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Drittes Kapitel. Der Wald brennt

»Onkel General,« sagte Agnes ruhig, »Ihr Wald brennt.«

General Baranin nahm die Pfeife aus dem Munde, warf einen prüfenden Blick nach dem Himmel, zuckte die Achseln und erklärte mit orakelhafter Sicherheit: »Der meinige nicht, sondern der meines Nachbars.«

Agnes, die hinter dem Schaukelstuhl stand, in welchem der alte Herr sich behaglich wiegte, sah den General an, dann den Himmel und schwieg. Sie beugte sich über die illustrierte Zeitung, die vor ihr lag, und überflog die Bilder, schüttelte das Blatt ein wenig und blies weißliche Flöckchen ab, die eben auf dasselbe gefallen waren, und schien sich darauf ernstlich für die Illustrationen zu interessieren.

In diesem Jahre hatte eine seit Menschendenken nicht dagewesene Trockenheit die Wälder förmlich gedörrt; seit acht Tagen wütete das Feuer in einer etwa zwanzig Werst vom Gut des Generals entfernten bedeutenden Waldung. Die Familie Surof, die heute, seiner Einladung folgend, den Tag bei ihm zubrachte, hatte auf ihrem Weg dahin eine erstickende Rauchwolke, welche der Wind weit hinaustrug und die wie ein grauer Mantel über den Bäumen lag, durchfahren müssen. Auf dem Gebiet des Generals war der Brandgeruch nicht mehr so stark, der Rauch aber immerhin nah und dicht genug, um wie ein schwerer, gelblicher Nebel zu erscheinen. Im Salon plauderte man von diesem und jenem, die Herren rauchten, die Damen sprachen von ihren Kindern und die Kinder selbst spielten im Garten. Agnes wartete noch ein paar Minuten, dann wiederholte sie mit ihrer hellen Stimme: »Onkel General, Ihr Wald brennt,« und schüttelte dazu die Aschenflocken, die ihr ganzes Blatt bedeckten, auf des Generals Hand.

»Das kennen wir,« erwiderte dieser, ohne sich beunruhigen zu lassen. »Seit acht Tagen haben wir regelmäßig nachmittags um fünf Uhr, wenn der Ostwind kommt, Aschenregen.«

»Jetzt ist es aber zwei Uhr nachmittags und Westwind,« erwiderte Agnes mit Ruhe. »Schließlich wissen Sie ja, daß der Wald nicht mir gehört; ich habe es einzig in Ihrem Interesse gesagt.«

Plato war aufgestanden.

»Man sollte am Ende doch nachsehen,« meinte er.

Der General war eigensinnig und winkte ihm, sich wieder zu setzen.

»Lassen Sie sich doch das Ding nicht anfechten,« sagte er, »ich bin schon ganz daran gewöhnt, es brennt jetzt eine volle Woche.«

Herr Surof beruhigte sich jedoch dabei nicht, sondern fuhr fort, prüfend an den Himmel zu blicken, bis er plötzlich sich mit einer raschen Bewegung umwandte.

»Dort, hinter Ihnen, Baranin,« rief er, »dort brennt der Wald wahrhaftig. Sehen Sie nur die Rauchsäule ...«

Ein Windstoß warf eine Handvoll grauer Asche und noch glimmender Funken herein.

»Freilich brennt er,« rief der General, die Mütze auf seinen kahlen Schädel stülpend. »Ich bin ein eigensinniger alter Esel gewesen, und Agnes hat recht gehabt.«

Er stürzte nach den Wirtschaftsgebäuden und bald hatte die Glocke alles zusammengerufen, was im Garten und der nächsten Umgebung an Männern zur Verfügung stand.

Langer Auseinandersetzungen bedurfte es nicht; der General wies mit der Hand nach der Rauchsäule, die über der gelben Nebelschichte emporstieg, und jeder wußte, um was es sich handelte. Die Leute eilten nach den Scheunen und holten Werkzeug, dann setzte man sich in Bewegung.

Herr und Frau Surof schritten rasch neben ihrem Freund und Wirt dahin. Ohne gerade übertriebene Sorge an den Tag zu legen oder seine weltmännische Ruhe zu verlieren, eilte der General in einem Tempo vorwärts, das man ihm bei seiner stattlichen Figur kaum zugetraut hätte. Wera, Marie Makof und die jungen Herren waren vorangelaufen, und Agnes verging fast vor Verlangen, es ebenso zu machen, aber der Anstand, den sie allezeit und allerorten aufrecht erhielt, gestattete ihr nicht, ihrer Neigung zu folgen.

