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Zehntes Kapitel. In Surowa

Als spät am Abend die Wagen mit der von General Baranins Diner heimkehrenden Gesellschaft an der Terrasse vorfuhren, stieg Dosia hastig aus. Sie hatte seit heute früh viel in sich verarbeitet, ohne daß die andern eine Ahnung davon gehabt; sie hatte die Unbesonnenheit ihres Verhaltens gegen Agnes erkannt und bereut, hatte nachempfunden, wie tief ihre Härte das junge Geschöpf hatte verletzen müssen, dessen Selbstüberwindung und Bußfertigkeit eines andern Entgegenkommens wert gewesen wären.

Das Herz übervoll von Zärtlichkeit und Milde eilte sie nach dem Zimmer ihres Kindes. Die Lampe brannte noch auf dem Tisch, wo Agnes sie gelassen hatte; nirgends war Unordnung oder irgendwelche Spuren eines hastigen Aufbruchs zu bemerken, und dennoch machte der Raum auf Dosia schon im ersten Augenblick den Eindruck des Oeden, Unbewohnten.

»Wo ist das Fräulein?« fragte sie die Jungfer, die ihr gefolgt war.

»Ich weiß es nicht, gnädige Frau,« versetzte das Mädchen. »Wir haben das gnädige Fräulein nach Tisch nicht mehr gesehen.«

Einsame Spaziergänge gehörten zu Agnes' Lebensgewohnheiten, und man beunruhigte sich nie, wenn sie lang ausblieb; allein zu dieser Stunde – es war beinahe zehn Uhr – hatte es doch etwas Befremdliches, sie nicht zu Hause zu finden.

»Da muß man ihr von der Terrasse das Zeichen geben,« sagte Frau Surof nicht ohne Besorgnis.

Das Mädchen eilte hinaus und gleich daraus ertönte von der Terrasse der mächtige Ton eines richtigen Alphornes, das man einst als Kuriosität von der Schweiz mit heimgebracht hatte, und dessen man sich des öftern bediente, um die im Wald zerstreute Familie zu sammeln – man hieß es »das Horn von Uri«.

Der rauhe, gewaltige Ton verhallte in dem immer noch durchsichtigen, dünnen Nebel und weckte manch fernes Echo; Dosia trat, immer noch im Umwurf und Kapuze, auf die Veranda und lauschte angestrengt auf den Pfiff oder Ruf, mit dem das Signal zu beantworten herkömmlich war; in dem tiefen Schweigen, das ringsum herrschte, mußte auch der schwächste Laut von weither auf der hochgelegenen Terrasse vernehmbar werden.

Der Bach rauschte leise, sonst rührte sich nichts.

Ein zweites Mal ertönte das Horn von Uri, so stark, daß Dosia zusammenschreckte. Der Ton hallte über die Hügel bis tief hinein in den großen Wald; von allen Seiten antwortete das Echo, bald leise aus der Nähe, bald laut und klar aus weiter Ferne; die Luft schien noch lange zu vibrieren, nachdem jeder Klang erstorben ...

Schweigend hatten sich alle um Dosia geschart, nur der Vater, der sich sofort nach der Ankunft in sein Arbeitszimmer begeben hatte, fehlte. Keins sprach ein Wort, alles lauschte hinaus. Gespenstisch erschien auf einmal der weiße, wechselnde Nebel; Ermil war es plötzlich, als ob er ein Leichentuch sähe.

Noch einmal stößt das Horn ein so mächtiges Gebrüll aus, daß Nikolas unwillkürlich an Rolands Horn denken muß, wie es bei seinem letzten Ruf zerbarst.

»Mein Kind!« flüsterte Dosia, die bebende Hand fest auf ihr Herz pressend.

Ein Blatt Papier in der Hand, erschien Plato unter der Salonthür.

»Wartet nicht länger auf sie,« sagte er, »sie ist fort. So Gott will, ist sie gesund und irgendwo in Sicherheit.«

Alle traten ins Zimmer und umstanden in schweigender Erwartung den Vater, dessen Ausdruck tiefernst und schmerzerfüllt war.

»Sie teilt mir mit, daß sie von uns fort wolle,« sprach er traurig. »Daß ihre Absichten gut und rein sind, weiß ich; daß sie sich ein ehrenvolles Ziel gesteckt, auch – allein das hat sie nicht bedacht, was für ein Herzeleid sie uns bereitet.«

Bei den letzten Worten hatte ihm die Stimme versagt; schluchzend warf sich Dosia in seine Arme.

