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Siebentes Kapitel. Unterwegs

Nach einem unruhigen Schlummer in dem schmalen Bett der Damenkabine erwachte Fräulein Surof Beim ersten Morgendämmern. Ein seltsames Erwachen, anfangs verwirrt und fast fröhlich! Von Petersburg nach Surowa und umgekehrt machte Agnes zweimal im Jahre diese nämliche Reise, und im ersten Augenblick war es ihr, als ob es die gewohnte Fahrt in Gesellschaft der Ihrigen sei. Sie richtete sich halb auf, stützte sich auf den Arm und gewahrte nur fremde Gesichter.

Unsäglich schwer fiel es ihr plötzlich aufs Herz, – so allein, fern von denen, die sie lieb hatte, und gegen den Willen! Zum erstenmal kam es ihr in Sinn, welch tiefen Schmerz sie ihnen bereitet hatte, und bei dem Gedanken strömten unaufhaltsam heiße Thränen aus einem reuevollen Herzen.

Was hatten sie wohl gedacht, denken müssen, als sie nach Haus gekommen waren! Wie viel Thränen, wie viel Jammer bei dieser Entdeckung! Der Gedanke an ihren Vater vor allem zerriß ihr das Herz. Vielleicht fluchte er ihr jetzt in dieser morgendlichen Stunde, in der die hereinbringende Sonne ihm sonst nicht nur den Tag verkündet, sondern ihn immer als den in seinen Kindern glücklichen Vater gegrüßt hatte.

»Ach, ich habe zu wenig an sie gedacht,« sagte sie sich. »Selbstsüchtig habe ich nur mein eignes Leid empfunden.« –

Ein leidenschaftliches Verlangen, umzukehren, so rasch als möglich das Elternhaus wieder zu erreichen, ergriff sie; es war grausam, die teuern Menschen leiden zu lassen, lieber, viel lieber wollte sie selbst alles ertragen. –

Nachdem sie eilig ihren Anzug geordnet hatte, trat sie auf das Verdeck: es wehte eine so frische Brise, daß ihr die Augen übergingen. Sie ging auf den Kapitän zu und fragte ihn, ob man Aussicht habe, noch vor Nischni-Nowgorod einem stromabwärts fahrenden Schiff zu begegnen.

»Nein, Fräulein,« erwiderte dieser lächelnd. »Wir kreuzen mit keinem mehr; möchten Sie wieder nach Hause?«

Sehr verletzt über diese Vertraulichkeit, die nicht schlimm gemeint war, denn der Kapitän war ein braver Seemann mit grauen Haaren, gab Agnes ein trockenes »Nein« zur Antwort und zog sich in die Damenkabine zurück, wo sie sich sicher fühlte.

Zwei oder drei Stunden darauf kam Nischni-Nowgorod mit seinem Festungsgürtel und seinen Kirchen am tiefblauen Horizont in Sicht; die Wolga erschien, nachdem sich die Wasser der Oka mit den ihrigen vermischt, mehr wie ein See als ein Strom. Agnes sagte sich, daß ihr Geschick entschieden sei. Seit heute früh hatte sie alles erwogen und hatte sich klar gemacht, daß eine Umkehr all die Festigkeit und den Stoicismus verleugnen hieße, die ihr nun einmal als das Höchste im Leben erschienen. Und dann – ein klein wenig Lust nach Abenteuern, eine geheime Genugtuung, daß sie bis jetzt ihr Unternehmen mit Ehren durchgeführt, eine halb unbewußte Neugierde, wie das Leben sich wohl für die Mädchen gestalte, deren Eltern nicht zufällig reiche Gutsbesitzer, kurz alle diese minder edeln Gefühle, die sie sich selbst unter einer annehmbaren Hülle verbarg, drängten sie zu dem Entschluß, ihre Fahrt fortzusetzen. Den Hauptgrund freilich, der sie dazu bestimmte, den hätte sie sich selbst um keinen Preis eingestanden, denn das war die Furcht vor dem Tadel und den Vorwürfen, die sie zu Haus erwarteten, und das Gefühl, daß jede ihr auferlegte Buße ihren Widerstand nur steigern würde.

»Wozu noch einmal von vorne anfangen?« sagte sie sich. »Es wäre doch immer wieder das alte Lied; ich werde ihnen schreiben, das wird viel besser sein.«

Das Schiff legte an; Fräulein Titofs kleiner Koffer ward Agnes zugestellt. Im ersten Augenblick wußte sie nicht recht, was sie mit demselben anfangen sollte; von Kindheit auf hatte sie das Vorhandensein eines eignen Wagens am Bahnhof oder Landungsplatz als etwas Selbstverständliches betrachtet – heute war kein solcher erschienen.

Allein sie faßte sich rasch und that mit großer Tapferkeit, was sie in solchen Fällen andre hatte thun sehen: sie rief eine Droschke, ließ den Koffer vorn auf den Bock laden unter die Füße des Kutschers und befahl ihm, nach dem Bahnhof zu fahren.

Für Agnes war es sehr neu, sich in einem Vehikel zu befinden, das sein Gleichgewicht so mühsam erhielt und sie jeden Augenblick auf das holperige Pflaster zu schleudern drohte. Die größte Besorgnis flößte ihr der Kutscher ein, der auf nicht zu schildernde Weise, die Füße des Kofferchens halber hoch in der Lust, auf seinem Sitz balancierte. Daß diese abenteuerliche Kutsche heil und ganz den Hügel erklimmen sollte, den es freilich sehr langsam hinaufging, schien ihr ein Ding der Unmöglichkeit.

Ein paar offene Buden, Ueberbleibsel der großen alljährlichen Messe, brachten noch genügend Leben in die Straße, um das junge Mädchen in Erstaunen zu setzen, das lange nicht mehr in der Stadt gewesen war, da neuerdings eine Zweigbahn Surowa näher berührte und daher meist benutzt wurde. Doch war Agnes nicht gerade in der Stimmung, Beobachtungen anzustellen und das Malerische an den Dingen herauszufinden; die heiße Sonnenglut machte ihr Kopfweh, ihr noch nüchterner Magen ward etwas rebellisch und verursachte ihr im Verein mit dem Stoßen und Schwanken des Wagens ein an Seekrankheit gemahnendes Unbehagen.

