn glaubte. »Daß du von Jugend auf in deinem Fach erzogen werdest,« begann er, »ist für dich wichtiger, als für Andre. Komm' her und halte dich still, Amandus! der Bildhauer bedarf mehr, als jeder andre Künstler, von Jugend auf einer Gewöhnung an plastische Anschauungen. Das Todte soll dein Aug' erwecken und das Lebende tödten. Nur in dieser Mitte hält sich die Aufgabe deiner Kunst. Alle deine Statuen und Gruppen, Amandus, sollen lebendige Erinnerungen seyn, aber vom Tode. Der rechte Künstler der Unsterblichkeit bist du; du gibst uns die Vernichtung und die Ewigkeit des Menschen, du gibst uns jenen geheimnißvollen Schlummer, der nach dem Tode in den Menschenaugen walten würde, wenn diese irdische Hülle ihnen bliebe. Dein Meißel rettet das fleischliche Kleid der Schöpfung nicht, um dem Gesetz der Zerstörung zu trotzen, sondern, weil er keine andere Hülle hat, um die Unsterblichkeit einzuschließen. Die Ewigkeit aber schlummert in den Gebilden deiner Kunst.«

Hier war Blasedow von den begeisterten Begriffen übermannt, die er mit Allem, was nicht seine eigene verfehlte Laufbahn war, verknüpfte. Er setzte sich in das Korn hinein, nicht achtend einiger hundert Aehren, die er zerdrücken würde. Amandus drückte er dagegen an sein Herz. Die vollen Hoffnungs-Aehren schwankten über ihren Häuptern. Ceres, die geheimnißvolle, so vieler Metamorphosen fähige Göttin, flüsterte ihren Segen zu dem Opfer, welches hier in ihrem Schoße den alten Göttern und Altären gebracht wurde. Blasedow sprach weiter zu Amandus: »Ach, mein Sohn, an welche Welt pochst du mit deinem Knabenfinger! Deine Sinne werden schwindeln, wenn die Pforten aufrauschen, und du in dem luftigen Tempel idealischer Schönheit wandeln wirst. Alles, was du siehst, weiß dein Auge mit schneller Herrschaft abzugrenzen. Die Gewänder, welche die blühenden Formen der Schönheit verhüllen, nimmst du mit einer Hand ab, die nicht frevelt. Frei ist deine Phantasie von den bleiernen Gedanken, welche die Menschen niederbeugen und ihren Rücken krümmen; du wischest jenen Ernst von ihrer Stirn, den prosaische Rücksichten darüber gehaucht haben; du wählst unter Tausenden, und die, welche du verwirfst, kannst du sofort entadelte Menschen nennen, da du ja wahrlich auch die Leidenschaft, den Schmerz und den Leichtsinn verstehst, aber nicht einen Zug jener Leidenschaft, die sich mit matten und gesenkten Augenliedern in die Nähe mürrischer Gedanken thierisch kauert. Ach, mein Sohn, das wahrhaft Menschliche wirst du überall entdecken, wenn du dem Göttlichen nachforschest. Alles, was du höhern Ursprungs finden wirst, wird auch eine Blüthe der Humanität seyn. Denke dir deinen Gott, finster zürnend, denk' ihn dir, holdselig lächelnd: immer wird dein eigenes Antlitz die Spuren deiner Phantasie tragen, und aus deinen Augen wird das Ideal sich zaubervoll in andere hinüberspiegeln. Wirst du einen Laut der Marktsprache des Lebens verstehen? Sie werden dich zu ihren Spielen einladen, zu Spielen in dumpfen Zimmern, an Tischen, auf Sesseln, wo sie sich bücken und lauschen, daß Keiner des Andern Hoffnung ihm aus den Karten sehe; sie werden dich rufen zu ihren Festen, Festen in Sälen, die nur deßhalb geräumig sind, damit sie die Monotonie ihrer Tänze im Kreise hundertfach wiederholen; sie werden dich rufen zu ihren Göttern, zu Göttern in qualmenden Wänden, ohne Zulaß der freien Himmelsbläue; du wirst ihre Lockung nicht verstehen, du wirst ein Schatten unter ihnen wandeln, gedrückt, gestoßen von ihrem Lärm, du wirst um Hülfe rufen für die