Immer dichter wurde der Rauch, immer schärfer der Geruch; brennende Holz- und Kohlenstücke fielen auf den Weg, und Plato hatte viel zu thun, um im eiligen Gehen die nächstliegenden zu zertreten. Der General zog prüfend die Luft ein.

»Das sind die Birken,« sagte er, »das riecht gut!«

Trotz allen Ernstes der Situation lachten seine Freunde und er selbst hell auf über diese Bemerkung. Agnes konnte nicht mehr an sich halten und flog im Dauerlauf dem Vortrab nach, aus dessen Mitte Schreckensrufe ertönten.

Eine weitere Lichtung, in welcher im vergangenen Jahr geschlagen worden, und in der man des Schattens wegen da und dort große Bäume hatte stehen lassen, brannte wie ein Hochofen. Junge Tännchen und kaum meterhohe Birkenstämmchen lieferten den Flammen die beste Nahrung; das den Boden bedeckende Heidekraut pflanzte die Glut zu den Wurzeln fort, und alles flammte mit wilder Gewalt und einem durchdringenden Geräusch hoch auf.

»Der ist dem Feuer verfallen!« rief der General, mit der Hand einen beträchtlichen Kreis beschreibend.

Der eigentliche Wald war in unmittelbarer Nähe, nur ein sieben oder acht Meter breiter Weg trennte denselben vom Herd der Flammen. Glücklicherweise ging der Wind augenblicklich nicht in dieser Richtung; wenn derselbe aber umschlug, konnte ein einziger Windstoß den Gipfel der hohen brennenden Birken zu den schon geschwärzten großen Waldbäumen hinüberneigen und dann mußte der Brand unabsehbares Unheil anrichten.

»Wie schön!« sagte Agnes halblaut.

»Nicht wahr?« stimmte Ermil bei, der sich plötzlich an ihrer Seite befand. »Nur schade, daß es so entsetzlich ist.«

»Sehen Sie die Birke, wie das lebt und leidet! Wie sie sich krümmt, die Zweige knacken wie im Schmerz, es ist, als ob sie um Erbarmen flehe.«

Die übrigen Zuschauer starrten bestürzt und schweigend in die Flammen. Eine Herde Weiber und Kinder, die wie aus dem Boden gewachsen war, sahen dem Schauspiel mit philosophischer Ruhe zu; der Teil des Waldes war ja Privateigentum des Generals; wäre es der Gemeindewald gewesen, hätten sie sich etwas mehr aufgeregt.

Ein Trupp Bauern, geführt von einem Dorfältesten, erschien in guter Ordnung, Hacken und Beile auf der Schulter.

»Bravo, Kinder! Ihr seid rasch!« rief der General. »Packt mir das Feuer auf der Seite an!« – er deutete auf die Grenze gegen den Wald. »Ihr wißt, was ihr zu thun habt, nicht? Und ihr andre reißt mir das Gestrüpp aus, rasch! Die Lichtung brennt, laßt sie brennen, aber weiter greifen darf das Feuer nicht!«

Mit außerordentlicher Behendigkeit gingen die Leute ans Werk. So langsam der russische Bauer gewöhnlich in seinen Bewegungen ist, so entfaltet er sofort eine gewaltige Energie und Thätigkeit, sobald es sich um einen Waldbrand handelt.

»Und ihr Weiber, ans Werk!« kommandierte der General. »Was steht ihr da und habt Maulaffen feil und schwatzt wie die Elstern? Holt eure Besen und Heugabeln und was auf den Weg fliegt, werft ihr ins Feuer zurück. Vorwärts marsch!«

Das Dorf war kaum dreihundert Meter entfernt; in wenig Minuten war das Nötige zur Stelle, und die Frauen standen in Reih' und Glied wie beim Heuwenden und säuberten den Weg.

Die Hitze war ungeheuer, obwohl die Zuschauer sich dort aufstellten, wo ein leiser Windhauch das Atmen erleichterte. Dosia hatte nachgesehen, ob Wera sich bei Fräulein Titof in Sicherheit befinde; Plato, Ermil und Kola arbeiteten um die Wette mit den Männern, die rasch um das Gebiet des Feuers einen Graben zogen, damit sich die Glut nicht, wie es häufig geschieht, durch die Wurzeln fortpflanze. Agnes sah, neben ihrer Mutter stehend, dem bewegten Schauspiel zu und fragte sich selbst, wie es komme, daß der furchtbare Anblick ihr weit mehr Interesse als Grauen einflößte.

