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Erstes Kapitel. Zwanzig Jahre verheiratet

»Dies Glas unsern Freunden! Und möge ihnen dieser Tag noch oft so glücklich und sonnig wiederkehren!« sprach Peter Murief, den bis zum Rand mit perlendem Sekt gefüllten Krystallkelch erhebend.

Mit gewohnter Liebenswürdigkeit und Anmut dankten die Gefeierten für den kleinen Toast; die Kinder kamen herbei und küßten die Eltern, allgemeine Bewegung entstand, Küsse und Händedrücke wurden freigebig ausgetauscht, und es dauerte eine Weile, bis jeder wieder an seinem Platz saß. Eine kleine Pause trat ein, man nickte sich fröhlich und befriedigt gegenseitig zu, und die Diener thaten ihr Möglichstes, um Gabeln und Messer rasch und lautlos verschwinden zu lassen, und an Stelle der massiven Réchauds erschien ein künstlerisch aufgebautes Dessert. Der Tisch war entzückend anzusehen: alles zeigte vornehmen Geschmack und festgegründeten Besitz. Da waren keine zerbrechlichen Modespielereien, sondern altes Silberzeug von herrlicher getriebener Arbeit und wundervoll geschliffener Krystall, und doch sah das Ganze wieder phantastisch und märchenhaft aus, denn von der Decke herab hingen aus einer Menge graziöser Blumenampeln hervorquellend üppig blühende und grünende Schlingpflanzen, an Stelle von Lampen erleuchteten Wachskerzen den Raum und über dem Ganzen lag ein poetischer Hauch, der einen eigenartigen Sinn der Besitzer verriet.

»Du siehst dir unsre Zimmerdecke an,« sagte der Hausherr, Plato Surof, zu seinem Schwager Peter. »Das ist Dosias Idee.«

»Die ihrem Geschmack alle Ehre macht, nur muß man in seinen eignen vier Pfählen sein, um so was in Scene zu setzen! Mein Hauswirt in Petersburg würde einen netten Lärm aufschlagen, wenn ich ihm so ein paar Dutzend Löcher in seinen Stuckplafond schlagen ließe! Aber reizend ist's, wie alles, was in Dosias Köpfchen gewachsen ist,« setzte Murief mit einer leichten Verbeugung gegen seine Schwägerin hinzu.

»Der Ansicht bist du nicht immer gewesen!« rief Frau Dosia lachend. »Gott, wenn ich an die schönen Predigten denke, die du einst der Cousine gehalten! Ich glaube überhaupt nicht, daß je ein junges Mädchen existiert hat, das gründlicher ausgezankt worden ist als ich!«

»O doch!« ließ sich vom andern Ende des Tisches eine etwas verdrießliche Stimme vernehmen, »ich!«

Diese Behauptung hatte ein so einstimmiges herzhaftes Gelächter zur Folge, daß die Epheuranken leise schaukelnd hin und her schwankten, und selbst das arme Opferlamm sich eines Lächelns nicht erwehren konnte.

»Du, Ania?« begann Onkel Peter, sich feierlich den Zwicker aufsetzend, um die interessante Nichte eingehend zu betrachten, »ja du bist eben auch ganz dazu angethan, gescholten zu werden.«

Agnes hatte vor seinem ironischen Blick ärgerlich die Augen gesenkt, wenn gleich noch ein verräterisches Lachen um ihre Mundwinkel zuckte.

»Das merke ich!« versetzte sie trocken und gereizt, und die flammende Röte, die ihr Gesichtchen plötzlich bedeckte, ließ einen Zornesausbruch des kleinen Vulkans befürchten, allein ein milder, guter Blick aus Frau Sophie Muriefs Augen wirkte sofort besänftigend. Diese Tante Sophie hatte ein gewisses Lächeln, das einem ins Herz drang, man mochte wollen oder nicht, und Agnes war zwar sehr wohl im stande, der Mutter Trotz zu bieten, der Tante nie.

»Dosia die zweite,« lachte General Baranin.

»General,« rief Frau Surof, »wo bleibt der Respekt?«

Erneuerte Heiterkeit der Tischgesellschaft.

