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Zwölftes Kapitel. Sturm

Einen Maulkorb anlegen, das geht beim Hund und, wenn's sein muß, noch beim Bären – aber wie das Ding an einem ausgebeinten, weichgekochten Kalbskopf anbringen? Der Charakter Mittias, wie überhaupt seine ganze Persönlichkeit war so gallertartig, daß man ihm keine Form geben, keinerlei Zwang auf ihn ausüben konnte. So verfolgten denn nach wie vor seine Seufzer Agnes auf Schritt und Tritt, weniger harmonisch, aber ebenso unzusammenhängend, wie die Klänge einer Aeolsharfe.

Sie nahm sich vergebens vor, gar nicht darauf zu achten; allein diese Klagelaute, die wie das Gewinsel eines jungen Hundes klangen, gingen ihr auf die Nerven. Die schmachtenden Blicke waren ebensowenig erheiternd, und wenn sie versuchte, die Sache von der komischen Seite anzusehen, so stieg doch immer wieder ein Ekel in ihr auf vor der Erbärmlichkeit einer Frau, die Derartiges duldet, weil es eine Zerstreuung für ihren Sohn ist.

Der Himmel war wieder heiter geworden, und milde klare Tage hatte der Spätherbst noch gebracht; im Innern des Hauses Markof aber deutete das Barometer auf Sturm. Vergebens hatte Agnes gesucht, an Herrn Markof einen Rückhalt zu gewinnen; sie hatte bald einsehen müssen, daß der vortreffliche Mann sich um des lieben Friedens willen längst jeder Willensäußerung enthielt. Seine Gattin hatte auf eine leichte Anspielung von Agnes zur Antwort gegeben, daß ein junges Mädchen vor allen Dingen nicht zimpferlich sein solle – sie hatte stets einen allgemeinen Satz in Bereitschaft, vermittelst dessen sie von jedem Menschen als Haupttugend forderte, was ihr eben paßte.

Seraphine hatte ein paar Tage an der fesselnden Lehrmethode Gefallen gefunden, dann war sie der Sache ebenfalls überdrüssig geworden; sie verzichtete auch auf ein Vergnügen eher, als daß sie sich angestrengt hätte. Gestern war das fünfte Roastbeef auf den Tisch gekommen – Agnes berechnete die Zeit nach Roastbeefs, und es ergab sich aus dieser Rechnung, daß sie nun volle vierzehn Tage in diesem wunderlichen Hause zugebracht hatte. War es die Wirkung des kalten Bratens oder des warmen Wetters? Kurz, Agnes war heute früh nervös und erregt und ihre Schülerin nicht minder.

»Fräulein! Ich liebe Sie!« hatte Mittia diesen Morgen über seine Kaffeetasse hin geflötet. »Ich liebe Sie mehr als je! Ein Wort von Ihnen, und wir entfliehen miteinander! Sie haben Angehörige? Wenden wir uns an die! Bei diesen werden wir uns trauen lassen und unendlich viel glücklicher sein als hier!«

Ach! Ja! Man war glücklicher in Surowa! Das war gewiß! Mit tiefem Heimweh dachte Agnes an den buntgefärbten herbstlichen Wald, an das Rauschen des Flusses, an die blumengeschmückte Terrasse, der wohl noch kein Herbstfrost etwas hatte anhaben können, weil sie so geschützt war, an ihren Flügel, über den ihre geschmeidigen Finger so oft hingeglitten waren, an Wera, die sich wohl auch nach ihr sehnen würde, an Fräulein Titos, die nicht zu ihrem Onkel hatte gehen können, weil ihr Paß fort war, an ihre Mutter –

Ihre Mutter! Nein, an die wagte sie nicht zu denken! Vor dem Gedanken schreckte sie zurück, denn ihr Gewissen sprach allzulaut. Im tiefsten Innern war sie sich bewußt, daß ihr Vater, so traurig er auch sein mochte, den Schlag doch nicht so tief schmerzlich empfunden habe wie die Mutter. Sie hatte sich gewaltsam aller Gedanken an dies geliebte Elternhaus erwehrt, an dies Haus voll Segen, das ihre Freuden und ihre Pflichten, diese beiden unzertrennlichen Gefährten umschloß. Vergebens hatte sie sich falsche Pflichten geschaffen, sich einen erdichteten Beruf künstlich gemacht, sich Verantwortlichkeit und Verbindlichkeiten aufgeladen; hatte sich Last um Last aufgebürdet, ohne dabei je wieder einen Schimmer jener inneren Freudigkeit in sich zu fühlen, die ihr einst ihre Pflichterfüllung so leicht hätte machen können.