Gegen all ihre Erwartungen wurde sie zu guter Letzt unversehrt vor dem kleinen hölzernen Gebäude abgesetzt, das damals interimistisch als Bahnhof diente. Der Zug ging bald darauf ab, und sie hatte nur eben Zeit, ihr Gepäck aufzugeben und eine Tasse sehr schwarzen und sehr bittern Thees hinunterzuschlucken, bei dem eine gekochte, weißliche Flüssigkeit die Rolle der Sahne vertrat.

Ehe sie zum Billetschalter trat, zählte Agnes den Inhalt ihrer Börse; sie war im Besitz von etwa hundert Rubel, da weder ihr Vater noch Tante Sophie es ihr je an Taschengeld fehlen ließen.

Hundert Rubel! Welch enorme Summe für ein junges Mädchen, das sich nie etwas anzuschaffen gehabt, als ein paar Luxusgegenstände! Wie viel Paar Handschuhe konnte man nicht darum kaufen! Sie nahm deshalb auch mit großem Behagen in dem Coupé erster Klasse Platz, da sie in keinem andern Wagen die Anstrengung einer achtstündigen Fahrt nach Moskau überstehen zu können glaubte.

Kummer und Bangigkeit waren ganz vorüber, wenigstens kam es ihr für den Augenblick so vor. Das Gefühl ihrer Selbständigkeit und der Plan, den sie anfangs nur im allgemeinen entworfen und dann auf dem Dampfschiff weiter ausgesponnen hatte, flößten ihr Vertrauen in die eigne Kraft und Energie ein.

Dieser Plan war einfach der: Fräulein Titofs Paß verschaffte ihr alle Vorteile der Stellung einer Erzieherin und diente ihr zugleich zur großen Empfehlung, indem ihr derselbe eine langjährige Thätigkeit in der Familie Herrn Surofs, Großgrundbesitzers im Regierungsbezirk Nischni-Nowgorod, bestätigte: was gab es also Einfacheres, als sich für Fräulein Titof auszugeben und eine Agnes Surofs Wünschen entsprechende Stellung zu suchen?

Bis hierher war die Sache sonnenklar; nun stellte sich aber die weitere Frage ein, auf welche Weise findet man eine Stellung als Erzieherin? Jedoch auch dieser Punkt machte Agnes keine große Sorge. Sie las ja jeden Tag unter den Zeitungsannoncen eine solche Menge von Gesuchen aller Art, daß es höchstens schwierig sein konnte, unter den angebotenen Stellungen eine Wahl zu treffen. Natürlich würde sie in irgend einem vornehmen Hause bei wirklich gebildeten Menschen sich einen Beruf schaffen, und dies war dann die edelste Rache und die beste Genugthuung, denen gegenüber, die sie so verkannt hatten. Wenn sie den Beweis geliefert, daß sie sich selbst eine ehrenvolle Existenz zu schaffen im stande sei, dann würde wohl niemand mehr sich einfallen lassen, sie als ungezogenes Kind zu behandeln!

Diese und andre Gedanken beschäftigten sie, wenn auch nicht in sonderlich angenehmer Weise, so doch lebhaft genug bis zu ihrer Ankunft in dem spärlich erleuchteten Bahnhof in Moskau, der wie jener in Nischni ein provisorisches Gebäude war.

Wieder verschaffte sich Agnes eine Droschke und vertraute sich und ihre Habseligkeiten einem äußerst diensteifrigen Kutscher an, dessen Höflichkeit und Eifer ihr vielversprechend erschienen. Da der Wagen breit und tief war, konnte sie diesmal das Kofferchen neben sich unterbringen.

Zu sehr gelegener Zeit war ihr der Name eines Hotels eingefallen, gegenüber der Post, in dem sie einmal mit den Ihrigen eine Nacht zugebracht hatte. Dorthin ließ sie sich führen, aber noch ehe sie ein paar hundert Schritte weit gefahren war, erkannte sie, daß die Liebenswürdigkeit des Kutschers ihren Grund in zuvor genossenen geistigen Getränken hatte.

Der wackere Mann war durchaus nicht boshafter Natur, und die Reden, die er an sein Pferd hielt, waren förmlich zärtlich, aber die Art und Weise, wie er es in raschem Galopp schräg über die Straße kreuz und quer hin und her zerrte, ließ Agnes aufs entschiedenste fürchten, daß sie über kurz oder lang in eins der die Straße begrenzenden Vorgärtchen hineinfahren werden.

Es war schon ziemlich spät; die Petroleumbeleuchtung der Straßen ließ viel zu wünschen übrig, und die ärmlichen kleinen Häuschen, an denen sie vorübersausten, glichen einander so aufs Haar, daß Agnes mehrmals glaubte, der Kutscher fahre irrtümlich den nämlichen Weg wieder zurück.

»Bitte,« sagte sie endlich, ihm die Hand leicht auf die Schulter legend, »fahren Sie ein bißchen mehr gerade und nicht so schnell; Sie werfen ja sonst um.«

»Da hast du ganz recht, mein Täubchen,« erwiderte er mit der freundlichsten Miene von der Welt, »ganz gewiß schmeißen wir um; was du klug bist, daß du daran denkst!«

Sofort ließ er den Gaul Schritt gehen; dem armen, zu Tode gehetzten Tier war der allergemütlichste Schlendrian sehr willkommen, und nun benutzte der Kutscher zu Agnes' unsäglicher Verzweiflung seine Muße, um eine Unterhaltung mit ihr anzuknüpfen.