»Sehen Sie, der Fluß ist da unten,« erklärte der eben herbeitretende General den Damen, indem er nach Westen wies, »etliche dreißig Meter entfernt. Das Flußbett ist ungemein tief, eine förmliche Schlucht. Greift das Feuer also nach dieser Richtung um sich, so hat es nicht viel zu sagen; springt es jedoch nach rechts über, so sind wir – das heißt, ich bin zu Grunde gerichtet, – der Wald erstreckt sich bis an die Umzäunung des Gartens und berührt die Speicher. Innerhalb einer Stunde kann ich ruiniert sein, ganz oder teilweise – aber setzen Sie sich doch, meine Damen, Sie müssen ja viel zu müde werden.«

Mit ritterlicher Artigkeit, die an diesem Ort und in dieser Lage besonders anerkennenswert war, bat er die Damen, sich auf einen am Straßenrand liegenden gefällten Baumstamm zu setzen, auf welchem Wera und ihre Erzieherin sich bereits niedergelassen hatten.

»Wenn ich Wasser hätte,« fuhr er fort, »dann wäre es ja ein Kinderspiel. Von ein paar waghalsigen Burschen bin ich sicher, daß sie mir die gefährlichsten Bäume umhauen würden; aber um in diese Höllenglut einzudringen, müßte man sich einen Weg herrichten können, sonst würde man einfach lebendig gebraten.«

»Wenn doch der Fluß so nahe ist,« warf Agnes ein.

»Nahe genug freilich, aber fünfzig Fuß tiefer. Wenn ich Ketten bilden ließe und mit dem Eimer schöpfen, so würde das Wasser halbwegs schon ausgegossen sein!«

Agnes starrte ihm mit einem komischen Ausdruck von Ratlosigkeit ins Gesicht; plötzlich gestikulierte sie mit der Hand in der Luft umher, wie wenn sie auf eine plötzlich hingeworfene Bemerkung Antwort geben wollte, machte kehrt und schlug den Weg nach dem Haus ein.

»Was hat sie nur?« fragte der General verblüfft.

»Einen Einfall!« erwiderte Dosia lächelnd. »Auf diese Weise thut sie solche in der Regel kund. Sie hat irgend etwas entdeckt, vermutlich wird sich bald zeigen, was.«

Baranin sprach den rauchgeschwärzten Männern Mut zu und forderte sie zu erneuter Anstrengung auf. Plato und sein Sohn, sowie Ermil arbeiteten wie einfache Taglöhner, und ihre Axthiebe waren nicht minder kraftvoll als die der andern.

»Wie langweilig, nichts thun zu können,« bemerkte plötzlich Marie, die schon mehrmals gewohnheitsmäßig nach dem Wollknäuel in die Tasche gegriffen hatte. »Du, Kleine, da wart einmal! Du bist ja viel zu klein, das ist ein Unsinn! Gib mir deinen Besen!«

Das so angeredete kleine Mädchen ließ sich den schon stark abgenützten Reisbesen aus der Hand nehmen und Marie stellte sich tapfer in die Reihe der Kehrerinnen, nicht ohne vorher ihr Kleid mit zwei Stecknadeln aufgeschürzt zu haben.

»Agnes kommt gar nicht wieder!« sagte Wera ängstlich. »Ich will nach ihr sehen!«

»Nein! Nein!« versetzte die Mutter bestimmt. »Wenn du gingest, dann würde sich Fräulein Titof fünf Minuten darauf aufmachen, um dich zu suchen, und wenn ihr dann alle nicht zurückkämet, so würde ich selbst auch nachkommen. Das Ende vom Lied wäre, daß jedes auf einem andern Wege hierher käme und dann wieder die übrigen suchte – das kennen wir!«

Trotzdem war Dosia auch nicht ruhig; eine halbe Stunde war verflossen, seit Agnes sie verlassen hatte, und die Zeit fing an ihr lang zu erscheinen. Sie überlegte sich eben, ob sie nicht selbst in der Richtung des Hauses nach ihr Umschau halten sollte, als Schellengeklingel ihre Aufmerksamkeit auf die Landstraße lenkte.

»Ein Wagen!« bemerkte Baranin, der eben vorüberging. »Nun, der wird es angenehm finden, hier vorbeizufahren. Der Weg ist aufgewühlt; wenn er mehr als drei Gäule hat, so wirft er um.«

Aber das Geklingel deutete nicht auf ein im Trab dahersausendes Gespann, sondern kam ganz langsam näher.

»Was, zum Kuckuck, ist denn das!« fragte der General neugierig.