»Närrin, verblendete, die ich war!« sagte sich Agnes, in die einförmige, unschöne, reizlose Landschaft hinausblickend. »Ich habe mir eingebildet, der Mittelpunkt der Welt zu sein, und ich bin nichts, gar nichts, nicht einmal ein Rädchen in dieser ungeheuren sozialen Maschine, in der ich nirgends etwas nützen kann. Ich bin nichts und weiß nichts trotz all meiner Gelehrsamkeit, und ich werde erst dann etwas wert sein, wenn ich mich beherrschen gelernt habe!«

Viel war erreicht damit, daß ihr diese Wahrheit aufgegangen, allein sie selbst war sich des neugewonnenen Reichtums noch nicht bewußt. Unwillkürlich flossen ihre Thronen; der Panzer von Stolz und Trotz fiel ab von ihrem Herzen, das sich in Rührung auslöste. O wie gern hätte sie sich den Eltern zu Füßen geworfen, die sie einst der Ungerechtigkeit und Härte beschuldigt ... ach wenn sie nur wüßte, ob sie Verzeihung erlangen würde.

Mittias klagende Stimme ließ sich draußen vernehmen; schon der bloße Klang versetzte sie in gereizte Stimmung.

Das hatte sie nun davon, daß sie ihn aus ihrer Nähe verbannt, den edeln mutigen Ermil, der ihre Fehler erkannt und den Mut gehabt hatte, sie ihr vorzuhalten! Nun hatte sie statt des treuen Gespielen ihrer Kindheit, der wahrhaftig wert gewesen wäre, ihr Gefährte fürs Leben zu werden, einen lächerlichen weinerlichen Menschen um sich, dessen Lieben und Seufzen eine Beleidigung sein würden, wenn er nicht gar zu tief unter ihr stünde.

»O meine Mutter!« schluchzte Agnes leise und die Thränen fielen unaufhaltsam auf ihre gefalteten Hände, »meine gute Herzensmutter, mein edler, herrlicher Vater, mein geliebter Ermil, wie habe ich euch alle von Herzen lieb! Meine Seele sehnt sich wund nach euch in all dem Leid, das ich selbst verschuldet! Ach, wie wollt' ich heimfliegen zu euch, wenn ich nur wüßte, wie ihr mich aufnehmen würdet!«

Es war nicht mehr die Furcht vor Vorwürfen und Schelte, was Agnes zurückhielt, sondern die weit ernstere Sorge: man könnte ihr die Stätte am häuslichen Herd weigern, die sie so schnöd verlassen!

»Aber Tante Sophie?« kam es wie eine plötzliche Erleuchtung über sie. »Die Tante, die ist ja die Vernunft und Güte selbst! Sie wird sich meiner erbarmen, sie wird mir helfen, die Verzeihung der Eltern zu erlangen, denen ich so namenlos weh gethan!«

Flüchtigen Fußes eilte sie ins Schulzimmer, um auf der Stelle an die Tante zu schreiben und sie auf ihre Ankunft vorzubereiten; sie suchte eifrig nach einem Blatt Papier in ihrer Mappe, als Frau Markofs Stimme von der Schwelle her ertönte.

»Nun, Fräulein, hab' ich Ihnen nicht gesagt, Sie dürfen Seraphine nicht mehr bei mir um Freistunden bitten lassen?«

»Gewiß, gnädige Frau!« erwiderte Agnes aufblickend.

»So ... und was hat sie soeben gethan?«

»Das weiß ich nicht. Sie hat gesagt, sie wolle Ihnen guten Morgen wünschen.«

»Allerdings. Das hat sie auch gethan, und dann hat sie mich gebeten, ihr heute frei zu geben, und ich habe ›ja‹ gesagt. Sie wissen wohl, daß das nicht noch einmal hätte vorkommen sollen.«

»Das haben Sie mir freilich gesagt, gnädige Frau,« gab Agnes fest und bestimmt zurück. »Dann hätten Sie mich aber auch ermächtigen sollen, Seraphine das Betreten Ihres Zimmers zu untersagen.«

»Ich will aber, daß sie mir guten Morgen sagt! Was, Sie wollen mich um die Liebe meines Kindes bringen? Verrückte Idee!«

»Dann,« sagte Agnes, die sich nur noch mühsam beherrschte, »bin ich auch nicht im stande, Seraphine abzuhalten, Sie um alles zu bitten, wonach ihr Herz verlangt.«

»Das kommt daher, daß Sie Ihr Handwerk nicht verstehen! Ich will ... merken Sie wohl auf ... ich will, daß Seraphine um mich ist, soviel sie will, und ich verbiete Ihnen, daß sie mich um freie Tage bittet.«

»Der Satz ist nicht richtig, gnädige Frau,« sagte Agnes.

