Ferdinand Gregorovius
Athenaïs
Ferdinand Gregorovius

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II.

Wir kennen die Persönlichkeiten mancher Lehrer der Wissenschaften in Athen während des vierten Jahrhunderts aus dem »Leben der Sophisten« des Eunapius. Es sind darunter einige zu ihrer Zeit hoch angesehene Männer, wie Julianus von Cäsarea, Proäresius und Libanius, Musonius, Aedesius und Himerius. In der Reihe solcher Berühmtheiten steht aber nicht der Sophist, dessen geistvolle Tochter Athenaïs das Diadem der byzantinischen Kaiserin getragen hat. Nur durch ihren wunderbaren Glanz und Ruhm ist sein Name überhaupt auf die Nachwelt gekommen.

Dieser glückliche Mann war Leontius.Alte Byzantiner nennen ihn so, nur im Chron. Paschale heißt er Heraklitus. Mit Unrecht hat Muralt (Essai de Chronogr. Byzantine, S. 32) diesen Namen beibehalten. Als Leontias, Tochter des Leontius, ist Athenaïs auch in dem Distichon bezeichnet, welches am Ende der von ihr verfaßten Metaphrase des Octateuchs steht. Der Afrikaner Olympiodorus, welcher während der Regierung der Kaiser Arcadius und Theodosius des Zweiten als Dichter, Geschichtschreiber und Staatsmann in Constantinopel vielen Einfluß genoß, hat erzählt, daß er auf einer Reise einmal nach Athen gekommen sei, und hier durch seine Bemühungen den Leontius, obwol wider dessen Willen, auf den sophistischen Lehrstul eingesetzt habe.Εις τὸν σοφιστικὸν θρόνον. Auszüge des Photius aus Olympiodor, dessen Geschichte die Jahre 407–425 umfaßte (Fragm. Hist. Graecor. IV, 63, ed. C. Müller). Zum Begriff θρόνος und Sophist: Zumpt, über den Bestand der phil. Schulen in Athen, S. 23 fg. Nur uneigentlich wird Leontius »Philosoph« genannt. Er war Sophist, und Sokrates (VII, c. 21), welcher Athenaïs persönlich kannte, schreibt von ihm: Λεοντίου γὰρ του̃ σοφιστου̃ τω̃ν ’Αθηνω̃ν. Diese Worte lehren, daß Leontius als der Sophist Athens damals bekannt war. Das Jahr, in welchem dies geschah, ist unbekannt.

Leontius sträubte sich, den noch immer viel begehrten »Tron des Sophisten«, das heißt des öffentlichen Lehrers der griechischen Redekunst, zu besteigen, und so eine Ehre anzunehmen, welche ihn zum Scholarchen der Jugend in Athen machte. Wenn er ein ruheliebender Mann war, so mußte er sich vor den unausbleiblichen Angriffen der Neider und vor der Eifersucht der Pedanten fürchten, und seine Weigerung spricht vielleicht dafür, daß der Ehrgeiz in ihm geringer war, als die sokratische Tugend der Bescheidenheit und Selbsterkenntniß.

In diesem von seinem Freunde Olympiodor begünstigten Sophisten darf man ohne jedes Bedenken den Vater der Athenaïs erkennen. Seine Lebensschicksale aber sind ganz unbekannt. Wir wissen nicht einmal, ob er Athener von Geburt gewesen ist. Wie viele andere Redekünstler und Philosophen, welche aus Städten Asiens oder Afrikas nach Athen herübergekommen waren und dann daselbst das Bürgerrecht und eine bleibende Stellung gewannen, konnte auch Leontius aus der Fremde eingewandert gewesen sein.Beutler (De Athenarum Fatis, S. 87) glaubt, daß er mit Olympiodor nach Athen gekommen sei, was unerweisbar ist. Zonaras (II, 40) sagt nur: θυγάτηρ μὲν η̃ν Λεοντίου τινὸς φιλοσόφου ’Αθήνηθεν ωρμημένον. Der Name Athenaïs, welchen er seiner Tochter gab, beweist nur seine Liebe zu Athen, seinen Enthusiasmus für die attische Weisheit und seinen Glauben an die alten Götter des Olymp. Der Weisheitsgöttin Athene hatte der Sophist sein Kind geweiht in einer Zeit, wo das hellenische Heidentum dem unrettbaren Untergange entgegen ging.Die Göttin selbst ward Athenaïs genannt: Κυρία ’Αθηναΐς heißt sie beim Marinus (Vita Procli, c. 30).