»Du kommst vom Lande, Schwesterherz,« begann er auf seinem schmalen Sitz so weit zurückrückend, daß Agnes jeden Moment erwartete, ihn auf sich fallen zu sehen, besonders da das langsame Tempo die Stöße des Wagens nicht verminderte, sondern nur verlängerte. »Du suchst eine Stelle, das merke ich wohl. Du bist gut angezogen, recht ordentlich, wirst also wohl Kammerjungfer sein. Hm? Hab' ich nicht recht? Bist du Kammerjungfer?«

»Auf diese Art werden wir wohl nie im Leben an Ort und Stelle kommen,« sagte Agnes ungeduldig, aber nicht ärgerlich. Sie war gewöhnt, von den Landleuten mit »du« angeredet zu werden, und fand dies auch bei einem Droschkenkutscher nicht beleidigend, obgleich sein angeheiterter Zustand die Sache einigermaßen verschlimmerte.

»Sei nur ruhig; 's ist sicherer so! Das hast du ja gerade vorhin selbst gesagt! Sobald der Weg wieder gut ist, wird's schon rascher gehen!«

Agnes blickte forschend die endlose Straße entlang, die nur hie und da durch eine qualmende Laterne ungenügend erhellt war.

»Kammerjungfer willst du werden,« fuhr der Kutscher fort, auf seinen Gedanken zurückkommend. »Kein schlechtes Handwerk, aber eine Köchin ist besser dran! Meine erste Frau war Köchin! Ach, Schatz, ich sage dir, was ich da gut gegessen habe. Deine Herrschaft kriegt ihrer Lebtage keinen so guten Bissen! Die lassen sich eine Menge dummes Zeug kochen, und dann kommt die Gnädige in die Küche und sagt: ›Glazhyra, heute lochen Sie dies und das und jenes‹, und da heißt's immer: ›ja wohl‹; das weißt du ja, widersprechen darf man den Herrschaften nicht, die sind wie die Gäule, sobald man ihnen nicht den Zügel läßt, werden sie boshaft. Da sagt man also zu allem ja und thut, was man mag. Meine Selige hat alles nach ihrer Manier gemacht, und die Gnädige hat nichts gemerkt, und so ist's bei jeder Frau gewesen, so oft sie auch zu einer neuen ging. Die Herrschaften, siehst du, die sind alle gleich, die verstehen von Nichts nichts.«

»Du wirst fallen,« sagte Agnes, welche mehr mit der Erhaltung seines Gleichgewichts beschäftigt war, als mit den von ihm aufgestellten allgemeinen Gesichtspunkten.

»Nur keine Angst haben: das bin ich gewöhnt.«

Trotz dieser beruhigenden Sicherheit rückte er sich etwas auf seinem Sitz zurecht und nahm die Zügel zur Hand, über die das arme Pferd wunderbarerweise noch nicht gestolpert war, obwohl sie an der Erde schleiften.

»Ja, siehst du, meine erste war Köchin, weil das ein gutes Handwerk ist, aber sauber war sie nicht – nein, nein, reinlich war sie nicht, das muß ich ihr nachsagen, Gott habe sie selig! Deshalb habe ich auch nachher eine Wäscherin genommen, und seither bin ich immer so sauber wie ein Geldstück, das vom Prägstock kommt. Wäscherin möchtest du nicht werden? Ein gutes Geschäft.«

»In mein Hotel kommen möchte ich vor allem,« erwiderte Agnes. »Ich friere und bin müde. Sei so gut und fahre ein wenig rascher.«

»Ach, mein Engelchen!« rief der menschenfreundliche Mann, »warum hast du mir denn das nicht schon längst gesagt? Im Handumdrehen werden wir dort sein!«

Ein mächtiger Peitschenhieb umzingelte nicht nur das Pferd, sondern auch Agnes, der glücklicherweise ihr Schleier zum Schutz diente, und das ganze Fuhrwerk that einen Satz, als ob es sich nun um eine direkte Fahrt himmelan handle. Man gelangte jedoch rasch wieder auf die Mutter Erde und zwar nicht auf die zarteste Weise, wie Agnes bemerken konnte: allein der Kutscher ließ sich nicht aus der Fassung bringen, und die Schwingungen, die er um seinen eignen Schwerpunkt zu beschreiben hatte, verdarben ihm den Humor keineswegs.

»Junge,« rief er seinem Pferd zu, indem er dem armen Geschöpf die Peitsche um die Ohren sausen ließ. »Junge, du mußt zeigen, daß du gesunde Beine hast! Nur vorwärts, Junge! 's ist eine von den Unsrigen, da thun wir unsre Schuldigkeit besser, als für das vornehme Volk! Los, Junge!«

»Der Junge« schien von dieser schönen Anrede Hauptsächlich zu begreifen, daß es nichts Unangenehmeres gibt als Peitschenknallen. Eine Minute lang lief er mit einer Geschwindigkeit, daß einem Hören und Sehen verging und Agnes allmählich Myriaden von Straßenlaternen um sich her tanzen sah, die sicherlich nicht vorhanden waren, dann stand er ebenso plötzlich still, warum, das wußte kein Mensch zu sagen, höchstens mochte er denken, daß er die Kraft seiner Beine genügend dargethan habe, und weigerte sich rundweg, noch einen Schritt zu machen.

»He, vorwärts! Hund, du miserabler!« brüllte der Rosselenker.

Der »Junge« würdigte diese Grobheiten keiner Antwort.

»Wirst du gleich gehen!« schrie der Trunkenbold, dem Tier einen furchtbaren Hieb versetzend.

Der Gaul schlug nach allen Seiten aus und zwar mit solcher Energie, daß Stränge, Riemen und Deichsel in die Luft flogen.

»Ach! Die verfluchte Bestie! Nun ist die Deichsel kaput! Warte nur ruhig, mein Täubchen, das hat nichts zu sagen, daran sind wir gewöhnt. Ich habe Bindfaden in der Tasche, das werden wir bald zusammengeflickt haben!«

Diesmal war Agnes nahe daran, aus Aerger und Verzweiflung zu weinen. Sollte diese lächerliche Geschichte ihr ganzes Unternehmen zu Schanden machen? Sollte sie die Nacht in einer ausgestorbenen Straße von Moskau zubringen bei einem bösartigen Pferd und einem betrunkenen Kutscher, und einen Koffer hüten, der nicht ihr gehörte? Wäre dieser ihr Eigentum gewesen, so hätte sie ihn sicher im Stich gelassen, sogar auf die Gefahr hin, ihm im Leben nicht mehr zu begegnen, so aber war sie ja auf etwas unrechtmäßige Weise in seinen Besitz gelangt, und der Gedanke, daß zwischen den vier Brettchen teure Andenken, Gegenstände sein konnten, an denen das Herz ihrer vom Schicksal so schwer geprüften Erzieherin hing, flößte Agnes den unerschütterlichen Entschluß ein, den Koffer nie aus den Augen zu verlieren, so lästig er ihr auch in dieser Stunde war.

