Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neunzehntes Kapitel.

Gertrud Halliger hatte ihren Bruder Otto seit den kurzen Begegnungen im vorigen Sommer, wo er sich sehr vom Elternhaus zurückgehalten hatte, nicht mehr wiedergesehen. Die liebevolle Art, mit der er ihr damals begegnet war, hatte sie wohltätig berührt. Wenn er schreibt, was selten geschieht, so tut er es in herzlichster Art, so daß jedes ihr Verhältnis für ein ungleich innigeres gehalten hätte. Eine Art Verehrung für den ihm übrigens recht fremd gebliebenen Schwager klingt immer durch, aber Fragen, außer vielleicht nach der allgemeinen Gesundheit, stellt er schriftlich so wenig wie mündlich. Es ist ihm im Grund gleich, wie das äußere und innere Leben der Schwester verläuft, mit was sie sich beschäftigt und für was sie sich interessiert, nur für ihre Familie hat er Interesse. Derartiges hält er außerdem für etwas ganz Unnötiges. Er selbst aber erzählt unaufhörlich von sich, von seinem Beruf, von dessen Mühen und Plagen, und auch viel von seinen Bekannten und Freunden, obgleich Gertrud diese oft nicht einmal dem Namen nach kennt. Gewissenhaft rapportiert er auch über die körperliche und geistige Entwickelung der Eckebergschen Söhne, die er sehr in sein Herz geschlossen hat. Fast immer bildet den Schluß dieser raren Briefe eine ähnliche Wendung wie: »Wenn du mich einmal brauchst, liebe Schwester, so rufe mich!« Oder: »In immer treuer Liebe, die ich dir gerne beweisen möchte, Dein Bruder Otto!« Wie Gertrud eines Tages mit ihrem Mann über diese seltsame Bruderliebe etwas bitter sprach, meinte dieser: »Ja, Otto ist ein sonderbarer Heiliger, aber er ist doch eigentlich ein prächtiger Mensch und liebt dich herzlich trotz seines törichten Benehmens, das dich ihm innerlich so fremd hält. Wenn er es auch um die Welt keinem eingestehen würde, vielleicht kaum sich selbst, so wette ich doch darauf, daß er dich im Grund bewundert. In einem ist auch er Degenhardtisch. Auch er ist zusammengesetzt aus den heterogensten Eigenschaften; ich glaube, ganz allein du, Traudl, bist anders und aus einem Guß.«

Sie war sehr rot geworden und hatte gemeint: »Geh' doch, Roly, – ich glaube gewiß, auch ich bin das reinste Mosaik.«

Immerzu muß Gertrud seit dem letzten Besuch Gretens überlegen, wie man deren noch so sehr embryonale Pläne abrunden könne. Es liegt für sie am nächsten, dabei an Otto zu denken. Sein Bild hat sich für sie durch das Entfernt-sein in vielen Zügen verwischt, so daß seine sie abstoßenden Eigenschaften weit mehr zurück-, hingegen seine guten in den Vordergrund getreten sind. Sie ist innerlich ganz überzeugt davon, daß der Bruder ihr auf eine Anfrage die genaueste und gewissenhafteste Auskunft geben würde. Dabei macht sie sich aber keine Vorstellung davon, wie weltferne diesem die ganze, sich erst emporringende, moderne Entwicklung der Frauenerziehung liegt und wie verrückt, ja überspannt ihm Gretens Pläne erscheinen würden. Während Gertruds Briefe an Ludl immer an einer Überfülle des Stoffes kranken, weiß sie nie so recht, was sie Otto schreiben könne, wenn sie ihm eine Antwort schuldet. So nimmt sie auch heute nur eine Briefkarte und frägt nach den nötigsten berichtenden und erkundigenden Sätzen ganz kurz und bündig:

»Was und wo muß ein Mädchen anfangen, um sich dem Studium der Architektur, überhaupt des Baufachs widmen zu können? Wie ist denn bei Euch durchschnittlich der Lehrgang? Ich wäre Dir für eine baldige Auskunft, wenn Deine Zeit es wirklich erlaubt, im Interesse einer Freundin sehr dankbar!«

Sie denkt wirklich für Grete zunächst an München und meint, dort wehe eine freiere Luft, die eine ungehemmtere, individuelle Entwicklung erlaube, und man lebe ungenierter. Das Philistertum belästige dort außerdem weit weniger wie irgend wo sonst.