»Meine Schuld ist's doch nicht,« verteidigte sich der alte Hausfreund, »daß Ihre Originalität dem Namen zu einer historischen Bedeutung verholfen hat. Sie müssen die Last des Berühmtseins eben tragen wie andre große Leute.«

»Ach!« seufzte Dosia, »es ist so lang her, daß ich jung gewesen!«

Dieser wehmütige Ausspruch rief eigentümlicherweise wieder so stürmische Heiterkeit hervor, daß man sich ein paar Minuten lang nicht mehr verständlich machen konnte.

Nur Agnes allein lachte nicht.

»Ich möchte nur wissen, weshalb man bei Mama alles drollig findet, was man an mir strafwürdig und abscheulich fände,« dachte sie bei sich, schwieg aber stille.

Freilich strafte Dosias ganze Erscheinung ihren melancholischen Stoßseufzer gründlich Lügen. Wohl sagte man sich, daß sie vor zwanzig Jahren schon reizend gewesen sein müsse; die seither verstrichene Zeit hatte ihrer damals noch kindlichen Anmut einen andern Charakter verliehen, und heute war sie eine schöne Frau; ihr Teint hatte allen Schmelz und alle Frische der ersten Jugend bewahrt, und ihre Augen leuchteten wie nur je.

»Dosia, es sind heute zwanzig Jahre, daß du meinen vortrefflichen Freund Plato geheiratet hast,« bemerkte Peter Murief, »erinnerst du dich vielleicht auch des vorhergehenden Jahres?«

»Sicherlich,« erwiderte Madame Surof, unmerklich errötend.

»Weißt du, daß wir gerade ein Jahr vorher am nämlichen Tag miteinander davongefahren waren?«

»Wobei das Reisegepäck aus zwei Apfelsinen und einem in ein Taschentuch gebundenen Töpfchen Eingemachtes bestand,« setzte Plato launig hinzu.

»Ein Jahr vorher? Gerade an dem Tag? Nein, das wußte ich nicht. So genau hatte ich mir die Geschichte nicht gemerkt,« versetzte Dosia etwas von oben herab.

»So, Peter, hier hast du dein Teil,« scherzte Sophie freundlich.

»Allerdings, Liebste, das ist ein wohlgezielter Schlag für meine Eitelkeit. Aber sag doch einmal, Dosia, was wohl geschehen wäre, wenn ich mich damals geweigert hätte, dich wieder heim zu liefern?«

Madame Surofs Augen funkelten so übermütig, daß ihre Freunde sie wieder zu sehen glaubten, wie sie vor zwanzig Jahren gewesen.

»Was geschehen wäre, mein teurer Schwager,« erwiderte sie lebhaft, »das frage du deine rechte Wange; soviel ich weiß, war's damals deine linke, welche die Fertigkeit meines Handgelenks kennen gelernt hat.«

Diesmal stimmte auch Agnes fröhlich in das Gelächter der Tischgesellschaft ein; es befriedigte sie entschieden, daß der allezeit necklustige Onkel Peter eines schönen Tages von ihrer Mama gezüchtigt worden.

»Eine Ohrfeige, Onkel Peter?« sagte sie, sobald sich wieder einige Ruhe eingestellt hatte.

»Allerdings, Nichtchen.«

»Peter«, flüsterte Dosia, »ich meine vor den Kindern –«

»Glaube mir,« sagte Madame Murief halblaut zu ihrer Schwägerin, »es ist von großem Wert, daß die Kinder im Leben der Eltern keine Geheimnisse vermuten und darüber grübeln.«

Dosia und ihr Gatte erklärten sich kopfnickend mit dieser Auffassung einverstanden.

Peter, der scheinbar gleichgültig der kleinen Besprechung gefolgt war, wandte sich nun kampfbereit seiner Nichte zu.

»Du, Onkel, sag mir, ob dir diese Ohrfeige weh gethan hat.«

»Kind, sieh dir die Feenhändchen deiner Mama an und beantworte dir dann die Frage selbst.«

Agnes betrachtete ihre eignen kleinen Hände und zuckte die Achseln: sie wußte aus Erfahrung, daß ein Schlag mit diesen schlanken rosigen Fingern ihrem großen Bruder noch vor wenigen Jahren Schmerzenslaute entlockt hatte.

»Ach, und würdest du nicht so gut sein, mir anzuvertrauen, welche Wirkung diese interessante Ohrfeige gehabt hat,« forschte Agnes weiter.

»Ania«, flüsterte ihr der Bruder in vorwurfsvollem Tone zu.

Sie zog die Schultern in die Höhe, was ihre gewöhnliche Antwort auf Ermahnungen war.

