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Achtes Kapitel. Auf der Stellensuche

Ohne hinter sich zu blicken, hatte Agnes so rasch als möglich den Bahnhof verlassen und war in die nächste beste Ecke geeilt, in heller Angst, von der freundschaftlichen Dame verfolgt zu werden. Der Gedanke an eine bußfertige Umkehr erschien ihr nach dem, was sie in den letzten vierundzwanzig Stunden durchgemacht hatte, vollends nicht mehr zu ertragen, denn zum Gefühl ihrer Schuld gesellte sich nun die Furcht vor der Lächerlichkeit, die bei ihrer stolzen Natur sehr mächtig war. Als ein Opfer der Härte ihrer Mutter in die weite Welt ziehen, das ließ sich hören, aber als ein Opfer abgerissener Klingelzüge und schwarzer Käfer, eines widerspenstigen Droschkengauls und eines betrunkenen Kutschers heimkehren, das hätte noch zehn Jahre lang Stoff zu Witzen und Anspielungen gegeben – das konnte nicht geschehen.

Nachdem sie ein paar hundert Schritte in den unbekannten stillen Straßen gegangen war, schickte sie sich an, wieder in den belebteren Stadtteil zurückzukehren, als sie zufällig am Balkon eines Hauses mit abgestumpfter Ecke ein Schild bemerkte.

»Lehrerinnenheim« besagte die Aufschrift. An der Thür des Hauses trug ein blitzblankes Messingschildchen dieselbe Bezeichnung.

Einen Augenblick zögerte Agnes, sah fragend die Straße entlang und trat schließlich ein. Im zweiten Stock stand an der Vorthür wiederum »Heim«, und ihren Mut zusammenfassend, zog sie die Klingel. Eine sehr anständig gekleidete junge Dienerin öffnete die Thür.

»Das Lehrerinnenheim ist hier?« fragte Agnes mit einer Stimme, die nicht halb so sicher klang, als ihr wünschenswert gewesen wäre.

»Gewiß, Fräulein,« versetzte die Dienerin.

Nun versagte ihr die Stimme plötzlich ganz, und zum erstenmal überkam sie ein tiefes Gefühl der Demütigung. Schließlich kam sie hierher, um etwas zu erbitten ... und wie, wenn man ihr das Verlangte nicht gewähren würde? Diese Möglichkeit war es, wogegen ihr Stolz sich aufbäumte!

»Sie suchen Stellung, bitte hier,« sagte die Dienerin, welcher die Mitteilung genügt zu haben schien.

Agnes wurde in eine Art von Büreau geführt, dessen ganze Einrichtung aus einem eichenen Tisch und ein paar Stühlen bestand. Eine zierliche junge Frau, die am Tisch saß, studierte eifrig zwei vor ihr liegende Register. Als das junge Mädchen eintrat, stand sie auf, bot ihr einen Stuhl und setzte sich dann rasch wieder, alles in einer geschäftsmäßigen Weise und als ob Zeitersparnis und das Vermeiden unnötiger Bewegungen ihre größte Sorge gewesen wären.

»Sie suchen eine Stellung, Fräulein?« begann die kleine Frau, ihren Besuch ins Auge fassend.

»Ja, eine Stellung als Erzieherin.«

Nie hätte Agnes geglaubt, daß es so schwer wäre, den Satz über die Lippen zu bringen.

»Haben Sie ein Diplom, Empfehlungen, Zeugnisse?«

»Augenblicklich habe ich nichts, als meinen Paß, aus dem Sie ersehen können, wer ich bin.«

Als das junge Mädchen mit ihren sein beschuhten Händchen der jungen Frau das Blatt reichte, lag so viel Vornehmheit in ihrer ganzen Erscheinung, daß diese unwillkürlich einen gewissen Respekt empfand. Mit erfahrenem Auge überflog sie das Dokument.

