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Dreizehntes Kapitel. Ein Almosen

Es war ein herrlicher Tag, und Agnes' Herz schlug in hellem Jubel, als sie die Landstraße nach Sankt Sergius erreicht hatte; Sonnenschein und Freiheit lachten der jungen Ausreißerin herzerfreulich entgegen. Es war ihr zu Mute, als ob sie einem finstern Kerker entronnen sei, in dem sie endlos lang ... Jahre ohne Sonne, Mond und Sterne und ohne ein freundlich Menschenantlitz geschmachtet habe.

»Und eigentlich sind die ehrenwerten Markofs doch auch keine Affen,« lachte sie vor sich hin, »wer weiß, Affen wären vielleicht angenehmer gewesen. O ... o ... o Mittia!« ahmte sie ihren unglücklichen Liebhaber seufzend nach.

An solch sonnigem kühlen Herbsttag schlägt man mit jungen Beinen und einem fröhlichen Herzen leicht ein allzu rasches Tempo an, und schon nach einer Viertelstunde mußte unsre übermütige Reisende erkennen, daß sie müde wurde. Sie war so vogelleicht dahingeflogen, daß sie den Weg nach Sankt Sergius höchstens auf zwei Stunden geschätzt hatte, allein gar zu bald sah sie sich genötigt, innezuhalten und sich am Rand der Straße auf einen Steinhaufen niederzulassen, um auszuruhen. Sie überlegte nun, daß sie, selbst wenn sie fünf Werst in der Stunde machte, und weiter reichte ihr Schnellläufertalent keinenfalls, vier bis fünf Stunden zu gehen habe.

Das war minder erfreulich, trotz der dadurch erkauften Freiheit. Etwas entmutigt machte sie sich wieder auf den Weg, diesmal in einem gemesseneren, ruhigeren Schritt, was auch aus ihr Denken und Träumen einen etwas ernüchternden Einfluß hatte.

Wohl war es herrlich, die Sklavenketten abgeschüttelt zu haben, aber auf den Tag der Befreiung folgt ein Morgen, beim einzelnen wie bei den Völkern, und nun gilt's zu zeigen, ob man die Freiheit zu nützen weiß, und ob man die Folgen des Losreißens weise bedacht.

Für Agnes war die sich zunächst ergebende Folge eine Reise zu ihrer Tante Murief, die zweifelsohne noch auf ihrem Besitztum in Czarskoe-Selo war; demnach mußte sie nach Petersburg, und in Petersburg ... im Hotel übernachten?

»Nimmermehr!« rief sie ganz laut, als diese Notwendigkeit ihr in Sinn kam. »Das kann ich nicht! Die Insekten sind zu gräßlich!«

Vergebens suchte sie sich selbst Vernunft einzureden und sich klar zu machen, daß nicht in jedem Hotel solch angenehme Verhältnisse vorhanden sind; ihr Widerwille war unbesiegbar.

»Lieber bringe ich die Nacht im Eisenbahnwagen zu!«

Wie viel schlimme unruhige Nächte die Freiheit ihr schon gebracht, ward ihr dabei plötzlich klar, und unwillkürlich stand das trauliche Nest vor ihrer Seele, in dem sie von außen und innen geborgen gewesen war.

»O Mama! Schwesterchen! Kola!« dachte sie, »ach endlich werde ich euch doch wiedersehen! Ach, ihr Lieben, ist's denn wahr, daß man sein Glück verlieren muß, um es zu schätzen!«

Im Weitergehen fiel ihr dann ein, daß sie diese nicht ganz neu entdeckte Wahrheit tausendmal gehört und gelesen hatte, und daß sie dieselbe wie so manche andre mit einer gewissen Geringschätzung von sich gewiesen; ist's doch der Jugend Art, fertige Wahrheiten und gemachte Erfahrungen zu mißachten und nur dem an sich selbst Erprobten zu glauben! »Wenn das wirklich so ist, so weiß ich eben noch immer nichts vom Leben, so hab' ich noch viel zu lernen ... ach, das wird lang, lang dauern! Was für ein anmaßendes, thörichtes Geschöpf ich doch gewesen!«

Wie sie Schritt um Schritt machte, wie sich Gedanke an Gedanken reihte, so ging auch die Sonne unaufhaltsam ihren Weg; ein Werstzeichen folgte dem andern, und, es kann nicht verschwiegen werden ... die arme junge Heldin hatte furchtbar Hunger! Die Seelenthätigkeit konnte der des Magens nicht Einhalt gebieten!