»Wirkung?« wiederholte Peter, »nun die war wunderlich genug und höchst erfreulich obendrein. Die ›Wirkung‹ war die, daß ich deine Tante Sophie geheiratet habe, und deine Mutter meinen Freund Plato – das genügt!«

Agnes sah sehr verblüfft und ungläubig vom einen zum andern.

»Ich werde dir nachher alles erzählen,« sagte Frau Sophie Murief zu dem jungen Mädchen, »und du wirst sehen, daß alles, ganz einfach und natürlich zugegangen ist.«

»Was dir deine Tante dabei aber verschweigen wird,« setzte Sofia hinzu, »ist, wie engelsgut sie gegen mich gewesen, sie und ihr Bruder, dein Vater, mein Kind – es lebt kein edlerer Mensch als er – es müßte denn seine Schwester sein.«

Ein feuchter Schimmer verlieh Sofias Augen wieder vollsten Jugendglanz, als sie mit diesen Worten vom Tisch aufstand und das Zeichen zum allgemeinen Aufbruch gab. Plato trat zu seiner Frau und küßte ihr innig die Hand. Er hatte sie lieb gehabt mit all ihren kindischen Unarten und Schwächen; seit sie als Frau und Mutter so unendlich viel inneren Wert entwickelt hatte, liebte er sie mit einer Innigkeit, die wie jedes echte und wahre Gefühl mit den Jahren sich immer mehr vertiefte und befestigte.

Eine Hand auf ihre Schulter gelegt, zog Tante Sophie das junge Mädchen in ein behagliches Plaudereckchen, wo sie hinter einer mit Schlingpflanzen bewachsenen Wand von den übrigen getrennt waren. Sie ließen sich aus ein kleines Sofa nieder, indes die Gesellschaft sich in dem ungeheuer großen, glänzend erleuchteten Raum gruppierte.

»Erinnerst du dich deiner Großmutter?« begann Sophie.

»Mamas Mutter? Ja wohl, ich erinnere mich ihrer; sie war immer schlechter Laune.«

»Sie ist nun tot,« bemerkte Frau Murief mit leiser Mahnung. »Nun siehst du, sie war ihrer ganzen Natur nach nicht dazu angethan, deine Mama zu verstehen.«

»Das kann ich mir denken! Mama fröhlich, geistreich und übermütig, und die Großmutter verdrießlich und ...«

»Sprechen wir nicht weiter über sie, mein Kind, laß die Toten ruhen,« bat Sophie. »Du fühlst also wohl, daß dein Mütterchen in ihrer Nähe nicht eben glücklich war?«

Ein vielsagendes Kopfnicken bewies, daß Ania dies vollständig begriff und nachfühlte.

»Da kam nun einmal ein Tag, an dem alles besonders schief ging und deine Mama so erregt war, daß sie sich nicht mehr beherrschen konnte.«

»Was hatte sie denn gethan?« fragte Agnes neugierig.

Einen Augenblick blitzte die helle Lachlust in Sophiens Augen auf, sie wußte sich aber zu beherrschen und vollkommen ernsthaft zu bleiben.

»Soviel ich mich erinnere, handelte es sich um einen Hund bei der Geschichte. Aber das gehört gar nicht zur Sache.«

»O Tantchen! Ich möchte aber alles wissen! Bitte, erzähle!«

»Ich erinnere mich wahrhaftig der Einzelheiten nicht mehr genau. Es schwebt mir so etwas vor, als ob Dosia einen ungeheuren Hund in Nachthemd und Nachthäubchen in ihr Bett gesteckt hätte ...«

»Das war der Sultan, ganz gewiß!«

»Richtig. Eine deiner Tanten, die im selben Zimmer schlief, erschrak furchtbar, rief um Hilfe –«

»Meine unausstehlichen Tanten! Wie mich das freut! Ich möchte nur wissen, welche es war. Ich kann eine so wenig leiden wie die andre,« jubelte das junge Mädchen und drückte sich lachend in die Kissen des Sofas.

