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Zweites Kapitel. Das Geständnis

Man behauptet, daß auf festliche Abende traurige Morgen folgen, und dem ist allerdings häufig genug so, besonders wenn die Fröhlichkeit keine ganz lautere gewesen, eine Feier aber wie die des zwanzigsten Hochzeitstags von Menschen wie Herr und Frau Surof konnte keinen bittern Nachgeschmack haben.

Trotzdem wurde es etwas später als sonst lebendig im Hause; die Kinder freilich zwitscherten schon seit der Morgenfrühe in Park und Garten mit den Vögeln um die Wette; aber wer bis zwei Uhr morgens getanzt hatte, verzichtete für diesmal auf den Sonnenaufgang. Eins nach dem andern erschien aber schließlich doch im Speisesaal, wo die blinkenden Kristallgläser mit schaumiger Milch und die alten Schalen von getriebenem Silber mit den knusprigen, noch heißen Brötchen einen sehr erquickenden Eindruck machten.

Ermil und seine Schwester waren die ersten auf dem Schauplatz gewesen; Marie hatte sich ans untere Ende des Tisches gesetzt und reichte mit unermüdlicher Gefälligkeit schon seit zwei Stunden jedem Ankömmling seine Tasse Thee oder Kaffee. In der Fähigkeit, einen halben Tag lang vor dem oft frisch gefüllten Samowar zu sitzen, kam ihr so leicht niemand gleich; noch weniger in der Gabe, jedem mit seiner Tasse Thee auch ein freundschaftliches Wort zu schenken; Frau Surof wußte diese Talente aber auch zu schätzen und hätte kaum mehr gewußt, wie sie ohne Marie Gesellschaft bei sich sehen sollte.

Agnes erschien frisch und rosig, mit leuchtenden Augen; sie hatte von der Mutter die unglaubliche Lebenskraft geerbt, die sich aber bei ihr nicht in Uebermut und Tollheiten äußerte, wie sie bei Dosia historisch geworden, sondern die sie im Gegenteil eher verbarg, wie ein Feuer, dessen Flamme still behütet und genährt werden muß. Mit einer raschen Bewegung die blonden Flechten zurückwerfend, die sich widerspenstig immer wieder vordrängten, setzte sie sich behaglich neben Marie, goß sich eine Tasse Milch ein, stemmte dann beide Arme auf den Tisch, stützte ihr Kinn darauf und sah sich um.

»Frühstückst du immer auf diese Art?« fragte Marie, die eben einen Knäuel weißer Wolle und eine elfenbeinerne Häkelnadel hervorzog, denn bei ihr war stets irgend eine Decke in Arbeit, und ihr Vater wollte wissen, daß sie deren schon mindestens drei Dutzend hervorgebracht habe.

Agnes warf einen gleichgültigen Blick auf die vor ihr stehende Tasse.

»Ich bin bei meinen Bären gewesen, und die haben einen solchen Appetit entwickelt, daß ich vom Zusehen satt geworden bin.«

»Bei deinen Bären? Hast du denn jetzt Bären?«

»Ja wohl, zwei an der Zahl; sie sind gar zu hübsch; ich muß sie dir zeigen. Ich habe sie nicht im Haus ...«

»Und vermutlich auch nicht im Schafstall!«

»Nein; sie sind neben dem Gewächshaus. Ich habe sie im Frühjahr bekommen, da waren sie noch ganz klein. Stell dir vor, als Mama und ich im April hierher kamen, da sehen wir auf einer Poststation, wo umgespannt wurde, einen Bauern, der im Zipfel seines Pelzes irgend etwas trug. ›Habt Ihr da junge Hunde?‹ fragte Mama ... Du weißt ja, sie kann kein Hundevieh sehen, ohne daß ihr Herz ihm entgegenschlägt. ›Nein,‹ sagte der Mann, ›es sind junge Bären.‹ – ›So klein! Laßt sehen!‹ Der Mann setzte sie auf die Erde ... Nein, Marie, du machst dir gar keinen Begriff, wie goldig die Dingerchen waren! Drei Wochen alt sind sie gewesen und etwa so groß wie Neufundländer von drei Monaten, und so drollig und niedlich! Ich hatte mich zu ihnen gesetzt, um mit ihnen zu spielen, da nahmen die Herrschaften auf meiner Schleppe Platz, und als ich aufstand, ließen sie sich ganz vergnüglich darauf mit fortziehen und waren nicht mehr von mir wegzubringen. Die Alte war in der Nacht vorher getötet worden; man hat ihnen Milch gegeben und sie tranken mit ihren köstlichen kleinen Schnauzen wie junge Kätzchen, natürlich kamen die Pfoten auch in die Schüssel, und als die Milch alle war, setzten sie sich gravitätisch hin und beleckten ihre Tatzen. Als sie mir sogar ins Zimmer nachkugelten, hat Mama sie gekauft und mir einen geschenkt, der andre gehört Wera, sie macht sich aber nichts daraus.«

»Und was soll denn aus ihnen werden?« fragte Marie. »Du hast doch wohl nicht die kühne Idee, sie dir als Gespann zu dressieren?«

»Verspeist werden sie, einfach,« sagte Kola, der eben hereinkam.