Seit sie den Bahnhof verlassen, war ihnen auch nicht ein einziger Wagen begegnet; es war also nicht die leiseste Hoffnung, daß eine zufällig leer vorüberfahrende andre Droschke es ihr möglich machen könnte, dieser Situation zu entkommen.

»Ach, wäre ich doch zu Hause!« fuhr es ihr durch den Sinn; sofort jedoch schämte sie sich dieser Untreue gegen sich selbst und beschloß aufs neue, jede Schwachheit zu besiegen.

»Nun, ist die Geschichte bald im reinen?« fragte sie den Kutscher.

Dieser machte sich eifrig an der abgebrochenen Gabeldeichsel zu schaffen und suchte mit Hilfe eines Scheites Holz und Bindfaden den Schaden wieder gutzumachen. Der Unfall hatte ihn einigermaßen ernüchtert, er war jetzt schweigsam und hatte offenbar einen Teil seines Selbstvertrauens eingebüßt.

»So, nun geht's!« erklärte er schließlich. »Nur ruhig, Fräuleinchen, Hab du nur keine Angst, wir kommen trotzdem vom Fleck und werden dich in dein Hotel fahren, wie sich 's gehört, nur ein bißchen länger dauern wird's, denn mit einer kaputen Deichsel kann man nicht fahren, wie man möchte.«

»Aber wird denn dein Pferd überhaupt weitergehen?«

»Ach, der Junge ist fromm wie ein Lamm! Wenn er mit seinen kleinen Faxen zu Ende ist, kann ihn ein Kind an einem Bindfaden führen.«

Der »Junge« hatte sich in der That sehr beruhigt, so sehr, daß von einem Trab nicht mehr die Rede war. So durchzog denn Fräulein Surof die nächtlich schweigende Vorstadt von Moskau im Schritt, was die Sache etwas in die Länge zog.

Als man endlich in belebtere Regionen kam, entstand ein neues Martyrium, denn jeder rasch und flott vorüberrasselnde Kutscher machte es sich zur Aufgabe, den unglücklichen Lenker des »Jungen« mit einer Flut von schlechten Witzen und Schimpfwörtern zu bedenken, so daß Agnes allmählich anfing das Volk weniger liebenswürdig zu finden, als sie sich's gedacht, und sich sehr danach sehnte, nicht mehr lange in Berührung mit demselben zu sein.

Endlich und endlich, nach wohl zweistündiger Fahrt durch unbekannte Straßen, wurde Agnes an dem von ihr bezeichneten Hotel abgesetzt. Ein paar schläfrige Kellner lungerten zu dieser vorgerückten Stunde allein auf dem Vorplatz umher, und Agnes hatte einige Schwierigkeit, ihnen ihr Verlangen nach einem ruhigen Zimmer klarzumachen. Ein etwas weniger verschlafen aussehender oder intelligenterer unter ihnen ergriff schließlich eine Kerze und machte einem Hausknecht in einer rosa Kattunbluse und schwefelgelben Beinkleidern ein Zeichen, worauf dieser Fräulein Titofs Koffer auf die Schulter nahm und hinter Agnes dem voranleuchtenden Kellner folgte.

Stockwerk um Stockwerk ging's hinauf, bis die kleine Gesellschaft an ihrem Ziel angelangt war; in dem flackernden Schein warfen ihre Gestalten wunderliche Schatten, aber Agnes hatte nun nicht mehr viel Sinn für komische Situationen. Eine Thür ward ausgeschlossen und ihr Koffer auf den Boden gestellt, worauf die beiden Männer Miene machten, sich zurückzuziehen.

»Ich möchte Thee haben,« sagte Agnes zu dem Kellner, der ihr unter den andern ziemlich civilisiert vorgekommen war.

»Ach! Thee? Um diese Zeit?«

»Jawohl, Thee, und um diese Zeit. Erstens ist es noch nicht einmal Mitternacht, und zweitens erhält man, so viel ich weiß, im Gasthof alles, was man will, wenn man bezahlt.«

»Noch nicht Mitternacht?« wiederholte der junge Mann mit sehr verblüfftem Gesicht. »Wirklich? Nun, dann wird man Ihnen wohl Thee heraufschicken.«

»Aber, bitte, rasch!«

»Sofort.«

Er verschwand in dem endlos langen Korridor, wo sein schlürfender Schritt noch lange wiederhallte. Agnes, die nun mit ihrer entsetzlich tropfenden Kerze allein war, setzte sich auf einen Stuhl und harrte der Dinge, die da kommen sollten.

Nach ein paar Minuten war sie des Dasitzens müde und fing an ihre Lagerstätte einer genauem Prüfung zu unterziehen. In einer unglaublich einfach konstruierten eisernen Bettstelle lag auf vier Brettchen eine schmale Matratze; die Einfachheit des Bettes beunruhigte Agnes jedoch weniger als der Umstand, daß unter der einzigen Decke nichts von Weißzeug sichtbar war, weder Betttuch noch ein Bezug für das Kissen von höchst zweifelhafter Farbe.

»Sie beziehen die Betten, wie es scheint, nicht im voraus,« tröstete sich Agnes. »Vermutlich kommt das Zimmermädchen mit dem Thee und macht es zurecht.«

Das ganze Haus schien in tiefem Schlaf zu liegen, nirgends verriet das leiseste Geräusch irgend eine Thätigkeit. Agnes wartete und wartete, schließlich machte sie ihre Zimmerthür auf und wagte sich, ihr Licht in der Hand, auf den Vorplatz hinaus.