Bis jetzt war die Straße vollkommen einsam und verlassen gewesen. Zu beiden Seiten standen herrliche, schweigende Wälder, in denen das üppige Grün der Moose und Farren auf außerordentliche Feuchtigkeit deutete, die ja dem Wald sicherlich zu statten kam, aber jede Möglichkeit an ein Suchen von wilden Beeren ausschloß, abgesehen davon, daß diese in der Jahreszeit nicht häufig.

»Das fängt an ungemütlich zu werden!« dachte Agnes. »Man kann also Hunger und Geld haben, und doch nicht im stande sein, sich etwas zu verschaffen? Der reinste Schiffbruch auf dem Boden der Civilisation!«

Nach langem, langem Marsch, es mochte dem Stand der Sonne nach halb vier Uhr sein, kam endlich ein kleines Dorf in Sicht. Mit dem harmlosen Vertrauen, das ihr durch den Verkehr mit den Bauern auf ihrem Gute, die sie alle kannte, und die alle sie liebten und verehrten, eigen war, trat Agnes in das erste beste Häuschen und verlangte Brot und Milch, wofür sie eine Bezahlung anbot.

»Wir haben keine Wirtschaft,« sagte eine alte, mürrische Bäuerin in grobem Ton, »und wir verkaufen unsre Milch nicht.«

»Dann bitte ich, daß Ihr mir sie umsonst gebt,« sagte das junge Mädchen freundlich. »Ich will auch für Euch beten.«

Wo war denn die stolze, selbstbewußte Agnes von ehedem hingekommen? In den wenigen Tagen hatte sie gelernt, daß man es mit ein bißchen Gutmütigkeit und Humor viel weiter bringt im Leben, als mit allem Patzigthun und hochfahrenden Mienen.

»Du gehst nach Sankt Sergius?« fragte die alte Frau schon milder gestimmt.

»Ja, zu Fuß, und ich habe entsetzlich Hunger.«

»Warum hast du denn das nicht gleich gesagt? Setz dich, mein Töchterchen, du sollst was zu essen und zu trinken haben.«

Ein großer Laib Schwarzbrot, ein Teller mit Wabenhonig und ein Topf Milch standen alsbald vor dem jungen Mädchen, die mit ihren gesunden Zähnen kräftig einbiß, und der Mahlzeit alle Ehre anthat. Die Alte stand dabei und beobachtete den jugendlichen Appetit mit sichtlichem Vergnügen, sie hatte wohl auch mehr als einmal im Leben tüchtig Hunger gehabt und wußte, wie wohl dem Menschen nicht nur leiblich, sondern auch im Herzen freundlich erwiesene und empfangene Gastfreundschaft thut.

Als Agnes zu essen aufhörte, fragte die Frau: »Magst du nicht noch mehr? Greif nur tüchtig zu. Wir sind nicht reich, aber auch nicht arm, und ein Stückchen Brot können wir, Gott sei Dank, alleweil den Pilgersleuten bieten, die des Wegs ziehen. Sie beten dann für uns, und das kommt uns zu gute.«

»Danke dir, Mütterchen,« erwiderte Agnes. »Ich bin jetzt satt und werde deine Gastfreundschaft mein Lebtag nicht vergessen. Was kann ich dir zuliebe thun?«

»Wenn du willst, könntest du wohl ein ganz kleines Kerzchen für mich aufstecken vor dem wunderthätigen Bild unsrer lieben Frau im Kloster. Aber nur ein ganz kleines, hörst du wohl? So eins für drei Kopeken. Was du da genossen hast, ist ja nicht so viel wert, aber ich möchte ihr schon solange gern eine Kerze bringen, und seit zehn Jahren habe ich nicht mehr nach Sankt Sergius gehen können.«

»Das werde ich sicherlich thun. Aber weshalb kannst du denn nicht hingehen? Es ist ja gar nicht weit.«

»Ach, Kind, wo soll denn unsereins die Zeit hernehmen! Da ist man das ganze Jahr nur froh, wenn man fertig wird; bald kommt eins auf die Welt, bald stirbt eins; ich habe drei Töchter und zwei Buben, die sind alle verheiratet und haben einen Haufen Kinder: und dann habe ich schon fünf Jahre meinen Mann auf dem Ofen.«

Agnes sah sich erstaunt um und entdeckte mm erst im Halbdunkel der niederen Stube, daß hinten auf dem Ofen ein Greis mit weißem Bart lag, ganz in warme Decken eingehüllt.