»Oho!« rief Agnes empört, » meine Bären verspeist!«

»Das einzige, was man mit einem Bären anfangen kann! Vorausgesetzt, daß du nicht im Sinn hast, ihnen Tanzstunde zu erteilen ...«

Agnes hüllte sich in ein vielsagendes, würdevolles Schweigen, und Kola bat sich bei der diensteifrigen Marie eine Tasse Kaffee aus. Ermil trat gleich darauf ein, erhielt aber von seiner Gottheit nur ein trockenes »Guten Morgen«. Anscheinend ohne sich darum zu bekümmern, setzte er sich und plauderte mit seinem Freund.

»Hast du Fräulein Borikoff gestern gesehen?« fragte Marie halblaut.

»Natürlich habe ich sie gesehen, weil sie da war,« erwiderte Agnes kalt. »Was ist's mit ihr?«

»Nichts, als daß die Liebeserklärung, nach der sie sich sehnt, nicht kommen will, und daß sie krank darüber werden wird.«

»Wohl der Mühe wert, sich um einen Menschen mit strohgelben Haaren zu grämen!« warf Agnes verächtlich hin.

»Sie liebt ihn, und da thut das Strohgelb nichts zur Sache!«

»Daß sie ihn liebt, ist an und für sich schon ein Zeichen von Geistesschwäche! Ein weiteres ist, nebenbei bemerkt, ihre fixe Idee, grüne Bänder zu tragen, die ihr so abscheulich stehen!«

»Das arme Ding! Ihr Angebeteter hat einmal in meiner Gegenwart geäußert, er schwärme für grüne Bänder! ›Ich muß dabei immer an grüne Blätter denken,‹ sagte er, ›sie zaubern mir den ganzen Sommer vor die Seele!‹«

»Dann sollte man sie doch wenigstens nur im Winter tragen,« erklärte Agnes entschieden.

»O, Kind!« seufzte Marie, »du hast keine Ahnung, zu welchen Absonderlichkeiten uns der Wunsch zu gefallen treiben kann! Ich kenne das!«

Nikolas lachte hell auf; die Vorstellung, daß die gute, schlichte Marie persönliche Erfahrungen auf diesem Gebiet haben könne, hatte für ihn etwas überwältigend Komisches.

»O die Sache war sehr ernst!« beharrte Fräulein Makof. »Ich wollte gefallen! Nun, es war danach! Gottlob, der Zustand hat sich bei mir nie wiederholt!«

»O Marie, erzähle mir die Geschichte!« bat Agnes, deren Augen vor Uebermut funkelten.

»Ja wohl, Kinder, ich will euch meine Erfahrungen als warnendes Beispiel preisgeben. Höre du nur auch zu, Wera,« sagte sie zu dem eben vorübergehenden, halbwüchsigen Mädchen, »und ihr auch, ihr Kleinen, und Sie, Fräulein Titof. Alles, was Fräulein heißt oder heißen wird, höre die Geschichte, wie es einem ergeht, wenn man einen Jüngling durch seine äußeren Reize berücken will.«

Offenen Mundes horchte die kleine Gesellschaft auf, was Marie mit großer Befriedigung bemerkte.

»Ich war fünfzehn Jahre alt,« begann sie – »Ermil, du erinnerst dich doch?«

Er nickte bejahend und die Erinnerung an das Abenteuer machte ihn lächeln.

»Also fünfzehn Jahre war ich alt, und noch häßlicher als jetzt ...«

»O Marie!« rief Wera vorwurfsvoll. Sie schwärmte für Marie und fand sie schöner als irgend eine Raffaelische Madonna.

»Gewiß, Herzchen, das ist buchstäblich wahr! Ich hatte einen Onkel, der sich mit wissenschaftlicher Bodenkultur beschäftigte – er ist jetzt tot, der gute Mann! Er hat sein Vermögen ruiniert mit Anschaffung von englischen Pflügen, die nie für die russische Erde taugen wollten! Eines schönen Tages kommt er zu uns, weshalb, weiß ich nicht, und bringt seinen Ingenieur mit; ich glaube, er sollte meinen Vater auch zu den englischen Pflügen bekehren. Ich hatte noch nie einen Ingenieur gesehen, aber das Ding klang gut, und ich sagte mir: Dieser Ingenieur soll von dir den Eindruck einer sehr vornehmen jungen Dame mit fortnehmen; und am Morgen nach ihrer Ankunft – es war im Sommer – ziehe ich ein weißes Kleid an.«

»Nun, das war doch ganz natürlich,« bemerkte Wera mit einem Blick auf das weiße Gewand, das sie selbst trug.