Da und dort verrieten vor der Thür stehende Stiefel, daß ein Zimmer bewohnt war; Agnes drang glücklich vor bis zur Treppe – diese war stockfinster; wie ein großer, leerer Riesenkäfig gähnte das weite Treppenhaus sie an. Bestürzt sah sie sich nach einer Glocke um; eine ganze Batterie elektrischer Klingeln befand sich unmittelbar in ihrer Nähe; sie drückte auf einen Knopf – kein Ton ward hörbar. Der Reihe nach versuchte sie es mit jedem einzelnen, aber auch beim aufmerksamsten Lauschen war keine Klingel zu vernehmen. Das junge Mädchen hielt die rascher und rascher abtropfende Kerze in die Höhe, um nach den zu dem Apparat gehörigen Drähten zu sehen – keine Spur eines solchen. Das Brett mit den Knöpfen erfüllte nur einen dekorativen Zweck.

Geduld war eine bei Agnes ohnehin nicht sehr ausgebildete Tugend, und jetzt erfaßte sie ein gerechter Zorn. Sie ging eilends in das ihr angewiesene Zimmer zurück und hing sich mit wahrer Wut an die dort befindliche Klingelschnur. Der Erfolg war der nämliche wie bei den elektrischen Knöpfen – die Stille und Ruhe des Hauses blieben gänzlich ungestört.

Einen Augenblick hatte sie Lust, hinunterzugehen und im Vestibül Lärm zu schlagen, was dann doch eine Wirkung irgend welcher Art hätte haben müssen. Sie sagte sich jedoch gleich darauf, daß diese Kühnheit unangenehme Folgen für sie haben könnte, und daß das Beste wohl sein werde, sich stillschweigend in ihr Schicksal zu ergeben und sich für den Rest dieser schlimmen Nacht möglichst erträglich einzurichten. Sie breitete also ihren Mantel über das Kopfkissen und legte sich in den Kleidern auf die unbezogene, steinharte Matratze.

Da sie keine Zündhölzchen vorfand, beschloß sie, das Licht brennen zu lassen, was freilich nicht viel Wert hatte, da die Kerze jetzt schon nur noch ein kleiner Talgsee war, in dessen Mitte ein kleiner rußiger Pilz von Docht glimmte. Sie wandte diesem zweifelhaften Beleuchtungskörper den Rücken und versuchte einzuschlafen.

Kaum hatte sie die Augen geschlossen, als sie irgend etwas über ihre Hand huschen fühlte; blitzschnell in die Höhe fahrend, entfernte sie instinktiv diesen fremden Körper und sah sich nun forschend um, was dies wohl sein könnte.

Schrecken und unüberwindlicher Ekel erfaßten das junge Mädchen, als sie den Fußboden, die Möbel und das Bett selbst mit großen, langsam kriechenden schwarzen Käfern bedeckt sah. Dazwischen aber huschten kleinere, rötlichbraune Geschöpfe zu Hunderten mit einer Geschwindigkeit und Beweglichkeit hin und her, als ob Laufen, einerlei wohin, ihr einziger Lebenszweck wäre. Agnes' Kleider waren übersät mit solchen, die ursprünglich weiße Bettdecke erschien buntgemustert mit einem äußerst lebhaften Dessin.

Daß es solche Tierchen gibt, war Agnes bekannt, sie hatte sogar ein oder das andre Mal in der Küche solch einen schwarzen Käfer erblickt, den dann sein tödliches Geschick rasch ereilte, dem Aberglauben, daß diese Tiere Glück bringen, zum Trotz; allein solche Unmassen von Insekten waren ihrer Phantasie weder wachend noch träumend je erschienen. Sie stand hilflos und erschrocken mitten im Zimmer und suchte durch Schütteln die unwillkommenen Gäste von ihren Kleidern zu entfernen; die Kerze war am Erlöschen und die Vorstellung, daß in der dann eintretenden Dunkelheit vollends Myriaden von Tieren über sie herfallen würden, machte sie schaudern.

»Nur das nicht,« sagte sie sich, »weit lieber auf die Straße!«

Sie sah auf ihre Uhr; es war dreieinhalb Uhr in der Frühe: in einer halben Stunde mußte das Morgenläuten beginnen, und dann hatte sie Zufluchtsstätten genug. Ihr Entschluß war schnell gefaßt. Sie stellte die abgebrannte Kerze oben an die Treppe, um sich ihren Weg so gut als möglich zu erleuchten, und tastete sich mühsam abwärts: als sie im zweiten Stockwerk war, erlosch der Docht mit einem leisen Zischen, das in der tiefen Stille des Hauses deutlich vernehmbar war; mit gepreßtem Herzen, voll Widerwillen gegen Menschen und Dinge, setzte sie ihren Weg fort, so gut es ging.

Eine übelriechende, qualmende Nachtlampe erhellte das Vestibül im Parterre ein wenig; zwei Kellner schliefen, auf den Bänken ausgestreckt. Agnes dachte daran, sie zu wecken und ihnen das Nötige zu sagen, überlegte aber rasch, daß die beiden jedenfalls nicht verantwortlich seien für die Führung dieses Hauses, und daß es richtiger sein werde, mit dem Besitzer selbst zu sprechen, sobald es Tag geworden.

Nun kam aber eine neue Sorge: wenn die Hausthür geschlossen war, was dann beginnen? Ein eiserner Riegel schloß die Thür von innen, er war aber nicht sehr schwer, und Agnes schob ihn ohne große Anstrengung zurück. Durch die geöffnete Thür strömte die kühle, feuchte Morgenluft herein und gab dem armen Kinde mit ihrem reinen Hauch Mut und Kraft zurück. Noch einmal ihre Kleider schüttelnd, überschritt sie die wenig gastliche Schwelle, ließ die Thür hinter sich ins Schloß fallen und stand nun mutterseelenallein auf der von wenigen, tief herabgeschraubten Gasflammen erleuchteten Straße.

Eine Kirche zu finden, ist in Moskau kein Kunststück. Man kann in keiner Richtung ein paar Minuten lang gehen, ohne daß irgend eine seltsam geformte Kuppel oder ein sein zugespitzter Glockenturm sichtbar würde. Ein leiser Windhauch machte die Gasflammen aufflackern; das Pflaster war naß; von den Dächern fielen ein paar Regentropfen Agnes ins Gesicht, als sie so dastand und sich zu orientieren suchte.