»Verzeih mir, Väterchen, ich habe dich gar nicht gesehen,« sagte sie, zu ihm hintretend, »hast du Schmerzen?«

»Nein, Schmerzen habe ich nicht, kleine Schönheit,« erwiderte der lahme Mann, sie mit Wohlgefallen betrachtend. »Die alten Beine wollen mich nicht mehr tragen, und so bleib' ich eben, wo ich bin; im Sommer legen Sie mich hinaus auf die Straße, da kann ich mich in Gottes lieber Sonne wärmen, aber wenn's kühl wird, ist's damit vorbei. Der Herr hat mir aber ein gutes Weib und brave Kinder gegeben, die mir nichts abgehen lassen, und so bin ich wohl zufrieden und guten Mutes.«

»Du bist zufrieden?« fragte Agnes mit einer Art von frommer Scheu.

»Ja, gewiß! Warum sollt' ich's denn nicht sein? Man sorgt für mich, ich habe gesunde Augen und Ohren, und von Zeit zu Zeit gibt's irgend ein unverhofftes Vergnügen.«

»Ein Vergnügen?«

»Nun ja; da kommt einmal ein Hausierer vorbei mit seinem bunten Kram, oder Wallfahrer, die schöne Lieder singen und allerlei, erzählen. Heut bist du gekommen, kleine Schönheit. Dich ansehen, thut einem wohl, und ich werde noch lange lachen, wenn ich dran denke, wie dir vorhin dein Brot geschmeckt hat.«

Das junge Mädchen war sehr nachdenklich geworden. Sie legte freundlich ihre Hand in die des Alten, der sie lächelnd ansah.

»Väterchen,« sagte sie, »ich danke dir für deine Gastfreundschaft: du hast mir mehr Gutes erwiesen, als du weißt. Ich werde den lieben Gott bitten, daß er dir recht viele solcher Freuden schickt. Und dir, Mütterchen, werde ich deinen Wunsch erfüllen und der Mutter Gottes eine Kerze bringen.«

»Aber nur eine ganz kleine, um drei Kopeken.«

»Ja wohl, eine kleine. Und dabei werde ich für die Wiederherstellung deines Mannes beten.«

»Wiederherstellung? Ach, an so was denkt ja keiner! Nur daß es nicht schlimmer kommt, darum laß ich unsre liebe Frau bitten.«

Agnes sagte nun lebewohl; die gute Frau führte sie hinaus. Auf der Schwelle stand sie noch einmal still. »Wie froh bin ich, daß ich zu euch gekommen bin, Mutter; du hast mir leibliche Stärkung gegeben, und dein Mann geistige. Gottes Segen über euer Haus!«

»Der Herr sei mit dir!« erwiderte die Bauersfrau herzlich. »Nun laß dir aber auch noch einen guten Rat geben, Töchterchen: Sprich nicht von Bezahlen, wenn du zu guten Leuten kommst, hörst du, das kränkt! Man gibt ja gern, aber wenn eins von Geld redet, das verdirbt einem die Freude.«

»Du hast ganz recht – ich werde deine Lehre nie vergessen! Leb wohl!«

Mit frischer Kraft zog sie nun ihres Weges. Eine wunderbar feierliche Empfindung war ihr geblieben; ihr war, als ob sie durch eine Kirche dahinschritte. Die fromme Ergebenheit des Bauersmanns, die schlichte Herzlichkeit der alten Frau waren ihr tief zu Herzen gegangen: das ihr so einfach gebotene Almosen eines Brotes schien ihr wie eine heilige Gemeinschaft mit diesen geistlich Armen.

»Sich mit wenigem, mit so wenigem zu begnügen wissen! O wie hab' ich euch lieb, ihr, meine Brüder im Herrn!« flüsterte das junge Mädchen feuchten Auges.