»Meine Schuld ist's,« stammelte sie.

Fest und innig hielt er sie umschlossen; Wera und Nikolas weinten heiße Thränen; leichenbleich, die Lippen fest aufeinandergepreßt, starrte Ermil wortlos ins Leere. Wie gern hätte er sich den Eltern zu Füßen geworfen und auch gerufen: »Meine Schuld ist's.«

Nach den ersten schreckensvollen Minuten faßte man sich soweit, um gemeinsamen Rat zu halten. Fräulein Titof, die Agnes' Zimmer durchsucht hatte, ob sich nicht irgend etwas fände, was auf die Spur der Flüchtigen leiten könnte, kam mit bestürzter Miene zurück.

»Ich finde meinen Paß nicht mehr,« sagte sie.

»Dann ist mir alles klar,« versetzte Plato. »Ihr Plan ist nicht schlecht ausgedacht und beweist jedenfalls, daß sie bei voller Klarheit war. Gerade daß sie Besonnenheit genug hatte, sich die Möglichkeit eines ehrenvollen Berufs zu sichern, wird uns ein Auffinden erleichtern. Gott sei Dank, meine Dosia, unser Kind hat uns sehr weh gethan, aber zu schämen werden wir uns ihrer nie haben.«

»Man muß sofort Nachforschungen anstellen und ihrer habhaft werden,« rief Nikolas, »wenn sie mit dem Paß reist, kann das ja keine Schwierigkeiten haben.«

»Ganz gewiß müssen wir sie auffinden,« erwiderte sein Vater. »Ob wir aber gut daran thun würden, ihre Rückkehr zu erzwingen, solange sie nicht selbst kommen will, bezweifle ich sehr: Sie soll das Leben kennen lernen, und sie wird heilsame Lehren empfangen, denn wir dürfen nicht vergessen,« fuhr er, sich zu Wera und Nikolas wendend, fort, »daß, wenn wir auch in dieser Stunde weit mehr geneigt sind, sie zu bemitleiden und uns nach ihr zu sehnen, als sie anzuklagen, sie dennoch ein schweres Unrecht begangen hat und Strafe verdient. Ich glaube, daß das Schicksal ihr eine solche nicht erlassen wird, und daß sie demütigeren Herzens uns wiederkehrt.«

Man ging tiefbetrübt auseinander, und Dosia verbrachte die Nacht in heißen Thränen. Was ihr Gatte ihr gesagt, um sie zu trösten oder um ihr Gefühl der schweren Verantwortung auf das richtige Maß zurückzuführen, ist zwischen ihm und ihr Geheimnis geblieben, jedenfalls aber hatte sie eine jener herben Lehren empfangen, wie sie das Leben uns heilsam, aber grausam erteilt, und sie war in den nächsten Tagen nachsichtig für alle und in weicher, ernster Stimmung. Wera empfand darüber ein gewisses Erstaunen, aber ein kluges und gutes Kind, wie sie war, gab sie der Mutter ihr Herzchen mehr und williger hin, als je zuvor. Diese Mutter mit den geröteten Augenlidern, die den Namen der fernen Tochter nie nannte, und der man doch anfühlte, daß all ihre Gedanken bei dem rebellischen Kinde waren, wurde dem jungen Mädchen doppelt lieb, und sie fühlte halb unbewußt, daß die einzige Linderung für die immer schmerzende Wunde darin bestand, daß sie ihr zu der Zukunft und Entwickelung ihres zweiten Kindes volles Vertrauen einflößte.

Ermil hatte das Haus am Morgen nach dem verhängnisvollen Tag verlassen: Agnes sollte, wenn irgend ein unvorhergesehenes Ereignis sie unter das schirmende Dach zurückführen würde, ihn nicht an dem Ort finden, den sie ihm zu meiden so ernstlich befohlen hatte. Als sie ihn so düster und bekümmert sah, ahnte seine Schwester wohl, daß er sich selbst irgend einen Vorwurf zu machen habe, und mit ein klein wenig Diplomatie und viel, viel Herzensgüte errang sie auch bald ein umfassendes Bekenntnis, wobei weder das von Agnes gefällte Verbannungsurteil, noch seine Unterwerfung unter dasselbe ihr verschwiegen blieben.