An der Biegung der Straße ward eine in der That höchst ungewöhnliche Equipage sichtbar; ein alter Schimmel, der vor eine ungeheure, auf vier Rädern gehende Wassertonne gespannt war; die Tonne war mit einem Hahnen versehen und ein Eimer mit langem Stiel zum Wasserschöpfen hing daran. Auf dem Pferd, ganz korrekt seitwärts, die Füßchen auf der Deichsel, saß Agnes und kutschierte.

»Agnes! Und da wäre Wasser!« rief der General. »Hurra!«

Ganz verblüfft hielten die Leute in der Arbeit inne.

»Hurra!« rief der alte Herr noch einmal, »Nun ist unser Wald so gut wie gerettet. Ein Hurra dem Fräulein!«

Einstimmig erklang es aus allen Kehlen: »Hurra!«

Mit der Bescheidenheit des wahren Verdienstes fuhr Agnes langsam heran. An der Stelle angelangt, wo die umherfliegenden großen Funken gefährlich zu werden begannen, sprang sie von ihrem Sitz herab und reichte ihrem Vater, der ihr entgegengekommen war, den langen Stiel des Schöpfeimers.

»Das nenne ich einen guten Einfall,« sagte Herr Surof lächelnd. »Wie hast du's denn gemacht?«

Ein halbes Dutzend Männer waren schon daran, einen kleinen Pfad durch das glimmende Buschwerk zu hauen, die andern gossen eifrig Wasser darauf, damit die Pioniere nicht vom Feuer umzingelt werden sollten.

»Die Tonne ist mir plötzlich eingefallen,« erklärte Agnes ihrem Vater, »und der alte Blanc-blanc auch, den ich sie so oft ziehen sah. Daß er lammfromm ist, wußte ich ja, und so habe ich ihn aus dem Stall geholt. Das Anspannen ist etwas schwierig gewesen, weil man so viele Riemen knüpfen muß und ich natürlich nicht viel davon verstehe. Im Haus war keine Menschenseele, aber schließlich bin ich denn doch damit zurechtgekommen. Dann am Fluß – ach, das war komisch! – da habe ich einen mir unbekannten Herrn getroffen, der im Begriff stand, mit seinem Wagen durch die Furt zu fahren. Als ich nun anfing, Wasser zu schöpfen, goß ich viel mehr über mich, als in das Loch hinein, obwohl ein Trichter da war.«

»Das wundert mich durchaus nicht,« bemerkte Plato lachend.

»Da nahm der Herr die Zügel in die Hand und wies seinen Kutscher an, mir die Tonne zu füllen. Du machst dir keinen Begriff, wie drollig das gewesen ist, dieser Kutscher in dem langen Tuchrock mit einer Moskauer Mütze, wie er mit feierlichem Ernst Wasser schöpfte, während der andre ebenso ernst und würdevoll die Zügel hielt. Ich hätte hell auflachen mögen, habe es aber hübsch bleiben lassen.«

»Du bist wohl durchnäßt?« fragte Plato, sie an der Schulter fassend.

»Gewesen, aber bei der Hitze geht es rasch mit dem Trocknen. Ich begreife gar nicht, wie ihr es aushaltet! Da drunten sitzen Wera und Fräulein Titof wie es scheint zu ihrem Vergnügen – man wird sie vielleicht als weich gekochte Eier verspeisen können! Im Wald, da ist's kühl! Und am Wasser so schattig, ganz köstlich! Nun ist die Tonne leer, ich fahre gleich zurück!«

Rasch und leicht schwang sie sich auf ihr Roß, zog den Rock über ihre Füße wie ein Reitkleid, nahm die Zügel und veranlaßte das gute Tier zu einem Trab, wie es sich ihn schon seit zehn Jahren abgewöhnt hatte, infolgedessen das Gespann rasch unter dichten Birken verschwand, die sich darüber zu schließen schienen, indes das Schellengeklingel allmählich verklang.

In das Gefühl der Dankbarkeit und Bewunderung, mit dem General Baranin sie davonrasseln sah, mischte sich eine starke Lachlust, so anmutig und komisch sah das Gespann aus. Plötzlich wandte er sich zu den Bauernweibern und rief mit Donnerstimme: »Schneegänse, die ihr seid! Nicht eine von euch ist aus so etwas gekommen, wie das Fräulein! Und doch habt ihr Wassertonnen genug im Dorf. Vorwärts! Schafft sie her, rasch!«

Die Frauen rannten zuerst durcheinander, dann traten drei oder vier aus dem Kreis und liefen dem Dorf zu, während die andern zu ihrer Arbeit zurückkehrten. Eine Viertelstunde darauf ward der Wald lebendig, überall klingelten Pferdeschellen, und als Agnes zum zweiten Male von ihrer Expedition zurückkehrte, mußte sie, wenn auch widerstrebend, Blanc-blancs Zügel gröbern Händen überlassen.