»Dosia wurde gescholten, der Hund geschlagen –«

»Der arme gute Kerl!«

»Mein Mann, damals nur der Vetter deiner Mama, war zur Zeit als Gast im Hause. Dosia wollte um jeden Preis ihre Heimat verlassen und fuhr mit ihm auf und davon; sie waren aber kaum eine Werst weit entfernt, als sie ihre Thorheit einsah; Peter war damit natürlich nicht einverstanden und empfing die denkwürdige Ohrfeige, von der vorhin die Rede gewesen, worauf er deine Mama unter die mütterlichen Fittige zurückbrachte.«

»Und da wurde sie natürlich noch mehr gescholten als vorher?«

»Nun, du wirst zugeben müssen, daß einiger Anlaß vorhanden war.«

»Wie man's nimmt!« meinte Agnes mit vielsagendem Achselzucken. »Und dann?«

»Dann lernte kurze Zeit darauf mein Bruder Dosia kennen. Peter hatte ihm von ihr erzählt: die beiden waren Freunde; wir alle machten gegenseitig Bekanntschaft, und schließlich entstanden unsre beiden Heiraten.«

Agnes verharrte in tiefem Nachdenken.

»Worüber sinnst du nach?« fragte ihre Tante.

»Ich dachte eben, daß wenn ich in dieser Weise von Hause wegginge, es mir nicht einfallen würde, nach einer Viertelstunde wieder heimzukommen.«

»Das wäre sehr unrecht von dir,« erwiderte Sophie ruhig und wohlwollend. »So phantastisch deine Mama auch in jener Zeit war, so muß man doch zugeben, daß sie sich im Kreis ihrer Schwestern thatsächlich unglücklich gefühlt hat; du dagegen hast eine unendlich glückliche Jugend; es ist folglich gar keine Aehnlichkeit zwischen deiner und ihrer Lage vorhanden.«

»Und du bist die beste, liebste Herzenstante der Welt,« rief das junge Mädchen, indem sie Frau Murief in die Arme schloß.

Nachdem sie das Gespräch in dieser stürmischen Weise beendet hatte, trat Agnes zu ihrem Bruder, der sich mit zwei oder drei Kindern, seiner jüngsten Schwester und seinem Freund Ermil Makof in eine Ecke zurückgezogen hatte. Es ging lustig zu in diesem kleinen Kreis, und man begrüßte Agnes fröhlich darin, allein im nämlichen Augenblick kam die Erzieherin der jungen Mädchen herbei.

»Wera,« sagte sie, »es ist Schlafenszeit. Du bist noch nicht ganz erholt von deinem Fieber ...«

Das etwa zwölfjährige Mädchen stand ohne ein Wort der Widerrede auf, küßte den Eltern die Hand und verließ schweigend den Salon, was Agnes ordentlich entrüstet mitansah.

»Soll ich dir sagen, was du denkst, Schwesterherz?« bemerkte ihr Bruder, der sie beobachtet hatte.

»Immer zu, Kola! Wird ein hübscher Unsinn herauskommen!«

»Nein, Teuerste, nur die reinste Wahrheit. Du denkst, daß Weras Tugendhaftigkeit eine Schande sei, und daß du unter diesen Umständen geblieben wärest, einerlei, ob es morgen früh ein Donnerwetter setzte oder nicht!«

»Donnerwetter setzen! Was du für burschikose Ausdrücke hast, Bruder!«

»Und welch tiefe Menschenkenntnis ich habe, Schwester!«

Ermil kam dem jungen Mädchen zu Hilfe. Er war ein etwas schwerfälliger Mensch, groß und breitschulterig; das Sitzen über den Büchern hatte seinen Rücken schon merklich gewölbt, obwohl er kaum fünfundzwanzig Jahre alt war. In seinem ganzen Wesen sprach sich Geradheit und Schlichtheit aus; ein Mensch, der allem Schein abgeneigt, unwandelbar in seinem Urteil, das war der Eindruck, den jeder von ihm empfing. Er war überaus sorgfältig und mit Geschmack gekleidet, und doch sah man auf den ersten Blick, daß er zu den Männern gehörte, die sich aus Pflichtgefühl und nicht aus Eitelkeit korrekt kleiden. Seine ganze Persönlichkeit hatte so wenig von dem, was man »brillant« nennt, daß man ihm monatelang täglich hätte begegnen können, ohne ihn zu bemerken; hatte man ihn aber einmal bemerkt, so mußte man ihm Aufmerksamkeit schenken, und hatte man sich eine Stunde mit ihm unterhalten, so trug man Verlangen, seine Freundschaft zu erwerben.

»Fräulein Agnes,« sagte er, »spielen Sie uns nicht etwas vor?«

Agnes sah ihn etwas ungnädig an, ließ sich aber doch erweichen. Bei Licht besehen, war es ihr nicht unangenehm, sich hören zu lassen.