Der Tag neigte sich, Agnes war immer noch unterwegs. Bald verschwand die Sonne hinter einem Birkenwäldchen, das einen Hügel zur Rechten krönte; zwischen den lichten Zweigen, die großenteils schon entblättert waren, sah sie den Himmel sich purpurn färben, dann die Glut lichter und lichter werden. Die Glockentürme von Sankt Sergius kamen endlich in Sicht, als ihre Augen schon anfingen müde zu werden, und der scharfe Nebel sie übergehen machte.

Sie war zu Tod erschöpft; dem Umsinken nah, stand sie manchmal einen Augenblick still, um Atem zu schöpfen. Wenn die Nacht hereinbräche, ehe sie die Stadt erreicht? Zu Haus, in ihren eignen Wäldern hatte sie keine Furcht gekannt, allein hier, was konnte da nicht alles geschehen und ihr begegnen?

Schritt um Schritt machte sie, und sagte sich unaufhörlich, daß jedes Ding seine Last und seine Mühsal hat, daß auch auf dem Weg zur Freiheit manch ein Stein liegt, und daß es mit dem bloßen Wollen nicht gethan ist. Ach, trotz aller Willenskraft, trotz aller guten Vorsätze viel Hemmnisse und Hinterhalte! – Ach, dieser allezeit kräftige Wille konnte ja nicht einmal den Schmerzen ihrer vom langen Weg brennenden Fußsohlen Einhalt gebieten.

Die Färbung des Himmels war vom Purpur in Lichtgelb, vom Lichtgelb ins Grünliche übergegangen, die Wälder erschienen schon als undurchdringlich schwarze Schattenmassen, in denen sich seine einzelnen Bäume mehr unterscheiden ließen – und Agnes mußte immer noch weiter gehen.

Die Glocken von Sankt Sergius ließen ihren mächtigen Ruf durch den schweigenden Abend erklingen.

»Sieh,« sagte sie, »wir sind die Ruhe, das Ziel, wir weisen dem müden Wanderer, wo er ruhen und beten mag. Wenn du den Turm erreicht hast, von dessen Höhe wir unsre Stimme ertönen lassen, dann bist du geborgen.«

Der letzte Glockenton erstarb, und Agnes fühlte sich nur um so einsamer. Einen Augenblick dachte sie daran, sich einfach seitwärts von der Straße niederzulegen. Eine Nacht unter freiem Himmel schreckte sie weniger als die Gasthäuser, die sie so wie so offenbar nicht erreichen konnte. Sie erinnerte sich, in wie manchem Roman und Wanderbuch eine Nacht im »Hotel zum Abendstern« mit großem Humor geschildert wurde!

Allein es war kalt, und Agnes war so wohl erzogen, so streng im Punkte des Anstands, daß ihr alles Vagabundentum widerstrebte. Eine Kirche – das ginge noch an, aber an der Landstraße!

Und dann – welchen Begegnungen wäre sie nicht ausgesetzt gewesen! Sie machte sich also von neuem auf den Weg, mit schleppendem Schritte, müde, traurig, gebrochenen Mutes.

Endlich, endlich hatte sie die ersten Häuser der Stadt erreicht. Wie der Soldat auf dem Marsch, richtete sie sich strammer auf, schob Hut und Mantel zurecht und gelangte mit ruhiger Miene und in bester Haltung auf den Platz vor dem Kloster. Derselbe war ziemlich menschenleer, der Zug von Moskau war vor kurzem eingetroffen, und jedermann ging seinen Geschäften nach oder eilte nach Hause. Agnes hatte im Sinn, einen Wagen zu nehmen nach dem Bahnhof, da sie sich unfähig fühlte, auch nur noch einen Schritt weiter zu gehen.

Sie trat auf den Droschkenstand zu und war im Begriff einen Kutscher anzurufen, als sie einen hochgewachsenen Mann mit etwas gewölbten Schultern erblickte, der wegen eines Wagens unterhandelte.

Sie unterschied deutlich seine Stimme, die ernst, ein wenig traurig klang – ach, in diesem wohlbekannten Klang lag ja alles, was sie verlassen, Heimat, Glück – und Liebe ...