»Einen Regenschirm habe ich nicht,« dachte sie. »Ich werde mir wohl einen kaufen müssen.«

Ach, wie unendlich viele Dinge würde sie sich kaufen müssen – der Gedanke fiel ihr plötzlich schwer aufs Herz! Aber für den Augenblick war die Frage jedenfalls keine brennende, denn sowohl Schirm- als andre Fabrikanten schliefen den Schlaf des Gerechten, und wenn es regnete, so wurde Agnes eben einfach naß. Diese Rücksicht bestimmte sie aber keineswegs, in ihre eben verlassene Behausung zurückzukehren: sie wandte sich zur Linken, rein sich vom Zufall leiten lassend, und suchte nur, sich den eingeschlagenen Weg deutlich einzuprägen, um Bei Tagesanbruch das Haus wiederzufinden, an welches sie durch die Gewissenspflicht, Fräulein Titofs Koffer abzuholen, gebunden war!

Kaum war sie fünf Minuten gegangen, als in ihrer unmittelbaren Nähe der erste Glockenschlag des Morgengeläutes ertönte, jener immer von der mächtigsten Glocke ausgehende Weckruf von geheimnisvoller, tiefer Macht.

Das junge Mädchen bebte; der Boden selbst, auf dem sie stand, erzitterte Bei dem gewaltigen Klang der erzenen Stimme, und es war Agnes, als ob ihre Seele aus tiefem Schlaf erwache in der die Schwingungen weitertragenden Morgenluft.

Von allen Kirchen der Stadt ertönte der Wiederhall, sämtliche Glocken stimmten ein in den Ruf. Agnes fühlte, wie alle Schrecken und Qualen dieser Nacht in nichts zerflossen in dieser eigenartigen Harmonie, die, mehr durch Zufall als Kunst hervorgebracht, zuweilen von höchster musikalischer Schönheit war. Dem Tone folgend, war sie bei einer Kirche angelangt; zwei oder drei in schwarze Tücher eingehüllte Frauen eilten an ihr vorüber und traten in die Vorhalle; es waren Frauen aus dem Volk, Händlerinnen oder einfache Dienstmädchen, die ihre Tagesarbeit mit Gebet Begannen – Agnes folgte ihnen freudig; das war das Volk, für das sie Sympathie empfand.

Die Kirche war vollkommen dunkel; nur von den Lampenstöcken vor den Heiligenbildern ging ein trüber Schein aus, der aber nur ein paar Schritte weit Licht verbreitete. Die von der Zeit geschwärzten Gesichter und Hände der Heiligen traten aus ihrer Gewandung von getriebenem Metall hervor; Evangelisten, die eine Hand erhoben, in der andern ein Buch haltend; heilige Jungfrauen mit dem Jesusknaben, den Teufel stürzende Erzengel, Heilige aller Art, predigend oder thronend, wie Oleg oder wie Alexander Nevsky, bedeckten die von Weihrauch und Kerzendunst geschwärzten Mauern des Kirchleins.

Von Zeit zu Zeit sah man im Lichtkreis der ewigen Lampe eine halb in Schatten gehüllte menschliche Gestalt sich mit einer Kerze in der Hand nähern; die Kerze wurde angezündet, an dem Lampenstock neben der Lampe festgesteckt, die dunkle Gestalt warf sich auf die Kniee, küßte das Heiligenbild und zog sich wieder in das Dunkel zurück. Geheimnisvoll erschien dies stille Thun, aber es lag eine Welt von Frieden und Trost in der Darbringung dieser kleinen, anspruchslosen Opfer.

Bald erschien der Diakonus vor der geschlossenen Thür des Ikonostas und stimmte mit tiefer Stimme die morgendlichen Gebete an; der Kirchenchor sang die Responsorien, und der ganze Gottesdienst vollzog sich mit rührender Schlichtheit und Herzenswärme. Nach und nach hatte sich die Kirche ziemlich gefüllt, Landleute, die zur Arbeit gingen, kleine Krämer, die ihre Buden zeitig aufmachen mußten, Arbeiter und Arbeiterinnen, alle opferten diese Stunde Morgenschlafes dem im russischen Volke so tief wurzelnden religiösen Bedürfnis.

Noch nie hatte Agnes einer Frühmette beigewohnt. So oft im Winter das Morgenläuten sie geweckt hatte, war die einzige Folge gewesen, daß sie das Köpfchen mit dem Gedanken: »erst vier Uhr«, um so behaglicher ins Kissen gedrückt und ihren sorgenlosen und wohlbehüteten Kinderschlaf weiter geschlafen. Nie hatte sie sich einen Begriff davon gemacht, was dieses frühe Läuten im Winter für andre zu bedeuten habe, wenn draußen der eisige Wind weht, noch tiefe Nacht ist und der frischgefallene Schnee aufgehäuft vor den Hausthüren liegt ...

Morgens um vier Uhr in einer Kirche zu sein, war ihr eine ganz neue, seltsame Empfindung; um diese kennen zu lernen, hatte sie das Elternhaus verlassen und in die weite Welt hinaus steuern müssen, während es für all die andern, die hier knieten, etwas ganz Selbstverständliches war; sie alle waren es gewöhnt, beim ersten Ruf der Glocke ihr Lager zu verlassen, und nur Gott weiß, welch harte Arbeit jeden von ihnen erwartete und bis zum späten Abend in Anspruch nahm.

Auch kleine, noch schlafende Kinder waren da, die von ihren Müttern mitgebracht und ruhig auf den Boden gelegt worden waren, damit sie ausschlafen konnten, und größere, die mit verwunderten Augen um sich blickten, dem Gesang lauschten, die Heiligenbilder ansahen und so mit Aug' und Ohr etwas Reiches, Warmes, Feierliches, Fesselndes in ihren kleinen Seelen aufnahmen, das ihnen die Religion selbst bedeutete.