»Nur Geduld, mein kleiner Gelbschnabel! Nach eingenommenem Frühstück erhebt sich die Gesellschaft; Papa, der nicht gern geht, gibt mir den Auftrag, meinen Onkel und seinen Ingenieur in den Maschinenschuppen zu führen, der ziemlich weit vom Hause entfernt war. Ich übernehme diese Pflicht, mache die Herren unterwegs auf alles mögliche aufmerksam, erkläre dies und das und schwatze jedenfalls eine Masse Dummheiten, genau weiß ich's nicht mehr, aber die Thatsache ist unter allen Umständen richtig! Darüber gelangen wir an einen ziemlich breiten Bach, der wenig Gefäll hat, auch wenig Wasser, mehr eine Art Pfütze, über die ein aus zwei Brettern gezimmerter schmaler Steg führt. ›Welch schöne Farbe‹, bemerkt der Ingenieur mit einem Blick auf das stagnierende Wasser, welches allerdings dunkelgrün war, richtiger Sumpfton! Am Steg tritt er einen Schritt zurück, um mich vorangehen zu lassen. – ›Nun,‹, sagte ich mir, ›ist der große Moment, um all deine Anmut zu entfalten; er soll sich sagen: Eine Elfengestalt und eine vollendete Grazie!‹ Ich sehe also möglichst ätherisch aus, setze mein Füßchen äußerst vornehm und zierlich – neben das Brett und liege in dem herrlich dunkelgrünen Wasser!«

»Ach Marie!« rief Wera ganz verzweiflungsvoll.

»Wie ich euch sage. Mein Kleid war, wie vorerwähnt, weiß, nachdem aber der Onkel und der Ingenieur mich herausgezogen, war es grün, leider nur bis ans Knie, denn die Pfütze war nicht tief. Eine halbe Werst hatten wir ungefähr ans Haus zurückzugehen. Wie ich das überlebt habe – Kinder! – Ob mein Ingenieur sich meiner erinnert, weiß ich nicht, daß ich ihn nicht vergessen habe, kann ich versichern. Seither habe ich auf das Kokettieren verzichtet. Amüsiert euch, Kinder, und merkt euch, daß Unbefangenheit die Schönen am besten kleidet – und die Häßlichen auch.«

Marie lachte mit so gutem Humor über sich selbst, daß man nichts Bessres thun konnte, als mitlachen, aber Wera, die ein etwas rührsames Herzchen hatte, küßte sie leidenschaftlich, als ob sie ihr nachträglich noch Trost über dies Mißgeschick spenden wollte.

»Dir könnte was Derartiges auch begegnen,« sagte Marie, ihr nachsehend – »unsrer Agnes nie!«

»Sicherlich nicht,« stimmte diese bei, die Haare wieder zurückschüttelnd. »Was andre von mir denken, daran liegt mir gar nichts.«

»Das machst du uns täglich klar,« bemerkte Kola mit einer Unschuldsmiene.

»Nicht schon wieder necken, Kola!« sagte Marie, die ihn als pausbackigen Jungen manch liebes Mal auf dem Arm gehalten hatte und ihn auch heute gern noch ein bißchen hofmeisterte, gerade wie ihren eignen Bruder. Habt ihr nun alle gefrühstückt? Kein Hungriger mehr zu speisen? Nun, dann bin ich froh.«

Sie klingelte und überließ den Dienstboten das Ordnen des Tisches, während sie sich's auf der Veranda mit dem unvermeidlichen Wollknäuel behaglich machte. Die übrige Gesellschaft zerstreute sich, jedes seine eignen Ziele verfolgend. Agnes schlug den Weg nach einer Lindenallee ein, deren Blätter sich durch die anhaltende Hitze schon gelblich färbten; es war dies ihr Lieblingsweg, in den sie täglich böse und gute Launen trug, um über Ursachen und Folgen dieser wechselnden Stimmungen nachzudenken. Heute fand sie an dem schattigen Platz Fräulein Titof, die sie dort nicht gerade erwartet, aber doch zu treffen gehofft hatte. Leider schien die Ueberraschung keine ganz angenehme für das junge Mädchen zu sein, denn sie zog die Augenbrauen finster zusammen.

»Ich wollte mit dir sprechen, Liebe,« begann die Erzieherin.

»Mich auszanken, heißt das wohl?«

»O nein, ganz einfach mit dir plaudern.«

Mit einem resignierten Seufzer bequemte sich das junge Mädchen, neben Fräulein Titof die Allee hinabzugehen, deren tiefer Schatten mit einzelnen goldnen Lichtern übersät war.

Fräulein Titof war von gleicher Größe wie ihre Schülerin, und zwischen beiden bestand eine gewisse Aehnlichkeit, die nicht eigentlich in den Zügen lag, wohl aber im Schnitt der Gesichter und der Haarfarbe, nur daß bei Agnes alles erste Jugendfrische atmete, während das arme Mädchen, müde von manchem Lebenskampf, schon zu verblühen anfing. Sie waren nur sechs Jahre im Alter verschieden, aber die eine hatte in ihren vierundzwanzig Jahren schon Leid und Sorge genug kennen gelernt, während es nur an Agnes gelegen wäre, in ihrem jungen Leben eitel Freude und Sonnenschein zu genießen.