weinende, verschmachtende Psyche deiner Seele, du wirst fliehen, weit, weit an das Ufer des Meeres, auf die höchsten Felsengipfel, wirst die Hülle deiner civilisirten Zeit von dir werfen und mit einem Gruße an die silberfüßige Mutter Thetis wie Achilles in die Wellen springen. Du missest die Tiefe des Meeres, du tauchst empor und schüttelst die Fluth aus deinem lockigen Haar. Dein Arm rudert dich durch das schwankende Element, die Brust ist wohlig angespült von den Wellen, die deine kreisende Bewegung erzeugt, aus tiefstem Sitze der Lungen athmest du seelenvolle, schwellende Gesundheit auf; dein nackter Rücken glänzt auf der Fluth, wie die Flossen der Fische im Sonnenschein; der Schiffer, der vorüberfährt, weidet sich, an den Mast gelehnt, an deinem kecken Streite mit der trotzenden, aber leicht überwundenen Natur. Ach, mein Sohn, ich bin ein Krüppel, ich gehöre dem Zeitalter des Flanells an – was kannst, wirst und sollst du muthig in die Welt blicken!«

Daß Blasedow etwas verstimmt von seinem Aehrensitze aufstand, lag nicht so sehr darin, weil Amandus sagte: »Wir haben ja kein Wasser hier.« Denn Blasedow entgegnete, man könne auch in dem Waldbache, an welchem sie bald seyn mußten, schwimmen lernen. Das aber verletzte ihn, daß nun Amandus sagte, die Mutter litt' es nicht, weil Blutigel in dem Wasser wären, und er thät' es auch nicht um hunderttausend Thaler. Nicht die Blutigel saugten an seinem Blute, sondern der kaufmännische Vergleich machte ihn wund, die spanische Fliege der Geldkrämerei, von der er jetzt stillschweigend zu sich selber sagte: »Sie wird den Kindern schon von frühster Jugend hinter's Ohr gesetzt und muß ihnen die Wasserblasen eitler Hoffnungen ziehen. Hunderttausend Thaler! Ach, wenn die Jugend doch die Dinge früher kennen lernte, als den Preis, um den sie zu haben sind. Wenn ihr doch Alles gehörte, was sie verlangte, und nicht auf jedem Zettelchen, das neben den Blumen des Lebens steht, auch gleich der Haarlemer Zwiebelcours vermerkt wäre? O Menschen, versagt doch euren Kindern weniger, als euch selbst! Gebt ihnen mehr, als ihr euch selber erlaubt, oder laßt sie wenigstens nicht verstohlen zur Seite blicken mit leerem Munde, während ihr den eurigen stopft! Eine Erziehung, die auf Entbehrungen gegründet ist, war in Sparta möglich, wo die Eltern dieselbe bittre Suppe aßen, wie die Kinder. Bei uns aber macht sie die Jugend nur lüstern und bereitet die Verschwendung des Alters vor. Denn wer rächte seine jungen Tage nicht an seinem Alter? Wenn Kinder nur mit dem Gelde spielten, so würden sie nicht als Männer damit spielen! Legt man ihnen gar einen vorläufigen Schuldentilgungsfonds in Sparbüchsen an, so werden sie nicht nur niemals welche machen, was freilich immer die beste Bezahlung der Gläubiger ist, sondern sogar Geizhälse werden. Wer schon früh lernt, aus wie viel Kreuzern der Gulden besteht, wird auch für seinen Ehrgeiz und seine Verdienste sich gewöhnen statt mit Kronen, lieber mit Kronenthalern sich belohnt zu sehen.«

Inzwischen war es so heiß, daß Amandus gern in den nahen Wald gegangen wäre. Allein Blasedow verweigerte es, weniger der Blutigel wegen, als aus folgender Erklärung: »Dem Dichter, dem Maler gönn' ich gern den stillsäuselnden Waldfrieden,« sagt' er. »Dir nicht, Amandus: auch Phidias war lieber auf freiem Felde, als im Walde. Die Nymphe, die Dryade werden von Dichtern besser geschildert, als von bildenden Künstlern, da sie Geheimnisse sind. Pan, der große Pan ist der Inbegriff jener Naturmystik, die nach dem Verlauf der Kunstgeschichte