»Und darauf bist du eingegangen, sie nicht mehr zu sehen?« rief sie aus. »Da hast du einen sehr dummen Streich gemacht, Bruderherz! Du hättest sagen müssen: Dann drehen Sie mir gefälligst den Rücken, wenn ich hereinkomme und Sie mich nicht sehen wollen; ich verzichte deshalb nicht auf den Verkehr mit meinen liebsten Freunden! Das launenhafte, häßliche kleine Ding!«

»Marie, sie ist vielleicht unglücklich ...«

»Um so besser! Dann lernt sie, was es heißt, andre unglücklich machen,« versetzte das wackere Mädchen mit ihrem Gerechtigkeitsgefühl. »Du wirst schon sehen, wie gut ihr das thut!«

»Was rätst du mir zu thun?« fragte Ermil ein wenig betroffen von dieser neuen Auffassung.

»Dich ruhig zu verhalten!«

»Das kann ich nicht!«

Marie sah ihrem Bruder tief in die Augen, darin legte sie dem guten Jungen die Hände auf die Schultern und sagte mit verständnisvollem, überlegenem Lächeln: »Du willst sie suchen ... nun wohl, so geh'! Suche, setze Himmel und Erde in Bewegung, finde sie ... und wenn du sie gefunden hast, so wird sie dich noch einmal ablaufen lassen, falls sie nicht ...«

»Falls sie nicht ... was?«

»Dir um den Hals fällt, denn sie hat das beste Herz von der ganzen Welt,« schloß Marie. »Vorwärts, alter Junge, mach dich auf den Weg! Siehst du, ich halte mehr von der Nase eines Verliebten als von aller Weisheit einer hohen Polizei, und ich möchte den Wildfang gar bald wieder in Surowa wissen ... freilich nur so lange, bis ich sie hier als mein herzliebes Schwesterlein begrüßen darf!«

»Ach!« seufzte Ermil, »so weit sind wir noch lange nicht. Wenn ich denke, was ihr alles zustoßen könnte!«

»Der! Da kennst du sie schlecht! Wenn ihr nicht gerade ein Dachziegel auf den Kopf füllt, so garantiere ich dir, daß ihr nichts Schlimmes widerfährt. Das ist ein Mädel, das weiß, was sie thut, wenn auch nicht immer, was sie will! Wenn ich daran denke, daß sie dem prächtigen Fräulein Titof Paß und Koffer gestohlen hat ... ich gäbe weiß nicht was darum, wenn ich sie in Fräulein Titofs Fähnchen dasitzen und einem dummen Knirps russische Geschichte beibringen sehen könnte ... es muß zu drollig sein!«

Marie lachte hellauf und wischte sich dabei heimlich die Augen: ihr Bruder traf eilig Anstalten zur Reise.

Plato Surof hatte sich natürlich schon am ersten Tag nach Moskau begeben und alle nötigen Schritte zur Verfolgung der Flüchtigen eingeleitet. Dieselben waren ganz erfolglos und zwar deshalb, weil bei der eigentümlichen Art und Weise, wie sie jene Nacht in Moskau verbracht hatte, ein Eintragen ihres Namens und Passes in das Fremdenbuch des Hotels und dadurch auch in die Fremdenlisten der Polizei unterblieben war. Hätte sie Moskau nicht verlassen, so wäre es anders gewesen; nun scheiterten alle Versuche an diesem Umstand, und weitere Schritte waren einfach unmöglich.

Mit unsäglichem Jubel begrüßte man die Depesche von Agnes! Es war also wahr? Sie wollte es ernstlich mit der Arbeit versuchen? Und die Liebe zu den Eltern war bei alledem nicht erkaltet?

»O Gott!« dachte Dosia, die an diesem Tag wohlthuendere Thränen vergaß als seither, »wenn sie nur zurückkäme! Ich werde dann gewiß den rechten Weg finden, sie zu ihrer Pflicht zu führen, ohne dies empfindliche Gemüt zu verletzen. Hart genug wird die Lehre für sie gewesen sein, aber gewiß nicht so unsäglich herb wie für mich.«

Das Leben in Surowa kehrte schließlich in sein gewohntes Geleise zurück. Fräulein Titof hatte ihre Reise nach Moskau bis zur Wiederkehr ihres Passes aufgeschoben und hatte nach der Dampfschiffstation gesandt, um ihren Koffer vorderhand wieder nach Hause holen zu lassen, wodurch sie zu ihrer größten Ueberraschung erfuhr, daß die angebliche Besitzerin denselben längst mit nach Nischni-Nowgorod genommen habe.

»Wie vernünftig von ihr!« rief das treffliche Mädchen. »Wie schade, daß ich nicht meine bessern Sachen eingepackt hatte!«

Und darauf fuhr sie fort, Wera in die dunkeln Geheimnisse der Orthographie einzuweihen.


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