»Ich habe mit dir sprechen wollen, Agnes,« begann die Erzieherin, »weil mir heute nacht, ich weiß nicht weshalb, so manche Gedanken durch den Sinn gegangen sind; vielleicht machte mich die Fröhlichkeit nachdenklich, die im ganzen Haus herrschte, und die du allein nicht zu teilen schienst.«

»Zuguterletzt habe ich mich auch noch amüsiert,« sagte Agnes und glaubte sich damit genügend ausgesprochen zu haben.

»Ja, nachdem du dich ans Klavier gesetzt hattest und für die andern zum Tanzen spieltest.«

Agnes nickte ernsthaft mit dem Kopf.

»Das ist auch das einzige, was mir Freude macht,« sagte sie. »Sich mit sich selbst beschäftigen, heißt seinem Nebenmenschen Abbruch thun.«

»Sehr wahr und edel! Nur beschäftigst du dich mit deinem Nebenmenschen nur so im allgemeinen und großen Ganzen und denkst nicht genug an die einzelnen. Weißt du etwa, mein Kind, daß du gestern deiner Mutter Kummer bereitet hast?«

Agnes zuckte kaum merklich die Achseln. Sie vergötterte ihre Mutter, und der Gedanke, dieselbe zu betrüben, war ihr unerträglich, allein ihr zuliebe anders zu werden, dazu fühlte sie sich nicht fähig. Wie viele sind nicht in diesem Fall, trotz aller guten Herzenseigenschaften!

»Sie leidet unter deinen Mißstimmungen, Agnes, und doch bist du dir bewußt, welch vortreffliche Frau sie ist, was für eine Mutter du an ihr besitzest! Das war's, was mich dazu trieb, ernstlich mit dir zu sprechen. Sei offen, Liebste; ich weiß, du hast Vertrauen zu mir, es sind nun fünf Jahre, daß wir uns kennen und daß ich dich herzlich liebe; also sprich dich aus. Du bist unzufrieden mit deinem Los; wonach strebt dein Herz? Ist es etwas Erreichbares, so glaube ich dir versprechen zu können, daß es dir werden soll.«

Agnes ging langsam, die Augen fest auf die lichten Punkte geheftet, die durch die hereinfallenden Sonnenstrahlen auf dem Boden gebildet wurden.

»Mein Wunsch wäre es,« begann sie leise aber mit großer Bestimmtheit, »ein thätiges Leben zu führen und nicht meine Jugend und Kraft an ein erfolgloses Dasein zu vergeuden. Man hat mir eine vorzügliche Erziehung gegeben, und ich darf ohne Eitelkeit sagen, daß ich mir das Gebotene zu nutze gemacht, und nun stehe ich mit achtzehn Jahren da, und bin zu nichts gut, als zum Vorgeführtwerden im Salon. Und da wundern Sie sich noch, daß es mir mehr Freude macht, den andern Tanzmusik zu machen, als selbst zu tanzen! So wenig wert es auch sein mag, ich bin dann doch zu etwas nutze.«

Die letzten Worte klangen bitter, aber doch verbarg sie ihre aufrichtige Traurigkeit nicht wie sonst hinter einer hochmütigen Miene.

»Du bist ungeduldig, Kind,« sagte Fräulein Titof, »wenn du wüßtest, wie uns das Leben warten lehrt, und wie viel vergebliche Versuche und Anstrengungen der Mensch oft zu machen hat! Die Bildung, die du dir erworben, befähigt dich, deine Stellung in der Gesellschaft auszufüllen.«

»Ich mag die Gesellschaft nicht.«

»Wohl und gut, dann bist du durch diese Bildung aber ebensogut befähigt, für dich allein Teil zu haben an allen Schätzen und Genüssen der Wissenschaft und Kunst. Wenn du verheiratet sein wirst –«

Agnes machte eine ungeduldige Bewegung, und Fräulein Titof legte ihre durchsichtige weiße Hand beschwichtigend auf den Arm des jungen Mädchens.

»Du sollst nicht sagen: ›Ich will nicht heiraten,‹ liebes Kind; es ist die Bestimmung der Frau, Gattin und Mutter zu sein.«

»Gattin!« rief Agnes, »ha, wie man das in unsern Kreisen ist, wo man seinen Mann höchstens bei Tisch sieht! Mutter sein, um seine Kinder zwei- und dreimal im Tag vorgeführt zu bekommen und ihnen eine Strafpredigt zu halten, wenn ein Lehrer Klage führt! Wenn das meine Zukunft sein soll, so würde ich lieber alles andre wählen – sogar das Kloster! Dort kann man doch arbeiten!«

»Hast du diese Anschauungen etwa durch das Beispiel deiner Eltern gewonnen?« fragte Fräulein Titof.