»O ja,« erwiderte sie, »spielen will ich schon, aber nur vierhändig.«

»Von Herzen gern,« versicherte Ermil, und eilte, das Instrument zu öffnen.

Sie spielten beide gut; Agnes mit mehr Temperament und Phantasie, er mit außerordentlicher Sicherheit und ernstem Geschmack. Das Spiel des Einzelnen hätte schwerlich so befriedigt, wie ihr Zusammenspiel, bei dem ihre Vorzüge und Schwächen sich gegenseitig ausglichen und ergänzten. Die Gesellschaft hörte ihnen mit halbem Ohr zu, ohne daß die Unterhaltung darüber verstummt wäre; da die beiden aber ernstlich Freude an der Musik hatten, spielten sie ungestört und, ohne Beifall zu verlangen, um dieser selbst willen.

»Wie gut das zusammen geht!« sagte Peter Murief.

Plato sah sein reizendes Töchterlein mit berechtigtem Vaterstolz an.

»Sie ist musikalisch,« sagte er, »kann überhaupt so ziemlich alles, was sie will. Wenn sie nur nicht so schwierig zu behandeln wäre!«

»Familienzug!« bemerkte Peter.

Er war seiner Schwägerin von Herzen zugethan, aber aus den Tagen der Kindheit und Jugend her war Necken und Streiten zwischen ihnen zur unausrottbaren Gewohnheit geworden.

»Gewiß,« versetzte Dosia, »nur war ich nicht so herb.«

»O!« seufzte Peter ausdrucksvoll und drückte die Hand mit so drolliger Schmerzensmiene auf seine Wange, daß alle drei lachen mußten.

»Ich wollte damit nur sagen,« fuhr Frau Surof fort, »daß ich nicht die an Härte grenzende Festigkeit besaß, die mich an dem Kind oft beunruhigt.«

»Was das betrifft,« erklärte Peter, »so sind das einfach die Tugenden des Vaters, die sich durch die Uebertragung etwas anders gestaltet haben.«

»Lache nur, du weißt, daß ich das gut ertrage,« sagte Plato, »aber es ist allen Ernstes wahr, daß Agnes in einzelnen Momenten etwas Herbes hat, was mir für ihre Zukunft Sorge einflößt.«

»Warte es nur ab, bis die Heiratsgedanken kommen, Dann wirst du ja sehen!«

»Gerade der Punkt beunruhigt mich! Sie ist ebenso hart gegen sich, wie gegen andre, und ich weiß nicht, was daraus entstehen wird. Kola ist aus ganz anderm Stoff.«

»Ach, Kola ist ein prächtiger Mensch!« rief Dosia und sah wohlgefällig zu ihrem Sohn hinüber, der eben den Kindern den Mechanismus eines kunstvollen Spielzeugs auseinandersetzte. »Er ist gut, und geduldig und vernünftig! Das Ebenbild seines Vaters!«

»In verbesserter Auflage,« lachte Plato. »Wohl und gut, und daß Agnes nicht das Ebenbild ihrer Mutter ist, das beklage ich!«

»Ach, und ich habe doch zu den ›abschreckenden Beispielen‹ gehört,« seufzte Dosia. »Und ob ich es im Vernünftigsein sehr weit gebracht habe, bleibt dahingestellt! Es glimmt noch unter der Asche ...«

»Mama, Tante, dürfen wir tanzen?« hieß es plötzlich, und die jungen Leute und Kinder umringten die Hausfrau.

»Gewiß, wenn es euch Spaß macht,« erklärte Dosia.

Ermil und Agnes hatten soeben den Schlußaccord angeschlagen, und das junge Mädchen stand mißvergnügt auf, denn sie hatte keine Freude am Tanzen. Als Ermil aus dem Durcheinander von Stimmen endlich herausgehört hatte, um was es sich handle, drehte er sich mit dem Klavierstuhl, von dem er noch nicht aufgestanden war, und intonierte einen der hinreißendsten Straußschen Walzer, was sofort die ganze Gesellschaft in Bewegung brachte. Wenige Augenblicke nachher wirbelte mit Ausnahme der allerehrwürdigsten Gestalten alles in dem kühlen hohen Saal, durch dessen Fenster ein frischer Abendwind hereindrang, umher.