»Schade!« sagte sie seufzend, »so vergnügt bin ich lange nicht gewesen!«

Die Zeit verflog; die Sonne verschwand hinter den Bäumen und die Flammen erschienen nun röter und röter. Allgemein machte sich Ermattung bemerkbar, und doch war die Gefahr noch nicht vollständig beseitigt. Daß das Feuer sich nicht durch die Wurzeln ausbreiten konnte, war sicher, denn die eilig aufgeworfenen und nun reichlich mit Wasser begossenen Gräben bildeten eine unüberschreitbare Schranke um die dem Element preisgegebene Lichtung. Aber die Bäume, deren Aeste größtenteils schon verkohlt waren, fingen jetzt am Stamm selbst Feuer; wenn sie im Fall über den Graben herstürzten, stand alles zu fürchten, denn die zunächst liegenden Teile des Waldes waren von der Glut ausgedörrt und hatten schon mehrmals durch den Funkenregen Feuer gefangen.

Endlich war der Weg durch das glimmende, glühende Gestrüpp offen, und es galt nun, zwei durch ihre Stellung gefahrdrohende Birken zu fällen; das reichliche, stets fortgesetzte Begießen machte die Ausführung der Arbeit möglich, aber keiner der Landleute schien sehr geneigt zu sein, die Axt an einen Baum zu legen, der statt der Früchte Funken und brennende Aeste um sich her streute.

»Mut, Kinder, vorwärts!« rief der General. »Wenn ich jünger wäre, so wäre ich der erste ...«

Ein sehr verzeihliches Zögern herrschte noch; da schlug plötzlich die helle Flamme aus einer der bis jetzt verschont gebliebenen Birken unmittelbar an dem Graben. Die Blätter rollten sich mit lustigem Geprassel auf, die Aeste krachten, und wie ein Feuerwerk schleuderte der Baum Funken und Feuerbrände ringsumher.

Rasch ergriff Ermil einen der nassen Leinwandsäcke, mit denen die Männer sich Kopf und Schultern schützten, und seine Axt in der Hand, stürzte er in den Funkenregen, aus dem man bald seine wuchtigen Hiebe vernahm, indes alles in tiefem, nur durch das Feuergeprassel unterbrochenem Schweigen verharrte.

Kola folgte ihm sofort, und der Koch des Generals, ein kräftiger, hübscher Bursche, eilte hinter ihm drein. Nun waren natürlich alle bereit zu folgen, und es wäre große Verwirrung entstanden, wenn der General sie nicht zurückgehalten hätte.

Flammen und Rauch stiegen von Zeit zu Zeit so dicht und heftig auf, daß sie die Arbeitenden den Blicken der außen Stehenden vollständig entzogen. Agnes ging im Bogen so nahe als möglich zu dem von Ermil in Angriff genommenen Baum hin, denn sie wollte sich nichts von dem Schauspiel entgehen lassen. Sehen konnte sie die Männer nicht, aber sie vernahm ihre Stimmen, wenn sie einander in dem erstickenden Rauch, der sie natürlich auch am Sehen verhinderte, ein Wort zuriefen.

Eine Schar Kinder war ihr gefolgt und hatte sich neben ihr aufgestellt, die Blicke fest auf den wankenden Baum gerichtet, der bei jedem Axthieb einen Funkenregen entsandte. Auch die beiden andern Bäume schienen dem Fall nahe zu sein. Ein starker Krach, und Ermils Birke neigte sich in der Richtung des Fahrweges.

Die Kinder hatten sich geflüchtet; nur eins, das jünger oder weniger vernünftig war, stand noch am alten Fleck, offenen Mundes in die Höhe starrend.

Langsam und zögernd trat Agnes den Rückzug an; mit sicherem Augenmaß beurteilte sie die voraussichtliche Richtung des Sturzes und änderte ihren Standpunkt nur Zoll für Zoll.

Das Bewußtsein der Gefahr hatte für sie einen wunderbaren Reiz, den sie vollständig auskosten wollte.

»Agnes!« riefen erschrockene Stimmen.

»Hier!« gab sie mechanisch zurück.

Hinter ihr liefen Leute herbei; im Gefühl, daß sie einer Strafpredigt über ihr unbesonnenes Sich-der-Gefahr-aussetzen nicht entgehen werde, warf sie noch einen letzten, bedauernden Blick auf den Baum, dessen Krone sich nun so tief neigte, daß die nächste Sekunde den Sturz bringen mußte, und in diesem Augenblick entdeckte sie, unmittelbar vor sich, das wie festgebannt dastehende Kind.