»Meine Eltern? Man findet nicht zweimal in einem Jahrhundert einen Mann wie meinen Vater, ebensowenig eine Frau wie meine Tante Sophie. Glauben Sie denn, daß ohne diese Frau Onkel Peter der Mann geworden wäre, der er ist?«

Fräulein Titof war etwas verblüfft über diesen Grad von Menschenkenntnis und Scharfsichtigkeit. Es war ja vollkommen richtig, daß Peter Murief von den zarten Händen seiner Frau gemodelt worden war. Von ihrer Mutter hatte Agnes geschwiegen, und doch war es nicht minder wahr, daß Dosia unter einer andern Leitung, als des Plato Surofs, eine andre geworden und mit all ihren glücklichen Gaben und ihrem reichen Herzen nicht im stande gewesen wäre, ihr Leben befriedigend zu gestalten.

»Gewiß gibt es wenige, die deinem Vater gleichkommen,« fuhr Fräulein Titof endlich fort, »aber so ganz arm an verdienstvollen Männern, wie du annimmst, ist die Menschheit denn doch nicht. Wir haben solche in nächster Nähe, und schließlich wird eines schönen Tages der kommen, für den dein Herz spricht. Man stellt nicht allzustrenge Forderungen, wenn man liebt.«

Sie seufzte leise; vielleicht hatte sie mit Schmerzen erfahren, wie nachsichtig man für die Fehler eines Geliebten ist!

»Sagen Sie mir doch,« sagte Agnes plötzlich, »wie es gekommen ist, daß Sie Erzieherin wurden?«

Fräulein Titof wurde rot, und dies Erröten gab ihr für einen flüchtigen Augenblick allen Reiz ihrer entschwindenden Jugend wieder.

»Ich hatte das vornehme Institut in Kasan durchlaufen,« erwiderte sie, »und war mit glänzenden Zeugnissen und einem Diplom entlassen worden. Im Begriff, mich zu verheiraten, verlor ich meinen Vater, der seine Geschäfte in zerrüttetem Zustand hinterließ, reich waren wir auch vorher nicht gewesen, aber nun kam das Elend. Meine Mutter hatte niemand auf der Welt als mich; mein Verlobter machte mir den Vorschlag, sie in einer Armenanstalt unterzubringen. – – Mein geliebtes Mütterlein in einer solchen Anstalt, nun da sie einsam und verlassen um so mehr der Liebe und Pflege bedurfte! – Ich wies jeden Gedanken daran entschieden von mir; die Verlobung ward abgebrochen, und ich suchte eine Stellung. Freilich sehe ich Mama nur im Winter, aber sie hat doch ihre zwei eignen niedlichen Stübchen, und die Güte deiner Mutter macht es mir möglich, ihr ein behagliches Dasein zu schaffen.«

»Und da behaupten Sie noch,« rief Agnes, »daß es Männer gebe, die das Herz auf dem rechten Fleck haben!«

»Gerade weil der, dem ich hätte angehören sollen, solch eine niedrige Seele war, habe ich den Wert vieler andrer schätzen lernen. Freilich mußte ich streng gegen mich selbst sein, um nicht in Mißachtung der Menschen zu verfallen.«

»Grund genug hätten Sie dazu gehabt,« sagte Agnes halblaut. »Und bitte, nun sagen Sie mir noch, wie man das angreift, Erzieherin zu werden?«

»Man verschafft sich einen Paß und sucht eine Stelle,« erwiderte Fräulein Titof lächelnd.

»Ach! Einen Paß muß man haben?«

»Bei uns immer.«

»Und was machen Sie denn mit Ihrem Paß?«

»Ich bewahre ihn auf, und wenn ich reisen will, muß ich mir meine Abreise auf dem Polizeiamt bestätigen lassen; wo ich ankomme, lasse ich mich als angekommen eintragen, das ist die ganze Geschichte. Nächsten Monat zum Beispiel soll ich einen Onkel in Moskau besuchen, da werde ich erst meinen Paß in Ordnung bringen lassen und dann abreisen.«

»Das ist ja unausstehlich!« rief Agnes.

»Alle derartige Dinge, die uns Zwang auferlegen, sind nicht sehr angenehm. Uebrigens ist dies nichts Schlimmes, eine einfache Formalität.«

Agnes hörte nicht mehr zu; was das arme Mädchen neben ihr gelitten haben mußte, beschäftigte ihre glühende Einbildungskraft nun ausschließlich.

»Und ich habe nie eine Ahnung davon gehabt!« sagte sie plötzlich. »Sie sind so ruhig, Sie sprechen niemals von sich selbst –«

Die Erzieherin lächelte wehmütig.

»Hast du mich jetzt lieber als bisher?« fragte sie.

»O! das will ich meinen! Auf den Händen will ich Sie tragen! Ich mag gar nicht daran denken, wie abscheulich ich oft gewesen bin. Ach, wenn ich gewußt hätte ...«

»Man sollte immer so handeln, als ob man wüßte,« sprach Fräulein Titof mit Feinheit, »aber ich will dir nicht predigen. Es ist Zeit für Weras Klavierstunde.«

Sie wandte sich dem Hause zu, aber Agnes hielt sie zurück.