Die Messe war zu Ende; die Kirchendiener sammelten die Kerzen ein und bliesen sie aus; die Lampen allein brannten fort; die Kirche entleerte sich. Agnes war unter den letzten, die heraustraten, sie hatte ja keinen Grund zur Eile, nicht einmal der Hunger drängte sie. All ihr Kummer war untergegangen in einem beseligenden träumerischen Zustand, in den ihr Leben sich zuletzt gelöst, und das Leben schien ihr nun weit weniger schwer, einfacher und klarer als seit lange.

Der Morgen dämmerte noch bleich und grau, aber das lichte Gewölk deutete auf schönes Wetter. Ohne Zögern ging Agnes nach ihrem Hotel, das sie sofort fand.

Die Leute in ihren roten Blusen waren jetzt auf, die Thür offen, zwei zerlumpte Weiber mit hochaufgeschürzten Röcken fegten den Steinboden mit Energie und großer Wasserverschwendung.

Agnes schritt auf den Zehen durch die schmutzige Flut und stand plötzlich vor einem ziemlich anständig gekleideten Mann, der die Treppe herunterkam und sich mit der zur Faust geschlossenen Hand die Augen rieb, offenbar mußte er der Verwalter sein. Als er der jungen Dame ansichtig wurde, blieb er stehen und ließ die Hand sinken.

»Was steht zu Diensten, mein Fräulein?« fragte er mit einer Art von Verbeugung.

»Meinen Koffer möchte ich haben,« antwortete Agnes.

»Ihren Koffer? Sie wohnen doch nicht im Hause?«

»Doch. Ich bin gestern abend angekommen und mein Koffer ist oben.«

Darauf kam einer der Kellner herbei und sagte in vorwurfsvollem Ton: » Sie sind also heute morgen so früh ausgegangen und haben die Hausthür offen gelassen? So etwas darf nie vorkommen ...«

Mit einem Blick brachte ihn Agnes zum Schweigen.

»Sie sind es also,« sagte sie, »dem ich gestern abend befohlen habe, mir Thee zu bringen, und der sich statt dessen zur Ruhe begeben hat? Sie haben mir das ekelhafte Zimmer angewiesen, wo es von Insekten wimmelt und das Bett nicht bezogen ist? Sie sind es also, der so fest schläft, daß man hart neben ihm den schweren Riegel zurückschieben und die Hausthür öffnen kann, ohne daß er aufwacht?«

Der junge Mensch war im Begriff, eine grobe Antwort zu geben, aber der Verwalter machte ihm ein abwehrendes Zeichen. Gewöhnt, die Menschen rasch zu taxieren, hatte er sofort erkannt, daß Agnes weder eine Abenteuerin noch eine ungebildete Person war.

»Wenn dies alles vorgefallen ist, gnädiges Fräulein, so haben wir sehr um Entschuldigung zu bitten. Darf ich fragen, was jetzt zu Ihren Diensten steht? Ihre Befehle sollen sofort befolgt werden.«

»Ich wünsche gar nichts,« erwiderte Agnes mit ihrer vornehmsten Miene, »als daß mein Koffer heruntergeholt und in eine Droschke gebracht wird, und dann die Rechnung.«

Ihre ganze Haltung war so bestimmt und fest, daß der Verwalter keine Einrede wagte.

Der Koffer wurde gebracht, die Droschke geholt, und ein sehr elegantes Blatt Papier mit großartiger Vignette Agnes überreicht: sie ersah aus demselben, daß sie anderthalb Rubel für ihr »Logement« zu bezahlen hatte.

»Etwas teuer ist Ihr Haus,« bemerkte sie, die geforderte Summe aus ihrer Börse nehmend, »allein so vortreffliche Bedienung muß natürlich entsprechend bezahlt werden.«

Die kühle, schneidende Ironie in ihren Worten verblüffte das ganze umherlungernde Personal derart, daß sie offenen Mundes dreinstarrten und sogar vergaßen, ein Trinkgeld zu verlangen ... ein unerhörtes Begebnis!

»Wohin?« fragte der Kutscher.

Das war nun gerade das, was Agnes nicht im geringsten wußte, plötzlich jedoch kam ihr ein sehr erleuchteter Gedanke.

»Auf den Petersburger Bahnhof.«

Der Kutscher war jung, gewandt und nüchtern, das Pferd kräftig und wohlgenährt, und so gelangte Agnes in zwanzig Minuten an das von ihr bezeichnete Ziel, ein wohleingerichtetes Prachtgebäude. Der Koffer wurde dem Portier übergeben, was ihr Herz sehr erleichterte, und sie eilte nun in die Bahnhofrestauration, um sich zu stärken.

Daß sie sich so rasch und selbständig aus ihrer mißlichen Lage gezogen, wollte entschieden viel heißen, und sie war auch gar nicht abgeneigt, sich selbst die nötige Anerkennung zu teil werden zu lassen.

»Schließlich ist die Geschichte gar nicht so schlimm,« sagte sie sich, als sie behaglich ihren heißen Kaffee schlürfte und sich die knusprigen, »Kalatki« genannten Brötchen, eine Moskauer Spezialität, dazu schmecken ließ; ihr Appetit war vortrefflich, und sie fand das Leben trotz der Schrecken dieser Nacht, die ihr nun eher in komischem Licht erschienen, ganz erträglich.

Aber wenn auch die Gegenwart sich ganz hübsch anließ, so mußte sie sich doch gestehen, daß die Zukunft etwas fraglich war. Für die kommende Nacht mußte eine Unterkunft gefunden werden, und gegen Gasthäuser hatte sie allmälig ein kleines Vorurteil gefaßt. Allerdings konnte man eine Nacht im Bahnhof selbst zubringen, wo ein Damensalon jederzeit offen war, aber trotz des dazu gehörigen Toilettezimmers hatte der Gedanke nichts sehr Verlockendes.

Dies Toilettezimmer war übrigens jetzt im Augenblick der Gegenstand ihrer Sehnsucht, und nachdem sie ihren Hunger gestillt, verschaffte sie sich durch ein Trinkgeld die Möglichkeit, gründlich Toilette zu machen, worauf sie sich ganz beruhigt und erquickt fühlte und sogar die Zukunft in rosigem Licht zu erblicken vermochte.