Fräulein Titof, die ihre jüngste Schülerin zu Bett gebracht hatte, trat wieder ein und setzte sich neben Agnes, die nicht tanzte.

»Bekommst du denn gar keine Lust?« fragte sie. »Sieh nur, wie fröhlich alle dreinschauen. Deine Mama sieht heute kaum zwanzigjährig aus.«

»Und ich komme mir sechzigjährig vor,« erwiderte Agnes trocken. »Es ärgert mich, wenn Leute jung thun, die keine Haare mehr auf dem Kopf haben. Ich sage das nicht in Beziehung auf Mama oder Papa«, setzte sie rasch hinzu, »und ebensowenig dachte ich an Onkel und Tante Murief. Die sind liebenswürdig und von Herzen froh, und ich freue mich über alles, was ihnen Vergnügen macht.«

»Könnte nicht behaupten, daß man dir das ansieht,« warf ihr Bruder hin, der eben mit Ermils Schwester vorüberwalzte.

Ohne ihn einer Antwort zu würdigen, fuhr Agnes fort: »Was mir zuwider ist, sind ernsthafte Leute, wie der General Baranin, die wohl wissen könnten, was sich für ihr Alter ziemt. Aber was kümmere ich mich darum? Die Welt scheint sich ja sehr wohl dabei zu befinden.«

»Fräulein Agnes, diesen Walzer?« bat Ermil, sich vor ihr verneigend – eine alte Dame hatte ihn am Klavier abgelöst.

Sie sah ihn mißvergnügt an, aber sein Ausdruck war so treuherzig und ergeben, und sie wußte, daß er den ganzen Abend nicht mehr tanzen würde, wenn sie es begehrte; so stand sie langsam auf und ließ sich mit hineinziehen in den Wirbel. Sie hatten kaum die Hälfte des Saales durchtanzt, als sie ein kleines Paar in tausend Nöten erblickten. Ein etwa zwölfjähriger Junge drehte sich jammervoll mit seiner kleinen Dame im Winkel umher, ohne daß es ihnen gelingen wollte, den Wall zu durchbrechen, den ein paar Stühle um sie bildeten.

Sofort machte Agnes sich von ihrem Tänzer los, faßte den Jungen an, und das kleine Mädchen in Ermils Arme werfend, rief sie: »Machen wir zwei Herzen glücklich!«

Eine Sekunde darauf flog sie mit dem niedlichen Kavalier dahin, und als sie in die Nähe einer der Glasthüren kam, die auf die das ganze Haus umgebende Veranda hinausgingen, rief sie plötzlich: »Hinaus, hinaus in den Mondschein!«

Glockenhell tönte ihre Stimme durch den Raum; sämtliche Paare stiegen die fünf oder sechs Stufen hinunter, die in den Garten führten, und walzten, ohne aus dem Takt gekommen zu sein, fröhlich weiter.

»Eine Polonaise!« rief Peter Murief laut, »wir führen den Zug würdig an!«

Fräulein Titof hatte den Ruf vernommen; die alte Dame machte ihr Platz und bald ertönte durch den glänzend erleuchteten, leeren Saal eine Polonaise, deren Rhythmus fast die Bäume zum Tanzen gebracht hätte; nur die Whistspieler in ihrer Unerschütterlichkeit bemerkten nicht einmal die Veränderung, die um sie her vorgegangen war.

Peter führte seine Schwägerin und schritt feierlich an der Spitze des Zuges einher. Paar auf Paar hatte sich eingereiht und in strengem Takt wandelte man zwischen den duftigen Blumenbeeten in den ersten Strahlen des Vollmondes rings um das Haus.

Lachend hatte man den Tanz begonnen, aber bald hatte sich ein gewisser Ernst der fröhlichen Gesellschaft bemächtigt: der Duft der Resedas und des Heliotrops, die tiefe feierliche Ruhe der Landschaft, deren Nebelschleier das silberne Mondlicht lüftete, die wundersam wehmütige Stimmung und Poesie der Nacht durchbebte auch die nüchternsten Herzen.

»Was für ein Abend, Dosia!« sagte Peter, indem er eine neue Schwenkung der Kolonne ausführte. »Wie traurig, nicht mehr jung zu sein!«

»Wir sind es zum zweitenmal in unsern Kindern,« tröstete Dosia mit leiser Wehmut im Ton.