»Ich bitte Sie, verzeihen Sie mir all meine früheren Ungezogenheiten; recht demütig bitte ich, verzeihen Sie mir, und ich schwöre Ihnen, daß ich alles gut machen will!« stieß Agnes klopfenden Herzens hervor.

»Mein teures Kind,« flüsterte Fräulein Titof mit einem innigen Kuß.

Noch ein Händedruck, und die Lehrerin eilte ins Haus, von wo bald einzelne Töne des Klaviers zu Agnes drangen, die sich in tiefem Nachdenken auf eine Bank gesetzt hatte.

Es gab also Menschen, deren Leben ohne Glanz, ohne eigne Freuden, einzig andern geweiht war? Die Thatsache an und für sich war ihr ja nicht neu, aber es war ihr immer gewesen, als ob solche Auserwählte ganz besondre Kennzeichen an sich tragen müßten, als ob sie anders aussehen, etwas ganz Ungewöhnliches in ihrer Erscheinung liegen, kurz, ein wenigstens den Eingeweihten sichtbarer Heiligenschein sie umfließen müßte. Und nun stellte sich's heraus, daß ihre eigne Erzieherin, die ihr vier Jahre lang Rechnen und Rechtschreiben beigebracht, eine dieser Heldinnen der Pflichterfüllung war! Wer hätte das je gedacht?

Mehr und mehr begeisterte sich Agnes für dies schweigsame, unerkannte Martyrium. Selbstaufopferung war eine ihrer Lieblingsideen, und manche Stunde hatte sie schon mit allerlei Bildern einer solchen verträumt, allein nun hatten ihre Träume bestimmte Gestalt angenommen. Während ihre rege Phantasie die verschiedensten Variationen über dieses Thema ausspann, bemerkte sie nicht, daß ein profaner Fuß ihre geliebte Lindenallee durchschritt und sich ihr näherte. Plötzlich schreckte sie zusammen und blickte auf.

»Ermil,« sagte sie, »Sie haben mich ordentlich in Schrecken gejagt!«

»Das wünschte ich nun eben nicht,« versetzte er lächelnd. »Ich wußte, daß Sie hier sind, und kam deshalb her, auf die Gefahr hin, als zudringlicher Störenfried zu erscheinen. Wenn Sie aber befehlen, daß ich mich zurückziehe –«

»Weshalb denn?« fragte sie mit einem Anflug von Hochmut. »Wir können uns hier ebensogut unterhalten, als wenn wir eine Quadrille zusammen tanzen.«

Sie war aufgestanden. »Es plaudert sich besser im Gehen,« setzte sie hinzu.

Ermil trat an ihre Seite und sie schritten nebeneinander langsam die Allee hinunter, ohne ein Wort zu sprechen. Endlich brach Agnes das Schweigen.

»Sind Sie nun mit Ihren Zukunftsplänen im Reinen?« fragte sie, ohne ihn anzusehen.

Er senkte das Haupt tief, ehe er antwortete, dann sagte er mit sehr ernster Stimme: »Ich glaube, ja.«

»Und was für einen Entschluß haben Sie gefaßt?«

»Ich habe im Sinn, auf dem Land zu leben und all meine Fähigkeiten auf die Bebauung und Verbesserung der heimatlichen Scholle zu verwenden.«

»Das ist recht,« sagte Agnes, ihr Köpfchen mit dem Ausdruck befriedigten Stolzes zurückwerfend.

»Mein Onkel Warlamof hat mir sein Vermögen hinterlassen, – haben Sie das nicht gewußt?«

»Nein; was folgt daraus?«

»Daß ich reich bin, ganz einfach, und daß ich nun ausführen kann, woran ich vor einem Jahre nicht denken durfte.«

Er hielt inne; sie hatte nichts gesagt und er fühlte sich entmutigt. Nach kurzem Schweigen fuhr er fort: »Sie haben mir dazu geraten, es so zu machen.«

»Ganz gewiß! Ich dächte, es gibt schon Leute genug, die ihr Geld in Petersburg oder in Moskau zum Fenster hinauswerfen. Sie können den Bauern und dem Boden viel Gutes thun! Verwenden Sie die Ihnen zu Gebot stehenden Mittel auf den Unterricht und die Erziehung Ihrer Leute und auf die Kultur ihrer Güter, und Sie werden sich belohnt finden!«

»Wodurch?«

»Durch das, was Sie schaffen und bessern. Und genügt Ihnen die Befriedigung Ihres Gewissens nicht schon?«

Ermil zeigte eine sehr niedergeschlagene Miene; offenbar hatte die Zufriedenheit seines Gewissens in diesem Augenblick keine besondern Reize für ihn.