mit dem Flor der Malerei enden mußte. Dein Tempel ist frei und luftig; du mußt Raum haben, dich auszudehnen. Des Bildners Religion ist der Mensch, er hat selbst Gott in Menschen verwandelt, er hat nicht den Beruf, jene Vorstellungen, wie der Volksaberglaube die Gottheit sich denkt, wiederzugeben. Der Dichter malt den Göttern Flügel, er folgt den Eingebungen seiner Phantasie, die nicht die erhaltende Geisteskraft, sondern die zerstörende und schaffende ist. In lyrischer Aufeinanderfolge jagen sich bei ihm die Attribute. Was weiß er nicht alles vom Bacchus zu erzählen! Wie viel Widersprechendes liegt in dem Mythus dieses Gottes; nur bei dem Bildhauer ist Bacchus stets derselbe Götterjüngling, der aus Indien kam und einen gewissen seelenvollen Ausdruck in seinem Wesen hat, der uns so auffallend scheint, weil uns im Wein ein anderes Träumen liegt, als das Träumen dieses Götterknaben. Das Träumen des Bacchus, mein Kind, ist das Sinnen über seinen Ursprung, das Sinnen nach Indien hin; Bacchus ist fremd unter uns, wie auch der Wein, im Glase perlend, das stille Sinnen zu enthalten scheint über die wunderbare Metamorphose, die ihn von der Rebe bis in diesen Kreis fröhlicher Menschen brachte, die das Wunder dadurch zu ehren glauben, daß sie es in vollen Zügen schlürfen und, statt es geheimnißvoll zu kosten, sich damit berauschen. Bacchus ist der einzige Gott des Alterthums, dessen Gedanke auch von einem Dichter ausgegangen seyn könnte, der einzige Gott waldigen Ursprunges, während alle übrige vom Felde sind, vom Sonnenschein, von der freien Luft. Es gibt keine Plastik ohne Fernsichten. Die menschliche Gestalt, von dir wiedergegeben, bedarf keiner Draperie. Sie würde dann auch nur unbeholfen seyn. Du sollst nur herumgehen um das Schöne. Der Maler braucht nur Beleuchtung, braucht nur eine Seite. Großer Gott, weil wir in unserm Jahrhundert zwar Manches haben, das schön ist von zwei Seiten, aber krumm, lahm, blind oder sonst mangelhaft auf der dritten, so hat unsre jetzige Bildhauerei auch ihre Zuflucht nehmen müssen zur Draperie. Sie hat von der Malerei den Faltenwurf gestohlen. Mein gutes Kind, hier sind wir an einer übeln Stelle angekommen.«

Amandus verstand diese Bemerkung von einem Graben, vor dem sie standen, und meinte, daß er schon hinüberspringen wolle, wenn nur Blasedow zuerst ginge und ihn dann drüben auffangen wolle. Dieser aber sagte: »Wir wollen nach Hause gehen. Wir können ja dabei doch an diesem Ufer bleiben.« Er sagte das mit Wehmuth: denn das Meiste, was er sagte, verstand er wohl, verstand Amandus nicht; doch hindert das nicht, dachte er: von diesen meinen Vorträgen muß doch etwas in ihm zurückbleiben, je öfter ich sie wiederhole. Er wiederholte aber gerade das Vorige nicht, sondern fuhr fort: »Und der Faltenwurf ist es nicht bloß, sondern ganz falsche Anschauungen schleichen sich in die Bildhauerei ein. Der christliche Heiligenschein, mit welchem man die Malerei umgeben hat, ist auch über die Plastik gezogen worden. Gott, ich lass' euch euren Gott! Du aber, Amandus, wirst um so christlicher und künstlerischer seyn, je mehr du die Weisung befolgst: Du sollst dir kein Bild von mir machen! Man hat nun Jesus auch neben den vaticanischen Apollo stellen wollen, einen marmornen Jesus, eine Gestalt, so verkörpert, so menschlich trotz ihrer Erhabenheit, einen Jesus, der seine zweite Natur nicht in sich trägt. Dem Gläubigen ist Jesus ein Hauch, ein Kleidessaum, den er im Vorübergehen berührt und davon gesund wird. Die Halbheit der Malerei konnte allein