Auf welche Weise erhält man eine Stelle als Erzieherin? Man liest die Zeitungen, das wußte Agnes, allein sie wußte auch, daß das Zeit und langes Hin- und Herschreiben kostet. Schließlich aber doch lieber Zeit opfern, als gar nichts finden. Sie kaufte also die Tagesblätter und ließ sich im Wartesaal zu gründlichem Studium des Annoncenteils nieder.

Die Möglichkeit, in einen andern Wartesaal, als den erster und zweiter Klasse zu gehen, tauchte dabei gar nicht vor ihr auf, so wenig wie der Gedanke, daß sie dort am ehesten Bekannten begegnen könnte.

Während sie mit großer Andacht die betreffenden Gesuche durchlas und sich die ihr etwa zusagenden in ihr Notizbuch schrieb, hatte eine alte Dame eine kleine Tasche und eine Plaidrolle auf den Tisch gelegt, an dem Agnes saß, dann den Dienstmann bezahlt, der ihr größeres Gepäck trug, und sah sich nun nach Erledigung dieser Angelegenheiten im Saal um.

»Ania!« rief sie überrascht.

Agnes hatte den Ausruf wohl gehört, hütete sich aber wohl, dergleichen zu thun; da sie überdies die Stimme nicht erkannt hatte, konnte sie sogar sich, selbst weismachen, es ginge sie gar nicht an.

Ania! Agnes! Agnes Surof! Ich täusche mich doch nicht, Sie sind es wirklich, liebes Kind? Wie freut es mich, Sie zu sehen! Ihr Papa hier? Nein! Also Ihre Mama? Und das Schwesterchen? Und Fräulein Titof? Alles wohl und munter? Sie sehen allerliebst aus, haben sogar Farbe, was man an dem Bleichschnäbelchen gar nicht gewöhnt ist. Und Sie gehen nach Petersburg? Natürlich reisen wir zusammen! Oder hat Ihre Mama schon ein ganzes Coupé belegt?«

»Nein, gnädige Frau,« sagte Agnes kurz. Es war ihr nicht darum zu thun gewesen, vorher zu antworten, denn die Fragen waren ziemlich peinlicher Art; allein auch wenn ihr Mitteilungsbedürfnis stärker gewesen wäre, hätte sie bei der Zungenfertigkeit der alten Dame kaum zu Wort kommen können.

»Kein Coupé belegt? Um so besser, da reisen wir unter allen Umständen miteinander! Wo ist denn Ihr Handgepäck? Wir könnten es zu dem meinigen legen, oder ist das ihrige vielleicht schon im Waggon?«

»Nein, gnädige Frau,« sagte Agnes.

»Ja, wo bleibt aber denn Ihre Mama nur? Ach gewiß im Toilettezimmer! Nach einer Nacht in der Bahn ist frisches Wasser unentbehrlich! Ich begreife die Bahnverwaltungen nicht, könnte man denn nicht den abscheulichen Rauch abschaffen? Wie früh Sie dieses Jahr in die Stadt ziehen! Ich, ich muß in Geschäften nach Petersburg, komme in acht Tagen zurück, und treffe Sie also dann nicht mehr in Surowa, wird mir furchtbar fehlen.«

»Sehr liebenswürdig!« versicherte Agnes, die nach und nach eine Gutsnachbarin in der alten Dame erkannt hatte.

»Sie sind mit dem Schiff gekommen über Nischni? Ich kam mit der Bahn, widerwärtige Reise, man wird kohlschwarz! Glauben Sie, daß ich noch Zeit habe, mir die Hände zu waschen?«

»Ich denke, ja,« erwiderte Agnes, die keine Ahnung hatte, wann der Zug ging.

»Und dann habe ich auch die Freude, Ihre Mama ein bißchen früher zu treffen ... Ich gehe rasch, Sie behüten mir meine Tasche ...«

Die vortreffliche Frau eilte dem Ausgang zu, mit ihrer Tasche und Plaidrolle rannte Agnes nach.

»Bitte, bitte, gnädige Frau, nehmen Sie Ihre Sachen mit, ich kann diese Verantwortung nicht übernehmen ...«

Sie dachte an all die Sorge, die ihr Fräulein Titofs Koffer schon bereitet hatte! Ehe die alte Dame sich von ihrem Staunen erholt hatte, war Agnes verschwunden, und als die gute Frau wieder in den Wartesaal zurückkam, war sie dort nicht mehr zu entdecken.

Während der ganzen Reise durchforschte die redselige, menschenfreundliche Nachbarin Waggons und Wartesäle ... kein Glied der Familie Surof war sichtbar. Neugierig wie sie war, und auch von weiblicher Sorge erfüllt, denn sie war ein gutherziges Geschöpf, hatte sie am andern Morgen in Petersburg nichts Eiligeres zu thun, als sich in Herrn Surofs Stadtwohnung nach der Familie zu erkundigen. Als sie dort die Auskunft erhielt, daß weder ein Familienglied angekommen, noch die bevorstehende Ankunft eines solchen angezeigt worden sei, war sie gänzlich verblüfft.

»Das ist ein wenig stark,« dachte sie. »Also ist es gar nicht Agnes Surof gewesen? Aber so kann man sich ja nicht täuschen! Und weshalb hat mir denn das dumme Ding Antwort gegeben, wenn es nicht Agnes war?«

Die Lösung des Rätsels gelang ihr trotz alles Nachsinnens und Aufbietung all ihres Spürsinnes nicht.

Ebenso erfolglos blieben die nach ihrer Rückkehr in Surowa angestellten Nachforschungen und Fragen. Eine klare Antwort erhielt sie einfach nicht, denn so oft sie in der Familie Surof diese Begegnung aufs Tapet brachte, entstand allgemeine Heiterkeit, durch die sie nicht klüger wurde. Nach Verlauf eines Jahres hatte sie sich eingeredet, daß das Ganze eine merkwürdige Sinnestäuschung gewesen sei, und die Betrachtungen über diese höchst wunderliche Erscheinung vertrieben ihr an manch grauem Regentag die Langeweile.


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