»Sie sind lange in ein und demselben Haus gewesen?«

»Ich war nur in diesem einen.«

Die Dame berechnete im stillen das auf dem Paß angegebene Alter, es stimmte vollkommen zu der Zeit, in der man gewöhnlich diesen Beruf ergreift.

»Und weshalb sind Sie dort weggegangen?«

»Aus Familienrücksichten,« erwiderte Agnes in etwas gereiztem Ton. Dieses Verhör war ihr gründlich zuwider, und wenn ihre Vernunft ihr auch sagte, daß ein solches unumgänglich sei, gelang es ihr doch nicht, die Sache kühlen Blutes über sich ergehen zu lassen.

Die Vorsteherin mochte diese Gefühle erraten, und drang nicht weiter in sie.

»Welcher Art sollte die Stellung sein?« fragte sie.

»Ich möchte ein kleines Mädchen zu unterrichten haben, das heißt aber,« fügte sie rasch hinzu, »kein so gar kleines, etwa zehn oder zwölf Jahre.«

»In welchen Fächern können Sie unterrichten?«

»In allen!« versetzte Agnes mit so naivem Selbstvertrauen, daß die Dame sich eines wohlwollenden Lächelns nicht erwehren konnte.

»Ich will damit sagen,« fuhr das junge Mädchen fort, »in allen, die in der Regel gelehrt werden: Elementarfächer, Geschichte, Sprachen ...«

»Auch deutsch?«

»Französisch, englisch und deutsch.«

»Und Musik?«

»Gewiß, und Aquarellmalen ...«

Die Dame war im stillen sehr erstaunt, daß ein Mädchen, welches über solche Kenntnisse verfügte, keinerlei Empfehlungen habe; bei Agnes' Schönheit und vornehmer Erscheinung schloß sie auf irgend einen kleinen, der Heldin jedenfalls keine Schande machenden Roman, und unterdrückte aus Zartgefühl alle Fragen, die sie gern beantwortet gehabt hätte.

»Und Ihre Gehaltsansprüche?«

Agnes war bestürzt; sie hatte nicht die leiseste Vorstellung, was eine Erziehung wie die ihrige wert sei, und was sie verlangen könne: nebenbei erschien ihr diese Frage sehr untergeordnet und fast verletzend.

»Darauf lege ich keinen besondern Wert,« sagte sie, »die Hauptsache ist mir, daß ich in einem gebildeten, guten Haus eine Stellung finde.«

Das genügte der Dame, die nun wieder mit ihrer Geschäftsmiene in dem Register nachschlug.

»Hier wäre etwas,« sagte sie, »ein etwas kränkliches Kind von elf Jahren, man muß ihm vorlesen, ausgegangen wird gar nicht; fünfhundert Rubel jährlich.«

»Nein, nein, das paßt mir nicht,« erklärte Agnes entschieden, »ich muß Luft und Bewegung haben, und Vorlesen ist mir unerträglich.«

Die Dame blätterte weiter.

»Eine Stelle in der Provinz. Das macht Ihnen doch nichts aus? Ist übrigens ganz in der Nähe, ein oder zwei Stunden vom Sankt Sergiuskloster.«

Agnes nickte beistimmend.

»Ein Mädchen von zwölf Jahren, Realien, Französisch und Deutsch, Musik; das ganze Jahr auf dem Lande. Vierhundert Rubel. Sagt Ihnen das zu?«

Es entsprach Agnes' Wünschen vollkommen.

»Aber das wäre für sofort. Wenn Sie sich mit der Dame verständigen, könnten Sie heute noch abreisen.«

»Um so besser,« erwiderte das junge Mädchen, froh im Gedanken, die Nacht nicht im Wartesaal zubringen zu müssen.