»Ermil!« jauchzte sie, beide Arme ausbreitend.

Reisetäschchen und Regenschirm lagen an der Erde, und Agnes schmiegte sich schluchzend an die Brust des »ewig aus ihren Augen« Verbannten.

»Ich wollte Sie holen,« sagte der junge Mann einfach und selbstverständlich, nachdem der erste Moment der Bestürzung vorüber und er ihre ganze Habe vom Boden auflas. »Was ist Ihnen lieber, die Nacht hier bleiben, oder sofort nach Moskau fahren?«

»Sofort abreisen!« flüsterte Agnes, sich hilflos an seinen Arm klammernd.

»In einer Stunde geht ein Zug. Dann fahren wir gleich zur Bahn ...«

»Nein, erst habe ich hier eine Pflicht zu erfüllen.«

Sie trat in die Kirche, wo eben die Vesper gesungen wurde, Ermil folgte ihr. An der Thür kaufte sie ein Kerzchen um drei Kopeken und steckte es eigenhändig vor dem wunderthätigen Bild auf.

»Agnes – Sie – und derlei Aberglauben?« fragte Ermil erstaunt, als sie wieder auf dem Platz vor der Kirche standen.

»Nein: es galt ein Versprechen zu erfüllen. Ich erzähle es Ihnen später.«

Bald saßen sie im Zug nach Moskau. Schweigend sahen sie einander an und lächelten sich wortlos zu; sie hatten kein Bedürfnis zu sprechen, es war zu viel, was sie sich zu sagen hatten, und sie wußten ja, daß es ihnen nicht an Zeit mangelte. Eine Stunde später fuhren sie durch Moskau. Um zehn Uhr waren sie im Nachtschnellzug, welcher der Heimat zueilte.

Sie waren allein im Coupé, das durchwärmt und wohl erleuchtet war; Agnes sorglich hingebettet, um ihren geschwollenen Füßchen Ruhe zu gönnen. Mit Wehmut sah Ermil sie an und sagte lächelnd: »Wie blaß und schwach Sie geworden sind.«

»Das kommt von dem kalten Braten,« hauchte sie mit schwacher Stimme: sie war furchtbar erschöpft.

Ohne sich weiter über diese seltsame Antwort zu verwundern, fuhr Ermil ernst fort: »Agnes, ich bin Ihnen noch einmal ungehorsam gewesen; aber seien Sie ohne Sorge, sobald ich Sie bei den Ihrigen geborgen weiß, werde ich mich zurückzuziehen wissen ...«

»Ermil, werden Sie mir je verzeihen können?« fragte Agnes, ihm ihre schmale, ein wenig fiebrische Hand hinstreckend.

»Ich dir verzeihen! Ach Geliebte! ...«

Und auf die Gefahr hin, von ihr ausgelacht zu werden, sank er im Eisenbahnwagen auf die Kniee und bedeckte das durchsichtige, heiße Händchen mit Küssen.

Noch ehe am nächsten Tag die Sonne hinter den Wäldern verschwand, betrat Agnes ihr Elternhaus wieder. Ein Telegramm von Ermil hatte die Ihrigen auf ihre Ankunft vorbereitet, und nun harrten sie ihrer, das Herz voll banger Sorge und Liebe. Depeschen sagen bekümmerten Menschen immer zu viel oder zu wenig, und Dosias Angst, ihr Kind verbittert und verhärtet durch schwere Erfahrungen heimkehren zu sehen, war namenlos.

Endlich hörte man den nach der Bahnstation entsandten Wagen. Dosia wollte ihm entgegenfliegen, aber ihr Gatte hielt sie zurück.

»Mein liebes Weib,« sagte er ernst, »das verlorene Kind kehrt uns wieder, allein wir dürfen nicht vergessen, daß sie gesündigt hat im Himmel und vor uns. Vielleicht hängt all ihr Lebensglück, ihre ganze weitere Entwickelung von dem ersten Wort ab, das sie aussprechen wird, wenn sie über diese Schwelle tritt ...«

Die Thür ging auf, Agnes trat herein, schweigend erwarteten sie Vater und Mutter. Sie nahm sich nicht Zeit, in ihren Mienen zu lesen, sie flog auf sie zu und stürzte vor der Mutter auf die Kniee. Dosia fing sie in ihren Armen auf und wußte nun, daß es auch hienieden Himmelsfreuden gibt.