»Mein Gewissen, o ja,« sagte er zögernd, »aber ich bin fünfundzwanzig Jahre alt; meine Studien sind beendigt; ich glaube, daß ich einen leidlich guten Landwirt abgebe, umsomehr als ich nicht viele falsche Theorieen im Kopf habe – ich hoffe wenigstens, daß die nicht falsch sind, die mich zu diesem Entschluß bewegen – und, übrigens, was die Theorie anbelangt, so hat sie ja ihr Gutes, das will ich nicht leugnen, aber sie muß praktisch erprobt werden.«

Agnes nickte beistimmend. Mit gewaltsamer Anstrengung und unsicherer Stimme fuhr er dann fort: »Agnes, haben Sie denn nicht gesehen, was ich mir freilich alle Mühe gab, sorgfältig zu verbergen?«

Allerdings wußte sie sehr genau, was er meinte, und hatte längst alles gesehen, aber zu diesem Geständnis hätte nichts in der Welt sie bewegen können.

»Schon lang sage ich mir, daß ich mich aussprechen muß, aus Furcht –«

Er konnte nicht weiter reden, es drohte, ihn zu ersticken. Agnes blieb unbeweglich; endlich raffte der arme Junge all seine Kraft zusammen.

»Aus Furcht, daß ein andrer mir zuvorkommen und sich aneignen könnte, was zu besitzen mir die höchste Seligkeit wäre, von der ich zu träumen vermag.«

Sie sah ihm voll ins Gesicht mit ihren grauen, feurigen Augen.

»Ich habe Sie verstanden, Ermil,« sagte sie, »ein andres junges Mädchen an meiner Stelle würde wohl nicht darauf verzichten, Sie zu einer deutlicheren Erklärung zu zwingen, aber solche Koketterie widerstrebt mir. Sie lieben mich?«

Er neigte sein Haupt, unfähig, eine Silbe hervorzubringen.

»Das ist, verzeihen Sie mir, das Wort, das ich auszusprechen im Begriff stehe – ich finde kein andres, so gern ich möchte – das ist unglückselig, Ermil, für Sie und für mich.«

»Unglückselig?« wiederholte er leichenblaß.

»Ja, denn ich liebe Sie nicht.«

»Aber Sie werden mich vielleicht lieben lernen.«

»Nein, ich werde Sie auch in Zukunft nicht lieben.«

Sie sprach es aus mit der ganzen unbewußten Härte und Grausamkeit, deren nur ein Herz fähig ist, das noch nicht von Liebe berührt. Sie ahnte nicht, wie die Wunde schmerzte, die sie schlug, und wie hätte sie es wissen können? Man muß gelitten haben, um Schmerzen zu verstehen.

»O,« nahm Ermil wieder das Wort, »wenn Sie wüßten wie sehr ich Sie liebe!«

»Ich habe Mitleid mit Ihnen!« sagte sie ruhig.

Aber trotz dieser anscheinenden Kälte durchbebte es das junge Mädchen mit heimlicher Freude. Ein Gefühl wie das einer Königin, der die ihr gebührende Huldigung zu teil wird, flog durch das junge, schwärmerische Köpfchen. Ermil ging, starr vor sich hinblickend, neben ihr her.

»Ich kann Sie nicht lieben,« sprach Agnes, »ich weiß nicht, ob es daher kommt, daß wir uns von klein auf kennen, aber Sie werden mir immer nur ein Bruder sein.«

»Und ich, ich liebe Sie bis zum Wahnsinn!« rief der Aermste.

Agnes runzelte die Stirn. Daß er sie liebte, war ja ganz gut und that ihrem Selbstgefühl entschieden wohl; aber wenn dieser thörichte Ermil sich einfallen ließe, zu klagen und ihr Vorwürfe zu machen, so wäre das sehr unangenehm. Weshalb konnte er sein Urteil nicht mit ruhiger Würde hinnehmen, wie sie es ausgesprochen hatte?

»Wenn dem so ist,« sagte sie, »so wird wohl nur ein Ausweg möglich sein: wir dürfen uns nicht mehr sehen!«

»Nicht mehr sehen! Unmöglich! Setzen Sie sich nur in meine Lage! Sie lieben mich nur wie einen Bruder, aber ich liebe in Ihnen die Jugendgespielin und die Frau, mit der ich in Leben und Tod verbunden sein möchte.«

»Bitte, davon dürfen Sie mir von nun an nicht mehr sprechen, noch es mir auf irgend eine Art zeigen.«

Er schwieg.

»Seien Sie vernünftig, Ermil, lassen Sie uns ruhig miteinander sprechen,« fuhr Agnes in überredendem Ton fort. »Ich kann für Sie nichts thun, Sie aber können mir das Leben verbittern und verleiden, indem Sie wie eine wandelnde Anklage neben mir hergehen. Es ist doch nicht meine Schuld, daß ich Sie nicht liebe.«

Ermil war über diesen Punkt nicht ganz mit sich im Reinen, aber er fand keine Entgegnung.

»Ueberdies,« sprach Agnes weiter, »würden ja meine Eltern, sobald sie Kenntnis von dem Vorgefallenen hätten, Sie schon in Ihrem eignen Interesse bitten, unser Haus nicht mehr zu besuchen, wenigstens nicht in nächster Zeit ...«

Das war richtig und Ermil fühlte sich geschlagen.