»Agnes!« rief ihr Vater heftig; er war nur noch ein paar Schritte von ihr weg.

Der Baum krachte, schwankte unter einem Funkengeprassel hin und her – ohne zu überlegen, einem unwiderstehlichen Impuls gehorchend, stürzte Agnes vor, ergriff das Kind und riß es weg, – in dem Moment stürzte der Baum quer über die Straße genau auf die Stelle, wo das Kind gestanden hatte, und alles war in Qualm und Rauch gehüllt.

Mit dem Kleinen auf dem Arm sprang Agnes über die größten Feuerbrände hinweg, zertrat die kleinern, ohne sich zu bedenken, und ward nun wieder auf der Straße sichtbar. Sie war unversehrt, aber ihr Kleid brannte an fünf oder sechs Stellen, und ihre Schuhsohlen fingen zu glimmen an.

Sie setzte das Kind heil und ganz an die Erde, sah sich um, lächelte den Ihrigen, die sie umdrängten, freundlich zu, griff nach ihren versengten Haaren und sank dann, von einem plötzlichen Schwindel ergriffen, ihrem Vater in die Arme. Man benetzte ihre Schläfen mit frischem Wasser, und sie kam bald wieder zu sich; als sie die Augen aufschlug, fühlte sie Ermils Blick mit so leidenschaftlicher Angst auf sich gerichtet, daß sie nicht anders konnte, als ihm beruhigend zulächeln.

»Agnes! Kind,« flüsterte ihre Mutter mit bebender Stimme, »ich sollte dir recht böse sein!«

»O sag das nicht, Mama! Du hättest es ja ebenso gemacht! Wo ist der Junge?«

Wenige Schritte davon saß die Mutter, die das Kind auf dem Schoß hielt und bitterlich schluchzte.

»Mir ist ganz wohl und alles ist in Ordnung,« sagte Agnes aufstehend, »nur mein Kleid habe ich verbrannt; das sieht recht häßlich aus!«

Man machte wenig Worte, denn jedem war das Herz zu voll.

Inzwischen waren die beiden andern Birken innerhalb des Feuerbezirks gefällt worden; man goß Wasser in Strömen ringsum und die Gefahr schien jetzt vollständig beseitigt.

Nun kamen auch Kola und der Koch zum Vorschein ganz ebenso schwarz und rußig wie Ermil.

»Du bist ein braver Kerl!« rief der General seinem Koch zu, der mit Riesenschritten dem Hause zueilte. »Wohin läufst du denn so toll?«

»Ach! Excellenz,« stammelte der gute Junge stillstehend, »es ist sechs Uhr, und' ich habe noch nichts für das Diner zubereitet.«

Und damit setzte er sich in Trab, ohne eine Antwort abzuwarten.

»Wie ihr zugerichtet seid!« sagte der General. »Bei Gott, ich schäme mich meines unversehrten Rockes und meiner reinen Hände!«

»Allerdings, ich muß scheußlich aussehen,« sagte Ermil seine Hände betrachtend, und warf dabei einen besorgten Blick auf Agnes, die eine so unerbittlich strenge Richterin auch seines äußern Menschen war.

»Heute finde ich Sie zum erstenmal im Leben hübsch!« sagte sie kühn und sah ihm voll ins Gesicht.

Alle lachten, nur Ermil verspürte keine Lust dazu; er glaubte in ihrer Stimme einen aufrichtigen, ernsten Ton gehört zu haben, der jede Idee an einen Scherz ausschloß.

»Das sieht ihr ähnlich,« dachte er bei sich, »und auch sie kommt mir in dem zerfetzten Kleid mit den versengten Haaren hundertmal schöner vor, als in der gewähltesten Toilette.«

Man ließ einige Männer als Wachen auf dem Brandplatz zurück und wandte sich dann langsam dem Hause zu. Alle fühlten sich erschöpft und ruhebedürftig, und bei der Jugend regte sich auch der Hunger, was Wera unbefangen aussprach.

»Was ihr zu essen kriegen werdet, davon habe ich keine Ahnung,« seufzte der General, »es thut mir furchtbar leid –«

Bei den Wirtschaftsgebäuden kam ihnen der Koch entgegen, er hatte sich gewaschen und ein reines Kostüm angelegt.

»Entschuldigen Sie, Excellenz,« redete er den General mit sehr verstörter Miene an.

»Du hast nichts zu essen für uns?« unterbrach ihn dieser ärgerlich.