»So wenden Sie sich, bitte, an diese Adresse, und kommen Sie dann wieder hierher, um mir Bescheid zu sagen, wie sich die Sache entschieden hat. Wo wohnen Sie?«

»Ich bin soeben angekommen, wie Sie aus meinem Paß ersehen – mein Gepäck ist auf dem Bahnhof ...«

»Ach so! Nun, wenn es sich mit dieser Stellung nicht machen sollte, so kommen Sie nur zu uns; Sie bezahlen sechzig Kopeken im Tag.«

Das klang tröstlich und beinahe gastfreundlich, aber Agnes hatte ein zu lebhaftes Verlangen, ihre Berufsarbeit zu beginnen, um nicht jegliche sich ihr bietende Stellung lieber anzunehmen, als noch länger abzuwarten. Ueberdies hatte sie die Empfindung, daß es für ihre Eltern so gut wie für sie selbst nicht ehrenvoll wäre, die Vorteile einer solchen Anstalt sich zu nutze zu machen, die ihre Mittel unter allen Umständen ganz oder doch teilweise der öffentlichen Wohlthätigkeit verdankte.

Die Dame erhob sich ebenfalls, als Agnes aufstand, und es schien, als ob sie eine innere Unsicherheit und etwas Wie Reue empfinde.

»Es thut mir so leid, daß Sie keine Zeugnisse oder Empfehlungen haben,« sagte sie, »Sie scheinen mir so jung und trotz allem, was Sie mir sagen, so unerfahren, daß ich Ihnen gern eine bessere Stellung verschaffen würde, allein ohne Referenzen hält das sehr schwer. Könnte ich nicht an die Familie schreiben, bei der Sie gewesen sind, an Herrn oder Frau Surof?«

»O nein!« rief Agnes. »Das geht nicht!«

»Sie sind nicht in gutem Einvernehmen geschieden?«

»Allerdings nicht,« erwiderte das junge Mädchen, die Augen niederschlagend, die plötzlich voll Thränen standen.

»Schade! Sehen Sie, die Adresse, die ich Ihnen gegeben habe, ist die einer sehr ehrenwerten Dame – dagegen läßt sich nicht das Geringste sagen – allein dieselbe ist etwas schwer zu behandeln, auch das Kind soll widerspenstig sein ...«

Agnes warf ihr Köpfchen auf, wie ein wackeres Schlachtroß beim Trompetensignal.

»Das schreckt mich keineswegs ab,« erklärte sie. »Ich habe schon genug schwierige Charaktere kennen gelernt.«

»Nun dann wünsche ich Ihnen von Herzen Glück.«

»Danke sehr. Habe ich etwas zu bezahlen?«

»Nein,« versetzte die Dame lächelnd, »Sie nicht! Frau Markof wird wohl, wenn die Sache im reinen ist, eine Kleinigkeit zum Besten des ›Heim‹ geben, einen freiwilligen Beitrag nur, zu dem sie nicht verpflichtet ist. Das Heim ist eine Wohlthätigkeitsanstalt.«

Mit raschem Impuls öffnete Agnes ihre kleine Brieftasche, zog einen Fünfrubelschein heraus und steckte ihn in die auf dem Schreibtisch stehende Armenkasse.

»Für solche, die ärmer sind als ich,« sagte sie mit halb schüchternem, halb stolzem Lächeln.

Ihr Blick begegnete dem fest auf sie gerichteten der Vorsteherin, die ihr liebevoll die Hand auf die Schulter legte.

»Wenn diese Stellung Ihnen nicht zusagt, liebes Kind,« sagte sie herzlich, »so kommen Sie nur wieder zu mir, wir werden dann schon etwas Bessres finden. Nehmen Sie die Adresse unsres Hauses« – sie bot ihr eine gedruckte Karte – »und empfangen Sie im Namen unsrer weniger vom Glück begünstigten Schwestern meinen herzlichen Dank.«

Agnes verabschiedete sich freundlich und ging; auf der Straße angelangt, fand sie erst Zeit, sich über den Schritt, den sie gethan, zu verwundern.

Eine Droschke fuhr vorüber; sie winkte dem Kutscher, und bald darauf ward sie wieder über das an Holperigkeit seinesgleichen suchende Pflaster der guten alten Stadt Moskau hin und her geschüttelt und gerüttelt.