»Ja, und doch sind wir es selbst nicht! Und was wissen sie denn vom Jungsein? Wir, wir sind es gewesen! Unsinn! Wir sind es heute noch!« rief er. »Fort mit dem Weltschmerz! Changement de dames!« kommandierte er mit weit hintönender Stimme und klatschte dazu in die Hände.

Die Folge dieses Einfalls war ein unbeschreibliches Durcheinander, das allgemeine Heiterkeit erregte. Mit Ausnahme der drei oder vier ersten Damen, die das Manöver richtig ausgeführt hatten, indes Peter die ganz zuletzt gehende Agnes holte, waren alle übrigen vorwärts marschiert. Zuguterletzt hatte jeder irgendwie eine Tänzerin erwischt; Fräulein Titof aber war boshafterweise in einen andern Rhythmus übergegangen. Bald indes hatte man sich über die neue Tanzweise orientiert, und die ganze Schar stürmte in rasendem Galopp in den Salon zurück.

Nach Luft schnappend stürzte Peter auf ein Sofa, die Musik brach ab und der eben noch verlassene Saal tönte wieder von Lachen und Scherzen.

»Nun, Ania, bist du vergnügt?« fragte Plato, seine Tochter an einer ihrer langen Haarflechten festhaltend.

Das Gesichtchen, das sich ihm zuwendete, sah allerdings nichts weniger als gelangweilt aus.

»Sei fröhlich und glücklich, mein Herz!« sagte der Vater, sie auf die Stirn küssend. »Dieser Tag soll für euch Kinder so sonnig und wolkenlos sein, wie für uns selbst.«

Agnes erwiderte seine Zärtlichkeit innig und eilte dann ans Klavier, denn die jungen Leute verlangten nach weiteren Tänzen. Ermil Markof hatte sich in eine ferne halbdunkle Ecke zurückgezogen und die Blicke fest auf Agnes gerichtet, ohne von ihr gesehen zu werden. Die Gewißheit, daß sie seine Züge nicht unterscheiden konnte, befreite ihn von allem Zwang, und er war glücklich, den Ausdruck ruhiger Freundschaft einmal eine Weile nicht festhalten zu müssen.

Wenn sie gewußt hätte, welche Hingebung dies reine junge Herz für sie erfüllte, wenn sie geahnt hätte, wie viel Mut, Entschlossenheit und unerschütterliche Selbstbeherrschung hinter der heiteren, nur allzu gutmütigen Miene des etwas schwerfälligen Jungen steckte! Aber er hätte sich ja geschämt, sich ihr zu zeigen, wie er wirklich war; sie hatte ihm ja oft genug gesagt, daß man sein Innerstes nicht preisgeben dürfe, und daß nur der ein Mann sei, der zu allen Zeiten Herr über sich selbst bleibe! Und ihr zu mißfallen, war das einzige auf der Welt, wovor er entsetzliche Furcht hatte!

Agnes war vor kurzem achtzehn Jahre alt geworden. Ermil kannte sie von klein auf, denn die sechs Jahre, die er älter war, hatten ihn nicht verhindert, sich innig mit Nikolas Surof zu befreunden. Freilich, ob er, der seine Studienzeit hinter sich hatte, als Kola noch ein Knabe war, sich so sehr an diesen angeschlossen hätte, wenn er nicht der Bruder dieser kühlen hochmütigen Schwester gewesen, bleibt eine offene Frage. Sein ganzes Herz hing an Surowa, dem Haus, in welchem Herr und Frau Surof sechs Monate des Jahres zubrachten; wohl bewunderte er auch ihre Wohnung in Petersburg, aber das rechte Nest und wirkliche Daheim war für ihn das Landhaus, wo tausend Kindheitserinnerungen sein Dasein mit dem der Freunde verknüpften. Sein Vater war ein schweigsamer alter Herr, der selten ausging und nach Tisch regelmäßig in seinem Fauteuil im Rauchzimmer einnickte. Er hatte spät im Leben geheiratet, war nach wenig Jahren verwitwet, und hing nun mit leidenschaftlicher Ausschließlichkeit an seinen Kindern, Marie und Ermil. Marie, die ältere, war ein Mädchen von achtundzwanzig Jahren, höflich, grundgut, eine rastlos thätige, tüchtige Haushälterin, die längst allen Heiratsgedanken entsagt hatte und sich vortrefflich dabei befand.

»Wenn nur alle es wüßten, wie viel leichter einem das Leben dabei wird!« sagte sie.