»Verzeihung, Excellenz, kalter Braten ist da und Aspik von Geflügel und ein gesulzter Fisch und Fleischbrühe zur Suppe.«

»Nun denn, dummer Kerl, was brauchen wir denn mehr?« rief der Hausherr fröhlich.

»Ja, aber Excellenz hatten mir befohlen, Gefrorenes zu machen, und Gefrorenes braucht Zeit.«

Die ganze Gesellschaft brach in ein tolles Gelächter aus.

»Wir kriegen kein Gefrorenes!« rief Dosia, so lustig wie in ihren Mädchentagen, »stellt euch vor, Kinder, das Herzeleid, wir kriegen kein Gefrorenes! Es ist geschmolzen!«

Ihre Verzweiflungsmiene war so drollig, daß der Koch vergebens sein respektwidriges Lachen zu verbergen suchte, und als er nicht damit zu stande kam, eilends in seine unteren Regionen verschwand.

»Höre! Nikita!« rief der General.

Der Kopf erschien am Küchenfenster.

»Wann können wir essen?«

»Eine schwache halbe Stunde müssen Excellenz Geduld haben. Das Unglück ist nämlich, daß das Feuer erloschen ist.«

Bei dieser unerwarteten Mitteilung entstand abermals große Heiterkeit.

»Es brennt nicht mehr! Das ist allerdings entsetzlich,« lachte der General herzlich. »Nun gut, wir werden uns gedulden!«

Das war nicht einmal schwierig, denn es verging mehr als eine Stunde, ehe unsre Freunde die Spuren ihrer Thätigkeit getilgt hatten; endlich erschien alles im Speisesaal, aber freilich in den wunderbarsten Gewandungen. Herr und Frau Surof, sowie die Erzieherin hatten durch kräftigen Gebrauch der Bürste ihre Kleider wieder leidlich in stand bringen können; Weras Kleid war mit zahllosen kleinen eingebrannten Löchern übersäet, hatte aber doch noch einigen Halt; die jungen Leute dagegen hatten wohl oder übel bei dem Kleidervorrat des Generals eine Anleihe machen müssen, und trotz aller Gewandtheit und Mühe war es dem Kammerdiener nicht gelungen, irgend etwas zu Tage zu fördern, was nicht mindestens um die Hälfte zu weit gewesen wäre.

Da keine Frau des Hauses vorhanden war, an die Marie und Agnes sich hätten wenden können, so waren sie auf die Hilfe der Hausmädchen angewiesen und erschienen in ländlicher Tracht, das Haar in einer Flechte zusammengebunden, was einen Sturm von Heiterkeit hervorrief.

Man setzte sich zu Tisch, und die Mahlzeit wurde in einer etwas eigentümlichen und unzusammenhängenden Weise aufgetragen, worüber der General unter den gegebenen Umständen keinen Tadel laut werden lassen konnte. Es wurde äußerst langsam serviert; zwischen den einzelnen Schüsseln traten lange Pausen ein, es war, als ob den Dienern daran läge, Zeit zu gewinnen. Als schließlich aber doch auf den Braten das Gemüse gefolgt und verspeist war, deutete der General durch eine leichte Verbeugung Dosia an, daß er das Zeichen zur Aufhebung der Tafel von ihr erwarte. In diesem Augenblick setzte der Diener mit einiger Verletzung der Servierregel zierlich arrangierte Glasteller und Löffelchen vor den General.

»Es kommt ja keine süße Speise!« sagte dieser ärgerlich. »Nikita hat ja gesagt, daß er das Eis nicht hat machen können! Glaub's wohl, der arme Junge!«

»Excellenz, es gibt eine süße Speise,« flüsterte der Diener.

»Es gibt eine? Deshalb habt ihr so viel Zeit als möglich gewinnen – oder verlieren wollen? Nun, warten wir's ab, womit Nikita uns überrascht!«

Der Haushofmeister trat ein, triumphierend eine Pyramide tragend: sämtliche Diener blickten ihm stolz nach – offenbar geleiteten sie das Gericht mit ihren besten Wünschen.

»Was in aller Welt ist denn das?« fragte der General verblüfft.

»Himbeergefrorenes!« rief Wera, in die Hände klatschend, mit großer Sachkenntnis.

Sie hatte recht gesehen. Im Halbdunkel des Anrichtezimmers unterschied man die Gestalt des Koches, welcher die Wirkung seiner Ueberraschung doch hatte mit ansehen wollen.

»Nikita! Komm herein!« rief der General, sich räuspernd; er empfand etwas wie Rührung und war seiner Stimme nicht ganz sicher.