Leontius konnte kaum mehr der Schüler irgendeines der berühmten Rhetoren gewesen sein, welche, wie Proäresius und Himerius, der Hochschule Athen hohen Ruf und Bedeutung verliehen hatten. Diese letzte Glanzperiode der griechischen Beredsamkeit war vorübergegangen, und ihr Epigone auf dem öffentlichen Lehrstul gehörte schon den Zeiten des Verfalls der Rhetorik an.

Als Knabe erlebte Leontius die fantastische und fruchtlose Reaction des Kaisers Julian gegen das ihm verhaßte Christentum. Als Jüngling und Mann sah er den Zusammensturz des Hellenismus im ganzen Römerreich durch die Verfolgungsedicte des ersten Theodosius sich beschleunigen, und noch im Todesjahre dieses Kaisers (395) brach die verhängnißvolle Invasion der Gothen Alarichs über die Städte Griechenlands herein.

Diese furchtbaren Werkzeuge der Zertrümmerung der antiken Welt hat der Vater der Athenaïs wahrscheinlich in Athen selbst mit Augen gesehen. Die Einnahme der alten Hauptstadt aller griechischen Bildung durch nordische Barbarenvölker bezeichnete, wenn sie sich auch in Folge eines Vertrages ohne Greuel vollzogen hatte, einen geschichtlichen Abschnitt im Leben der Hellenen.

Zwar hörte seit dieser Katastrophe die athenische Hochschule nicht auf fortzubestehen: die Lehrstüle der Sophisten erhielten sich, und die neuplatonische Philosophie fand bald nachher in dem Athener Plutarch ein angesehenes Oberhaupt. Aber nach Naturgesetzen mußte jetzt Athen immer tiefer sinken, gleich Rom, nachdem auch diese Weltstadt nur vierzehn Jahre später von denselben Gothen erobert und geplündert war.

Das wegwerfende Urteil des Synesius von Cyrene über den Zustand Athens beweist, wie immer es erklärt werden mag, den Verfall des geistigen Lebens dort. Er schrieb an seinen Bruder folgenden Brief:

»Ich möchte gern aus Athen so viel Gewinn ziehen, als Du immer wünschen kannst; und schon komme ich mir vor, als habe ich um eine Hand breit an Weisheit zugenommen. Nichts hindert mich, Dir davon eine Probe abzulegen. Denn ich schreibe Dir ja aus Anagyrus, und ich habe Sphettus, Thria, Kephisia und Phaleron mit Augen gesehen. Trotzdem sei doch der Schiffspatron verdammt, der mich hierher gebracht hat. Das heutige Athen besitzt nichts Erhabenes mehr, als die berühmten Namen seiner Oertlichkeiten. Und wie von einem geschlachteten Opferthier nur das Fell bekundet, daß es einst ein lebendiges Geschöpf gewesen ist, so ist auch von der aus dieser Stadt hinweggewanderten Philosophie nichts anderes mehr für den Bewunderer übrig geblieben, als der Anblick der Akademie und des Lykeion, und fürwahr auch der gemalten Stoa, von welcher die Philosophie des Chrysippus ihren Namen empfangen hat. Diese Stoa aber ist keine gemalte mehr; denn der Proconsul hat jene Gemälde hinweggenommen, welchen der Thasier Polygnot sein Kunstgenie eingehaucht hatte. In unsern heutigen Tagen zieht Aegypten die Saaten groß, welche es von Hypatia empfangen hat, aber die Stadt Athen, die einstmals der Sitz der Weisen gewesen ist, hat heute nur noch Ruf durch ihre Honigkrämer. Dasselbe gilt von dem Zwiegespann der weisen Plutarche, welche nicht durch den Ruf ihrer Weisheit die Jugend in die Hörsäle locken, sondern durch die Honigkrüge vom Hymettos.«Synesius, Ep. 136.

Das Datum dieses merkwürdigen Briefes ist unbekannt. Als Synesius ihn schrieb, muß Hypatia, seine von ihm schwärmerisch verehrte Lehrerin, noch gelebt haben. Weder aus diesem, noch aus irgend einem andern Briefe desselben Philosophen geht hervor, daß er den Tod der unglücklichen Tochter Theons erlebt hat. Sie starb um das Jahr 415 oder 416.Clausen (De Synesio philosopho Libyae Comment., S. 226) glaubt ihn i. J. 414 oder 415 gestorben. Siehe auch R. Bolkmann, Synesius von Cyrene, S. 251. Während seines Aufenthalts in Athen war dort Plutarch, der Sohn des Nestorius, namhaft; in den ersten Decennien des fünften Jahrhunderts war er Vorstand der platonischen Akademie, als Nachfolger des Priskus. Ihn und den Philosophen Syrianus, oder einen andern aus der hochgebildeten Familie jenes Mannes hat Synesius unter dem Zwiegespann der weisen Plutarche gemeint.η ξυνωρὶς τω̃ν σοφω̃ν Πλουταρχείων – Fabricius (Prolegomena zur Ausgabe des Boissonade der Vita Procli von Marinus, p. XXXII) denkt hier an Syrianus; an den Eidam des Plutarch Archiadas denkt Zumpt, S. 55, und Drouon, Etudes sur la vie et les oeuvres de Synèse, S. 15.