»Wie so?«

»Der Satz ist nicht richtig ... weder grammatikalisch, noch logisch.«

»Unverschämtes Geschöpf!« kreischte Frau Markos.

»Was Sie von mir halten, gnädige Frau, berührt mich sehr wenig,« erwiderte Agnes, die mit einem Schlag wieder Plato Surofs stolze Tochter war. »Ich verlasse dies Haus. Darf ich Sie bitten, mir Wagen und Pferde zu verschaffen bis Sankt Sergius.«

»Sie? Fort? Fällt mir gar nicht ein! Ich bin mit Ihnen zufrieden, wenn Sie auch nicht verstehen, sich Gehorsam zu verschaffen, und ich behalte Sie.«

»Gegen meinen Willen?«

»Ganz gewiß! Ich gebe Ihnen einfach Ihren Paß nicht! Ohne Paß, was können Sie da anfangen?«

Agnes brach bei diesen Worten in ein übermütiges, tolles Lachen aus. Zum erstenmal seit ihrer Abreise war ihr dieser berühmte Paß offenbar ganz gleichgültig! Auch an den Koffer dachte sie, an Fräulein Titofs kostbaren Koffer, dem sie nichts entnommen hatte als ein wenig Weißzeug! Nun war sie beides auf einmal los, den Paß und den Koffer! Und was werden die wackeren Markofs für Gesichter machen, wenn Oberst Surof sie auffordert, die unrechtmäßig zurückbehaltenen Gegenstände herauszugeben!

Frau Markof, die unmöglich ahnen konnte, welch eine Reihe fröhlicher Gedanken ihre Drohung in dem Köpfchen ihrer Erzieherin hervorgerufen, hielt dies ausgelassene Lachen für einen Nervenzufall und eilte hinaus, um ein Glas Wasser zu holen.

Sie hatte kaum das Zimmer verlassen, als Mittia hereinschlüpfte. Agnes war auf einen Stuhl gesunken und lachte fort und fort, obwohl sie ihr Möglichstes that, wieder ernst zu werden. Das Taschentuch fest an den Mund gepreßt, hörte sie von Zeit zu Zeit auf, bis ihr irgend eine neue lächerliche Seite ihrer Lage in Sinn kam und sie abermals hell auflachen mußte. Mittias Anblick war nicht dazu angethan, ihre einmal entfesselte Heiterkeit zu vermindern, und als er sie tief gerührt und mitleidsvoll anstarrte, versteckte sie ihr Gesicht in ihr Tuch und lachte bis zu Thränen.

Die Gelegenheit war zu günstig ... Mittia konnte nicht widerstehen; mit aller ihm zu Gebote stehenden Anmut beugte er sich über das junge Mädchen und näherte seine Lippen ...

Allein Agnes hatte seinen Bart an ihrem Ohr gefühlt, und rascher als er, versetzte sie ihm in dem Augenblick, wo Frau Markof mit ihrem Glas Wasser auf der Schwelle erschien, eine kräftige Ohrfeige.

»Ach!« rief Mittia bestürzt, seine Hand aus die schmerzende Stelle drückend.

»Fräulein! Das ist ja unerhört! Meinen Sohn schlagen!« rief Frau Markos entrüstet und goß sich dabei den Inhalt des Glases übers Kleid.

»Ihn küssen, wäre vielleicht besser?« erwiderte Agnes. »Nun, gnädige Frau, ja oder nein, kann ich die Pferde haben?«

»Nein! Nein und dreimal nein!« zischte Frau Markof, indem sie zugleich mit ihrem Taschentuch das Wasser von ihrem Kleid wischte.

»Dann werde ich zu Fuß gehen.«

»Zu Fuß! Und Ihr Koffer?«

Wiederum mußte Agnes, die eilig ein paar ihr gehörige, im Schulzimmer umher liegende Kleinigkeiten zusammenraffte, das Lachen verbeißen.

»Mein Koffer,« stotterte sie, »den werde ich holen lassen. Leben Sie wohl, gnädige Frau! Leben Sie wohl, Mittia!«

Damit flog sie wie ein Pfeil zur Thür hinaus, und Mutter und Sohn sahen einander verblüfft ins Gesicht. Keine Minute verging, so eilte Agnes im nämlichen grauen Kleidchen, dem nämlichen Mantel und der kleinen Toque mit dem Schleier, ganz so, wie sie Surowa verlassen hatte, durch den Garten. Dieselbe kleine Tasche trug sie in der Hand, nur ein in Moskau gekaufter Regenschirm vermehrte ihre Ausrüstung ... er war die einzige greifbare Erinnerung an ihr phantastisches Unternehmen.


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