»Excellenz?« fragte Nikita unter der Thür erscheinend.

»Was du heute geleistet hast, macht dir so leicht kein andrer nach, Nikita,« sprach der Hausherr ernst. »Ich spreche jetzt nicht von dem Baumfällen, obwohl auch das, in dieser Höllenglut – doch das haben andre auch gethan. Aber in deinem Beruf als Koch hast du etwas geleistet; ich bin mit dir zufrieden, Nikita!«

»Ich danke Eurer Excellenz, der Herr schenke Excellenz langes Leben!« sagte der junge Mann hocherfreut und zog sich leise zurück.

»Das ist russisch,« sagte der General, als die Diener sich entfernt hatten. »Ein wunderliches Volk – es ganz zu verderben, hat man doch noch nicht zu stande gebracht. Aber nun – vertilgen wir das Gefrorene! Das wird Nikita glücklich machen!«

Trotz der dringenden Bitte des Generals bestanden Herr und Frau Surof darauf, noch nach Hause zu fahren; es war ihnen, als lägen hundert Jahre zwischen Morgen und Abend dieses einen Tages.

»Der Rauchgeruch, den Sie mit nach Surowa bringen, wird schon vierzehn Tage vorhalten,« bemerkte Baranin, »und damit auch die Erinnerung an mich. Ich werde euch wahrhaftig nicht vergessen, ich habe Grund genug, dieses Besuches zu gedenken!«

Er spielte zärtlich mit Agnes' kleinem Ohr, die errötend lächelte.

»Merkwürdig bleibt die Sache!« fuhr er fort. »Man bittet seine Freunde zu sich, gibt ihnen einen Waldbrand zum besten, läßt sie arbeiten wie Feuerwehrleute, und zu guter Letzt sind alle seelenvergnügt! Was willst du denn, Schelm? Du scheinst irgend eine Frage auf dem Herzen zu haben?«

»Ich möchte etwas über den kleinen Jungen erfahren, Sie wissen ja – was ist's für ein Kind?«

»Dein Geretteter? Er gehört meinem zweiten Kutscher; die Mutter ist eine Gans, der Vater von drei Tagen jedenfalls einen betrunken, der Junge wird unter allen Umständen dereinst gerade so wenig nütze sein, als Vater und Mutter; einstweilen aber verdankt er dir das Leben.«

»Da haben wir's!« bemerkte Agnes nachdenkliche »wenn in den Romanen jemand gerettet wird, so ist's immer ein ganz ungewöhnliches Wesen, voller Tugenden und Verdienste, und in der Wirklichkeit ist's nun ein dummer Tölpel, der von einem ebensolchen herstammt und es seiner Lebtage zu nichts bringen wird.«

»Soll man ihn vielleicht wieder hintragen, wo du ihn genommen hast?« lachte der General. »So viel Glut wird schon noch da sein, um die kleine Kröte zu braten.«

»Danke,« erwiderte Agnes, auf seinen Ton eingehend, »da er nun doch einmal davongekommen ist, wird der Feuertod nicht seine Bestimmung sein; man hängt den Gehängten bekanntlich nicht noch einmal am nämlichen Strick. Aber Sie müssen zugeben, daß es für mich viel hübscher wäre, wenn der Junge sich als ein Märchenprinz entpuppt hätte.«

»Das klingt selbstsüchtig,« sagte Ermil hinter ihr, so leise, daß nur sie es verstehen konnte.

Sie wandte sich heftig nach ihm um.

»Verzeihen Sie mir, wenn ich Sie verletzt habe,« sagte er ebenso leise und sehr ruhig und sanft, »aber eine edle Handlung sollte nicht danach bemessen werden, ob der Gegenstand derselben würdig, sondern einfach danach, ob sie aus Menschlichkeit geschehen. Denken Sie doch an die Aerzte bei großen Epidemieen: besinnen die sich über die Intelligenz oder den moralischen Wert derer, für die sie ihr Leben einsetzen?«

Sie wandte sich nachdenklich ab, sah aber nicht aus, als ob sie böse wäre. Gleich darauf stieg man in die Wagen; die beiden jungen Leute in den von Herrn und Frau Surof, indes die vier jungen Mädchen im zweiten folgten; Agnes sprach also Ermil an diesem Abend nicht mehr.

Wie gewöhnlich teilte er das Zimmer mit Kola; sein Schlaf war aber sehr unruhig, und immer wieder fuhr er jäh auf, weil er im Traum Agnes mit dem Kinde auf dem Arm von Flammen umzüngelt sah.


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