die Heerschaaren, die Fürsten und die Engel des christlichen Himmels wiedergeben, weil sie durch die meisterhafte Abrundung ihrer Unvollkommenheit am ehesten die Ahnung eines neuen andern Lebens weckt. Aber die hohe Vollkommenheit der Plastik weckt nur die Ahnung des allgemeinen, abgeschlossenen Menschenschicksals: denn der plastische Künstler bewahrt eben seine Gestalten vor diesem Schicksal. Christus aus Marmor, der Christus des Thorwaldsen, ist nicht mehr der Heiland der Welt, sondern der Rabbi von Nazareth. Nur das Antlitz des Herrn, gerade so, wie es abgedruckt ist im Schweißtuch der heiligen Veronica, interessirt den Gläubigen; alles Uebrige an seiner Gestalt ist nur Erweckung menschlicher Vorstellungen. Der Maler legt allen Ausdruck in das Antlitz, die Gewänder fluthen anmuthig, eben, ohne herausgeforderte Beurtheilung hinunter. Da aber mußt du, als Bildhauer, nichts übersehen, du mußt Jesum ganz menschlich fassen, und du bist der größte Skeptiker an seinem himmlischen Theil, wenn du ihn allen Ansprüchen gerecht machst. Wer möchte Maria, wer möchte einen Engel des Himmels im Marmor ausdrücken? Gerade der mystische Enthusiasmus erzeugt hier etwas Heidnisches. Du brauchst deßhalb, Amandus, nicht zu erschrecken. Ja, du sollst Heide seyn in deiner Kunst, du sollst deine Religion darin finden, daß du in Gott die menschlichen Verwandschaften aufsuchst. Suche überall den Charakter nur in seinem einfachsten Ausdrucke! Werde kein Affe der Schöpfung, sondern ahme nur ihren höchsten Gebilden nach und schaffe das, was sie vergessen hat! Schmiege dich an dein Zeitalter an, aber hänge Alles, was es dir bietet, erst Tage lang in die freie Luft: denn ohne vorhergegangenes rein künstlerisches Nachschaffen der Schöpfungen unsrer Zeit, ohne Umgestaltungen und Vereinfachungen kannst du nichts von deinem Jahrhundert brauchen. Die Religion ist dir verschlossen: so halte dich an große Thaten und Charaktere, halte dich an die Geschichte und die Ideen. Wir stehen in den Präludien großer Ereignisse; ein erhabenes Lied spannt sich auf die Saiten der Zeitharfe. Laß den Maler bei dem Drama, du, Amandus, folge dem Epiker: denn Heldensänger werden auferstehen in der Heldenzeit. Die Tage einer neuen Iliade brechen an. In meinem Haupte liegen sie, wie in den Alpen schon die Marmorstatuen, mit denen du sie verherrlichen wirst. Phidias, mein Sohn, schuf Götter, die zu Menschen wurden. Du wirst glücklicher seyn, denn deine Menschen wirst du zu Göttern machen!«

Blasedow hatte diese letzten Worte gesprochen mit gen Himmel gewandten Augen. Er bemerkte erst spät, daß er nicht früh genug geschlossen hatte: denn Amandus war auf einem kürzern Wege in die Pfarrwohnung (im Dorfe waren sie längst) geeilt. Blasedow hatte den größten Theil seiner Betrachtungen nicht bloß in den Wind, sondern auch in die Luft gesprochen. Zufällig Anwesende mußten ihn für abwesend halten. Als er dieselbe Entdeckung machte, war er zu hoch in den Wolken, als daß er sich geärgert hätte. Es gibt Regionen, wo man weder von der anspritzenden fremden Galle, noch von seiner eigenen berührt wird. Blasedow befand sich ganz in der Stimmung, wo Christus sich für einen Backenstreich dadurch rächte, daß er noch die andere Wange hinreichte. Er zog, riesengroß und majestätisch, wie die Sonne, durch die Stiere, Widder und Steinböcke des Thierkreises um Kleinbethlehem. Ihm war wohl und selig, und er seufzte tief auf aus seiner klopfenden, eine schönre Zukunft glaubenden Brust.



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