So viel ist glaublich, daß er jenen Brief am Anfange eben jenes Jahrhunderts geschrieben hat. Mit den besten Geistern Athens verkehrend, hat er vielleicht auch Leontius als öffentlichen Lehrer der Beredsamkeit persönlich kennen gelernt.Finlay (Griechenland unter den Römern, S. 261) und nach ihm Hopf (Gesch. Griechenl., S. 85) glauben den Brief geschrieben zwei Jahre nach dem Einfalle Alarichs. Zumpt und Clausen nehmen 402 oder 403 an, und Drouon sogar schon 395.

Sein bitteres Urteil über Athen hat man der Eifersucht zugeschrieben, welche damals zwischen der alexandrinischen und athenischen Philosophenschule bestand, und als Ausdruck rhetorischer Uebertreibung oder gekränkter Eitelkeit erklärt. Was aber in seinem Brief am meisten auffallen muß, ist die gänzliche Empfindungslosigkeit für die heiligen Erinnerungen und die herrlichen Monumente Athens. Nicht ein Wort hat Synesius dafür gehabt. Wenn die wenigen Trümmer der großen Vergangenheit dieser Stadt noch heute jeden Gebildeten zum Entzücken hinreißen, wie mußte sie nicht auf einen Philosophen, einen Griechen jener Zeit wirken, wo sie noch in ihrer antiken Gestalt erhalten war.

Für die Pracht der alten Tempel, für die Schönheit der Werke unsterblicher Künstler hatte der geistvolle Sophist von Cyrene keinen Blick. Selbst von der Entführung der berühmten Gemälde Polygnot's aus der Stoa redet er fast mit boshafter Schadenfreude, ohne eine Spur der Mißbilligung dieses Raubes, welchen der kaiserliche Proconsul Achajas wol erst nach der gothischen Eroberung hatte wagen dürfen.

Die Gefühllosigkeit eines so classisch gebildeten Mannes ist rätselhaft, selbst wenn man annehmen wollte, daß er, der nachherige Bischof von Ptolemais, schon damals zum Christentum sich bekannt habe. Aber immerhin muß seiner sarkastischen Laune irgend etwas Tatsächliches zu Grunde gelegen haben, und vielleicht war es die Wirkung jener Invasion der Gothen, welch in Athen damals fühlbar gewesen ist. Der Geschichtschreiber Finlay schwächt dieselbe ab, indem er bemerkt, daß lange nach den Verheerungen der Gothen und dem Besuche des Synesius die Stadt Athen in Blut stand und ihre wissenschaftlichen Schulen bedeutend waren. Zur Kräftigung seiner Meinung beruft er sich sogar auf Athenaïs. Synesius, so sagt er, könnte das Kind auf dem Arme der Amme gesehen haben, welches in Athen eine Erziehung erhielt, die es sowol zu einer der gebildetsten und anmutigsten Frauen an einem Hofe voll Glanz und Ueppigkeit machte, als auch zu einer Gelehrten, trotz ihres Geschlechtes und Ranges.

Die Verhältnisse Athens stellten sich freilich nach dem Abzuge Alarich's wieder her; aber das konnte doch erst nach einigen Jahren geschehen. Die Verwüstung Attikas und anderer griechischer Landschaften durch das gothische Kriegsvolk ließ zwar keine politischen Folgen zurück, wol aber moralische und ökonomische. Der Untergang vieler Familien, der Tod angesehener Persönlichkeiten, wie des letzten Hierophanten im Tempel der Demeter zu Eleusis, und des mehr als neunzigjährigen Philosophen Priskus, welcher aus Gram über die Zerstörung der griechischen Heiligtümer starb, mußten erschütternd wirken.Τοι̃ς τη̃ς ‛Ελλάδος ιεροι̃ς, εις μακρόν τι γη̃ρας ανύσας (ός γε η̃ν υπὲρ τὰ ενενήκοντα) συναπώλετο. Eunapius, Vita Prisci, S. 67. Eine Flucht der Ausländer aus Athen mag stattgefunden und der Besuch der Hörsäle fast aufgehört haben, bis das Gefühl der Sicherheit allmälig zurückkehrte. Hellas wurde von den räuberischen Gothen befreit, und die Philosophen und Sophisten setzten ihre Vorlesungen wieder fort.


 << zurück weiter >>