Der Wagen hielt vor einem Hotel, das auf ein Haar dem gastlichen Dach glich, welches unsern Flüchtling in dieser Nacht so eigenartig beherbergt hatte. Die prächtige Fassade zeigte eine so ungemein zahlreiche Reihe von Fenstern, daß jedes Zimmer deren allermindestens zwei besitzen mußte, sollte man darin die Arme ausbreiten können, ohne an beiden Wänden anzustoßen. Auf der hohen und breiten Treppe herrschte der nämliche Geruch von ranzigem Fett und Schlafpelzen: den Vergleich bis in die höheren Regionen durchzuführen, war Agnes leider nicht vergönnt, da man im zweiten Stock Halt machte und sie in einen sehr heruntergekommenen Salon einführte, in dem eine Dame von etwa fünfundvierzig Jahren auf einem außerordentlich harten, ungemütlichen Sofa saß und Thee trank.

Als Agnes herein kam, erhob sie sich, setzte sich aber, als diese ihr Billet von der Vorsteherin des Lehrerinnenheims übergab, sofort wieder, ohne dem jungen Mädchen vorher einen Stuhl angeboten zu haben.

»Sie wollen die Stelle in meinem Haus übernehmen?« fragte sie.

»Ja, gnädige Frau!«

»Setzen Sie sich,« bemerkte Frau Markof nun und fing sofort an, ein regelrechtes Examen über Agnes' Kenntnisse einzuleiten. Sie hatte dabei freilich den Wunsch, Mängel zu entdecken, was ihr aber dank der Gewissenhaftigkeit, mit der das junge Mädchen von jeher alles gründlich zu lernen gewünscht hatte, nicht gelang. Der berühmte Paß wurde vorgezeigt, nach Empfehlungen erfolgte zum Glück keine Frage. Hätte Agnes etwas mehr Erfahrung und Weltkenntnis besessen, so würde diese Nachsicht sie beunruhigt haben, unerfahren wie sie war, freute sie sich nur herzlich darüber.

»Sie passen mir,« sprach sich Frau Markof zuletzt aus. »Die Bedingungen sind Ihnen bekannt: vierhundert Rubel, vierteljährlich zahlbar; Ausgangstage haben Sie nicht.«

»Das weiß ich, gnädige Frau,« erwiderte Agnes.

»Nun, dann wäre die Sache im reinen. Wir reisen heute abend um fünf Uhr ab. Wenn Sie noch etwas zu besorgen haben, die Zeit bis dahin haben Sie für sich.«

»Gut, ich habe allerdings einiges zu thun,« sagte Agnes ausstehend. »Im Heim kann ich also bestellen, daß Sie mich engagiert haben?«

»Gewiß. Uebrigens werde ich selbst dort vorüberkommen.«

»Auf Wiedersehen, gnädige Frau,« sprach die nun in Amt und Würden stehende, neugebackene Erzieherin.

»Auf Wiedersehen,« erwiderte Frau Markof, ohne sich stören zu lassen.

»Du bist sehr schlecht erzogen, meine Liebe,« dachte Agnes, »ich will dir schon Lebensart beibringen, das sollst du sehen!«

»Hübsch ist sie, aber sie sieht sehr harmlos aus; man wird leicht mit ihr fertig werden,« sagte sich ihre Herrin. »Wenn nur Mittia sich nicht einfallen läßt, sich in sie zu vergaffen – nun dann schickt man sie eben wieder weg! Passiert nicht zum erstenmal!«

Im Lauf des Nachmittags machte Frau Markof ihren Besuch im »Heim« und bot mit sehr befriedigter Miene »ihr Scherflein« für die Anstalt.

Als sie fort war, betrachtete die Vorsteherin nachdenklich die Gabe.

»Sonderbar,« sagte sie sich. »Die Erzieherin hat fünfmal so viel gegeben wie die Dame, die sie engagiert hat. – Armes Ding! Sie wird ihre Erfahrungen machen.«


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