»Sie müssen also Mut und Kraft zum einen oder zum andern haben,« docierte die junge Philosophin weiter. »Entweder verzichten Sie auf einen ferneren Verkehr zwischen uns, oder Sie geloben mir gleich jetzt, mir nie wieder von Liebe zu sprechen und mich durch nichts in Ihrem Thun und Lassen an unsre heutige Unterredung zu erinnern ...«

»Das wird mir nicht möglich sein,« gab Ermil mit einem schmerzlichen Lächeln zur Antwort.

»Es ist mein voller Ernst,« bemerkte Agnes mit strenger Miene. »Wenn Sie nicht im stande sind, sich soweit zu beherrschen, so muß ich unbedingt darauf dringen, daß Sie mir nicht mehr vor Augen kommen, ehe Sie sich diese Thorheit aus dem Kopf geschlagen haben.«

Sie war nun wirklich zornig. Unterstand sich dieser Mensch nicht, ihr Widerstand zu leisten? Und das in einer Sache, wo sie unumschränkt berechtigt war, zu gewähren oder zu versagen?

Ermil war aufs tiefste bestürzt. Er kannte ihre Heftigkeit; er wußte, wie geneigt sie war, einen Gewaltstreich auszuführen, auf die Gefahr hin, denselben hernach bitter zu bereuen, und er sagte sich auch, daß ein Wort von ihr, ihm von seiten ihrer Eltern herzliches Mitgefühl und den gut gemeinten Rat zuziehen würde, sich zu entfernen, eine Reise zu unternehmen, mit einem Wort zu vergessen und in Vergessenheit zu bringen, was er empfand.

»Agnes,« bat er demütig, »verbannen Sie mich nicht aus Ihrer Nähe!«

»So bleiben Sie,« versetzte sie mit Würde, »aber dann werden Sie mir Ihr Ehrenwort geben, daß Sie nie mit einer Silbe, nie mit irgend einer Handlung mich daran erinnern werden, daß Sie mich lieben. Schwören Sie mir das?«

»Ich gelobe es,« sagte Ermil leise.

»Und wenn Sie Ihr Wort brechen sollten?«

»So werde ich selbst mich zu bestrafen wissen, Sie sollen nie in die Lage kommen, mir Vorwürfe zu machen.«

»Gut – unter diesen Bedingungen lassen Sie uns Freunde sein.«

Dabei streckte sie ihm wie selbstverständlich und ganz unbefangen die Hand hin, die er ergriff, wie die eines guten Kameraden drückte und mit einem tiefen Seufzer wieder fallen ließ.

Die Tischglocke, welche zum zweiten Frühstück rief, mahnte die beiden an die Heimkehr; sie schlugen den Rückweg gemeinsam ein, er, schweigend und gedrückt, sie, leichtfüßig und kaum im stande, ihre Fröhlichkeit zu verbergen. Es war ihr, als flöge sie nur so dahin, und war ihr denn nicht auch ein kostbares Geschenk zu teil geworden, hielt sie denn nicht in den kleinen, unerfahrenen und grausamen Händen das prächtigste Spielzeug, das funkelndste Kleinod – ein Menschenherz, das sie von nun an durchstöbern und martern konnte – nicht, um ihm weh zu thun – o Gott behüte, nein, nur um zu sehen, wie das Ding eigentlich beschaffen und zusammengesetzt sei.

Ihm war zu Mut wie einem Vogel, der in eines Kindes weiche und doch so harte Hand geraten; sein Herz pochte unter dem Druck der ungeschickten Fingerchen, und er wußte nicht, ob sie ihn ganz und gar ersticken würden, oder ob es ihm jemals wieder gelingen würde, sich frei hinaus zu schwingen. Was seinen Schwur betraf, dessen ganze Tragweite und Unerfüllbarkeit er noch nicht ermaß, so bereute er keinen Augenblick, ihn geleistet zu haben, und wenn er auch für eine etwaige Verletzung seines Eides jeden Tag seines Lebens gestraft werden sollte, so würde er dann doch all die Stunden genossen haben, die dem unheilvollen Augenblick vorangegangen. Und sollte es ihm denn nicht gelingen, ihr Herz zu gewinnen, wenn er in ihrer Nähe blieb? War es denn denkbar, daß eine so tiefe, demütige, selbstlose Liebe sie nicht doch noch rühren und erweichen mußte?

Von allen Seiten waren die Gäste herbeigeströmt und harrten nun, auf der Veranda plaudernd, des zweiten Glockenzeichens. Dosia sah Agnes in Ermils Begleitung auf das Haus zukommen.

»Sie hat ihn ausgezankt,« sagte sie lachend zu ihrem Gatten. »Sieh nur, wie er die Ohren hängen läßt, die kleine Hexe dagegen scheint seelenvergnügt zu sein.«

Plato sah den jungen Mann aufmerksam an und erwiderte nichts. Er verstand die Schrift zu lesen, welche große Lebenskämpfe in eines Menschen Antlitz schreiben, und als Ermil an ihm vorüberging, legte er freundlich und liebevoll den Arm des jungen Mannes in den seinen und zog ihn plaudernd mit sich fort nach dem Speisesaal.


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