Als Ermil so dasaß, unverwandt auf Agnes hinblickend, deren hübsches Gesicht sich von der Anstrengung rosig färbte, setzte sich seine Schwester leise neben ihn und lehnte sich mit dem Kinn auf seine Schulter. Sie war sein Mütterchen gewesen, nachdem er die Mutter schon in der Wiege verloren, und trotz seines Alters behandelte sie den angebeteten Bruder immer noch ein wenig als Kind.

»Weshalb tanzest du nicht?«

»Ich ruhe aus,« erwiderte er, hastig die Blicke von ihrem bisherigen Ziel abwendend. Daß Marie sein Geheimnis erraten könnte, war ihm ein entsetzlicher Gedanke.

»Sieh doch Agnes an! Wie hübsch sie ist, wenn sie so viel Farbe hat! Das einzige, was man für gewöhnlich an ihr aussetzen könnte, ist ihre Blässe; heute abend ist sie ganz und gar reizend.«

»Sie strengt sich zu sehr an; ich will sie ablösen,« sagte er, rasch zum Klavier tretend.

Marie sah, wie er sich über Agnes beugte, um ihr etwas zu sagen, ohne daß er dabei gewagt hätte, sie anzusehen. Das junge Mädchen nickte zustimmend und erhob sich, ohne im Spiel aufzuhören; Ermil setzte sich und spielte den angefangenen Tanz weiter, so sicher im nämlichen Takt fortfahrend, daß kein Mensch eine Veränderung bemerkte.

»Wie wir gleichen Schritt halten,« sagte Agnes lachend.

»Wie gut einexerzierte Soldaten,« versetzte Ermil, dessen Herz bei dem kameradschaftlichen »wir« freudig schlug.

Er war unermüdlich an diesem Abend; Walzer auf Polka, Quadrille auf Quadrille folgte, ohne daß er sich hätte ablösen lassen. Die Kinder waren mit schläfrigen, weitaufgerissenen Augen zu Bett gegangen, voll Herzeleid, daß sie sich nicht länger auf den Füßen halten konnten; von den fünfzig Gästen, die heute bei Dosia gespeist hatten, zeigte auch nicht einer ein unbefriedigtes oder verstimmtes Gesicht, in diesem glücklichen, sonnigen Haus herrschte dauernder innerer Frieden, der sich jedem mitteilte.

Als die herabgebrannten Wachskerzen ihre Papiermanschetten in Brand steckten, erhoben sich sogar die Whist- oder Tarockspieler; auch für sie war jetzt der Abend schön und glücklich gewesen. Die guten Leutchen kannten sich seit langen Jahren und schätzten sich gegenseitig als Spielpartner, mancher von ihnen würde das Leben öde und freudelos gefunden haben, wenn die landesübliche Reihenfolge der Besuche und Einladungen es nicht möglich gemacht hätte, jeden Tag, den Gott werden ließ, die nämlichen Freunde zu treffen, die er nun seit vierzig Jahren zu treffen gewöhnt war. Von Zeit zu Zeit freilich machte der Tod eine Lücke in diese Tafelrunde, aber eine hilfreiche Vorsehung ließ dafür einen nach dem andern, von denen die jung gewesen, alt werden; sie hörten nach und nach auf zu tanzen und lernten die Freuden des Kartenspiels schätzen, und auf diese Weise trotzten die Spieltische dem Geschick und erhielten sich vollzählig.

Dosias Haus enthielt eine stattliche Reihe von Fremdenzimmern, und in dieser Nacht waren sie alle besetzt; die jungen Leute waren sogar in allerhand Nebengebäuden und Vorratskammern einquartiert, aus denen sich der nahrhafte Duft von Früchten und Getreide nicht so rasch vertreiben ließ. In der Nähe ansässige Gäste hatten den Wagen bei sich, und ihre Abfahrt bot ein reiches, fröhliches Bild. Nacheinander fuhr wohl ein Dutzend meist offener Viergespanne an der Rampe vor, um ihre Herren aufzunehmen; einer nach dem andern rollte davon, und langsam verklang das Geklingel der Glöckchen in der Ferne. Als der letzte Wagen den Hof verlassen hatte, löschten die Diener die Fackeln, welche die Abfahrt beleuchtet hatten, jeder suchte die Ruhe und der Mond goß sein helles Licht über das nun schweigende Haus, den blütenduftenden Garten und die fruchtbaren Gelände von Surowa.


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