»Nun, mein Kind,« fragte der Vater mit gerührtem Lächeln, »hast du die Früchte vom Baum der Erkenntnis gekostet?«

»Sie sind sehr, sehr bitter, Papa; allein ich habe wenigstens durch sie gelernt, daß all meine Klugheit eitel Thorheit gewesen ist.«

Nachdem Wera und Kola das Schwesterchen geküßt und geherzt hatten, und das arme beraubte Fräulein Titof Agnes demütige Entschuldigungsrede mit dem allerherzlichsten Willkommen abgeschnitten hatte, wandte Herr Surof sich an Ermil mit der Frage, wie es ihm denn gelungen sei, des Flüchtlings habhaft zu werden?

»Das war höchst einfach!« erwiderte der junge Mann mit seiner gewohnten Bescheidenheit. »Ich war natürlich sehr in Sorge um – weil ich Sie in Sorge wußte, selbstverständlich ...«

»Ja, sehr begreiflich,« bemerkte Plato harmlos, indes Dosia ein Lächeln unterdrückte.

»Und so zerbrach ich mir tüchtig den Kopf. Schließlich fiel mir ein, daß Fräulein Agnes sich notwendig an ein Stellenvermittlungsbüreau hatte wenden müssen; da es deren in Moskau keine Legion gibt, hatte ich mich bald durch alle durchgefragt. Eine Verwechselung mit einem ähnlich lautenden Namen kostete mich ein paar Tage Zeitverlust, schließlich aber kam ich zum Glück auf die richtige Spur, und von da an war alles kinderleicht.«

»Und auf der Straße habt ihr einander getroffen?«

»Auf dem Platz vor der Kirche, in dem Augenblick, wo Agnes – Fräulein Agnes einen Wagen nehmen wollte, um nach der Bahn zu fahren, und ich einen, um nach ihrem Aufenthaltsort zu gelangen.«

»Wo wolltest du denn hin?« forschte Wera. »Gewiß nicht hierher?«

Agnes ward sehr rot.

»Nein,« sagte sie ehrlich, »ich wußte zu gut, daß ich's nicht wert war, hier aufgenommen zu werden. Ich wollte zu Tante Sophie.«

»Das stimmt auffallend,« rief Kola. »Morgen abend kommen Onkel Muriefs zu uns!«

»Freuen wir uns, daß alles nun wieder gut, und jetzt zu Tisch, Kinder,« schnitt Plato weitere Erörterungen ab.

Am nächsten Tag trafen richtig Peter und seine Frau ein. Tante Sophies erste Aufgabe war es, Agnes' Beichtvater zu sein und alles zu vernehmen, was sie auch der Mutter noch nicht zu sagen wagte, obwohl ihre Herzen sich vom ersten Augenblick an verstanden hatten. Sophie wußte wie immer mit leichter Hand alles auszugleichen und jeder die Empfindungen der andern so klar und richtig darzulegen, daß auch nicht der Schatten eines Mißverstehens mehr zwischen Mutter und Kind auftauchen konnte.

»Nun, Fräulein Nichte,« bemerkte Peter, als er Agnes bei Tisch einen höchst erfreulichen Appetit entwickeln sah, »von den Fleischtöpfen Aegyptens scheinst du nicht herzukommen!«

»Nein, Onkel, aber von blutigen Roastbeef-Orgien!«

»Gefrorenes gab's wohl in dem Urwald nicht?« fragte General Baranin, der auch heute nicht bei dem Familienfest fehlte.

»Das wäre eher zu verschmerzen gewesen,« erwiderte Agnes, »denn so gut, wie man es bei Ihnen an Brandtagen ißt, kriegt man doch in der ganzen Welt keines.«

»Besonders, wenn du vorher das Feuer gelöscht hast,« sagte der General, ihr herzlich zunickend.

Auch Marie war nach Surowa gekommen, um das verirrte Schäflein zu begrüßen, und konnte nicht unterlassen, nach einigen einleitenden Redensarten die Bemerkung hinzuwerfen: »Nett war's von Ermil, daß er nach dir gefahndet hat. Ermutigt hattest du ihn zu solchem Ritterdienst gerade nicht.«

»Ich weiß es wohl,« sprach Agnes demütig. »O Marie, du mußt mich nicht ganz niederschmettern! Mir ist's ohnehin, als ob ich von meinem ersten Lebenstag an bis zu der Stunde, wo Ermil mich auffand, nichts als Dummheiten gemacht hätte.«

»Ach, Herzchen, wenn du das so ansiehst, dann ist alles gut!« rief die treue Schwester beruhigt.

Wenig Tage nach der Rückkehr trug Ermil seine Bitte den Eltern vor, diesmal kühn und zuversichtlich; wußte er doch, daß dies langumworbene Herz nun für alle Zeit sein eigen war.

»Jetzt, da wir unser Kind nur eben erst wieder gefunden haben, dürfen Sie uns desselben nicht berauben!« lautete Dosias Antwort.

»Im nächsten Sommer soll Ihr Wunsch erfüllt werden,« sagte Plato, »und Sie werden gut daran thun, den Winter auch in Petersburg zuzubringen. Ihr beide könnt nur dabei gewinnen, wenn ihr euch in der Gesellschaft begegnet und bewegt. Ihr lernt euch selbst und die andern besser verstehen!«

Am Weihnachtsabend speiste die ganze Familie, zu der Ermil natürlich auch gezählt wurde, bei Tante Sophie, und der Aufwand an froher Laune und feinen Schüsseln war groß.

»Höre einmal, Agnes,« begann Peter, bei dem das Necken leider chronisch geworden war, »eigentlich hast du uns nie anvertraut, was dir bei den Werwölfen dahinten, in den Urwäldern von Sankt Sergius, passiert ist?«

»Meinen Eltern habe ich alles haarklein berichtet, Onkelchen.«

»Aha, das ist eine liebenswürdige Umschreibung des Satzes: Was geht's dich an! Aber siehst du, ein Onkel das ist fast so gut wie ein Vater! Also beichte! Du hast ohne Zweifel die Menschenfresserin selbst aufgegessen und hast dich auf den väterlichen Grund und Boden geflüchtet, um dich dem Arm des Gesetzes zu entziehen!«

Agnes lachte unbefangen; sie hatte Spaß verstehen und darauf eingehen gelernt!

»Aufgegessen habe ich niemand, Onkelchen, und das hat mich hie und da gereut, denn es wäre doch einige Abwechselung im Menü gewesen.«

»Sehr richtig bemerkt. War die ehrenwerte Familie zahlreich?«

»Vater, Mutter, ein Sohn und eine Tochter!«

»Ein erwachsener Sohn?« forschte Onkel Peter, mit den Augen zwinkernd.

»Ja, Onkelchen.«

»In dich verliebt?«

»Ja, Onkelchen,« und Agnes lachte bei der Erinnerung an Mittia hellauf.

»Du hast ihn unglücklich gemacht?«

»Ach! Das hat er selbst besorgt; ich war sehr unschuldig an der Sache, das versichere ich dir!«

»Nun also, er hat dir den Hof gemacht?«

»Ja, Onkelchen.«

»Auf welche Art?«

Agnes gab mit entschiedenem Nachahmungstalent einen schön modulierten Mittiaseufzer zum Besten. Die ganze Gesellschaft lachte herzlich.

»Und ihr seid in Freundschaft voneinander geschieden?«

»O nein, ganz und gar nicht!«

»Nun, was ist denn da zu guter Letzt noch passiert?«

Agnes machte ein sehr feierliches Gesichtchen und sah rasch zu Ermil hinüber, der fröhlich lachte.

»Bitte, lachen Sie nicht, mein Herr!« rief sie. »Sie werden sehen, die Sache ist furchtbar ernst.«

»Du hast ihn doch nicht erdolcht?« fragte Wera gespannt, und erhielt für diese vorlaute Bemerkung von sämtlichen Damen strafende Blicke. Wie konnte sich denn »das Kind« erlauben, so etwas ...

»Nein, aber er hat sich über mich gebeugt ...«

»Um dich zu küssen?« forschte Peter, sich mit Ostentation den Mund wischend.

»Ja, und dann ...«

»Vollende, Tochter Dosias, vollende!«

»Dann habe ich ihm eine Ohrfeige gegeben,« sagte Agnes ruhig und einfach.

»Traditioneller Familienzug!« jubelte Peter förmlich, sich vor Lachen ausschüttend.

Sämtliche Tischgenossen, sogar Plato, stimmten in seine Heiterkeit ein, nur Dosias Lachen klang nicht ganz ehrlich. Sie konnte sich einer peinlichen Empfindung nicht erwehren beim Gedanken, daß ihr Kind, ihre herzliebe Agnes, solchen Situationen ausgesetzt gewesen. Das junge Mädchen verstand die Mutter wohl, und in dem Blick, mit dem sie Dosias Auge suchte, lag eine Welt von Reue und schweigenden Gelöbnissen.

Als nach einem freudenreichen Winter der Frühling die Zugvögel wieder hinauslockte aufs Land, stand im Hause Surof und allen, die sich Freunde und Gäste der Glücklichen nennen durften, eine festlich frohe Zeit bevor. Agnes' Hochzeitstag nahte heran, und da derselbe in Wirklichkeit keine große Trennung von den ihr nun so unsäglich teuern Eltern zu bedeuten hatte, war die Freude groß. Doch schien Dosia in den letzten Tagen noch förmlich zu geizen mit ihrem Kinde, und die beiden waren unzertrennlich.

So kam der Tag heran, an dem die liebliche Braut die Schwelle des Vaterhauses überschritt, um vor dem Altare dem Manne ihre Hand zu reichen, dem ihre Seele ganz und voll zu eigen war.

In dem Augenblick, wo sie sich zum Kirchgang anschickte, brachte die Post ein kleines Paket für sie. Seit mehreren Tagen war es ein ewiges Hin- und Hereilen der Brief- und Postboten gewesen, die Grüße aus nah und fern zu bringen hatten. Das Paketchen wurde aufgemacht, denn Agnes wollte gar zu gern noch erfahren, wer ihrer freundlich gedacht.

Es enthielt ein nicht gerade sehr künstlerisch ausgeführtes, sondern ziemlich roh in Cypressenholz geschnitztes Bildnis des heiligen Sergius.

»Woher kann denn das kommen?« forschte Wera, die allezeit Neugierige.

»Ich weiß es selbst nicht,« sagte Agnes nach einigem Besinnen. »Ach doch! Das ist ja von meiner guten alten Bauersfrau, die mir zu essen gegeben hat an dem Tag, da ich Ermil – nein, da Ermil mich gefunden hat! Wir haben ihr ja geschrieben, daß heute unser Hochzeitstag ist! Die braven Menschen!«

Einfach und schlicht wurde die Trauung in dem bescheidenen Dorfkirchlein vollzogen, aber alle, die dabei waren, freuten sich des jungen Glückes von ganzer Seele, und die Kirche war mit Blumen geschmückt wie am Pfingstfest.

Nachdem Ermil am Abend seine junge Frau, die insgeheim beim Abschied von ihrer Mädchenzeit noch manch heiße Reuethräne vergossen hatte, mit sich fortgenommen, war die ganze Familie im Salon versammelt.

»Daß sie glücklich wird, darüber habe ich keinen Zweifel,« sprach der Vater. »Aber wie wird sie uns fehlen!«

»Ich weiß gar nicht,« stimmte Dosia bei, »wie ich mir ein Leben ohne sie denken soll! Sie war mir so nötig wie mein eignes Ich. Selbst ihre Thorheiten und Unarten, die früheren nämlich, werden eine Lücke in meiner Existenz lassen ...«

»Glücklicherweise bin ich da!« bemerkte Wera mit äußerst vielsagender, geheimnisvoller Miene.

Dosia strich ihr zärtlich über die blonden Haare und wandte sich dann zu ihrer Schwägerin? das kleine Fräulein aber vertraute ihre ganz besondern Gedanken Fräulein Titof an!

»Meine Schuld soll's wahrhaftig nicht sein,« versicherte sie, »wenn Mama sich langweilt! Jetzt, da Agnes fort ist, wird sich erst zeigen, was in mir steckt. Man hat mich schnöde unterschätzt – allein sie werden mich kennen lernen. – Die sollen ihre Wunder erleben!«

 

Ende.


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