Nach kaum zwei Tagen trifft bereits Ottos Auskunft ein.

München, den ......

Liebe Schwester!

Du fragst in Deiner Karte etwas viel und etwas naiv allgemein. Was will das betreffende Weib werden? Welchem Zweig will sich dasselbe zuwenden? Das Baufach ist heutzutage sozusagen eine Zusammensetzung verschiedenartiger, mit Kunst vermischter Wissenschaften, die zu beherrschen eine Art Universalgenie nötig wäre. Nun denke ich mir, daß das fragliche Frauenzimmer Architektin werden will. Es finden sich in außerdeutschen Ländern häufig Damen, die wie zum Beispiel in unseren Bank-Instituten als Schreiberinnen, von Architekten nicht nur dazu verwendet werden, die Massenberechnungen und Anschläge nachzuklauen, teilweise wohl auch selbst aufzustellen, sondern nicht minder den Pausanias ersetzen müssen, außerdem Steinzeichnungen fertigen, später Details selbst darstellen, endlich nach Skizzen Entwürfe bearbeiten. Der Wert derartiger Weiber liegt darin, daß sie geringere Bedürfnisse haben und mit weniger Lohn zufrieden sind, als der mehr oder weniger dem Suff ergebene, außerdem stets liebebedürftige Techniker, der heutzutage noch dazu gewöhnlich etwas sozialistisch angeraucht ist. Dagegen ist, wie ich höre, die Verwendbarkeit derartiger Engel eine beschränkte, weil es unmöglich ist, solche unter dem ordinären Arbeiterpöbel jene praktischen Kenntnisse erwerben zu lassen, welche mit den Wert eines Hilfsarbeiters bestimmen. Der gewöhnliche Techniker wird, nachdem er es zum Zimmermann, Maurer oder Steinhauer gebracht hat, in drei halbjährigen Kursen auf der Baugewerkschule ausgebildet. Solche Schulen sind in ganz Deutschland zu finden. Jedenfalls und Gott sei Dank hat in Bayern noch niemals ein Weib eine derartige Anstalt frequentiert. Wenn ein Mädchen gründlich das Rechnen erlernt, sich etwas Geographie und Algebra, womöglich auch Kenntnisse in der darstellenden Geometrie erworben hat, so ist die Schule nicht unbedingt notwendig. Ich habe selbst einen Burschen, dessen ich mich aus Mitleid annahm, herangezogen, welcher lediglich auf der Realschule gewesen war. Unter gütiger Anleitung hat er auf meinem Bureau soviel gelernt, daß er den Baugewerkschülern vollkommen ebenbürtig war und jetzt sogar verehelicht sein Fortkommen findet. Was ich für Dank geerntet habe, davon laß mich schweigen. Menschenverachtung lernt man im Älterwerden von selbst.

Grundbedingung ist ein gewisser Geschmack in der Darstellung. Auch ohne künstlerische Begabung kann man sehr viel lernen. Ist noch dazu eine Hand da, welche mit Geschick den Stift und die Feder zu führen weiß, so daß freihandliche Darstellungen möglich werden, so steigt die Verwendbarkeit in hohem Maß. Ich möchte sonach der jedenfalls gehörig überspannten Dame raten, zu versuchen, sich bei einem viel beschäftigten Architekten verwenden zu lassen und zwar vor allem in der Plan-Fabrikation. Ist das Mädchen jung und niedlich, so wird sich das sehr leicht erreichen lassen. Ganz ungefährlich ist selbstverständlich die Sache nicht, denn im Hintergrund brüllt natürlich stets der im Arbeitskäfig eingeschlossene, sogenannte männliche Homo sapiens sein Liebeslied. Handelt es sich aber um eine alte Schraube, welche häßlich und womöglich noch bissig ist, kommt sie begreiflicherweise weit schwerer unter, aber die Sache hat eher Bestand, und gerade solche Kinder, denen mit dem Busen auch der süße Trieb vertrocknet ist, können äußerst geschätzte Arbeitskräfte werden. Wie viele Trunkenbolde würde ein Baumeister so gerne durch nüchterne Jungfern ersetzen.

Nehmen wir an, daß Dein Spezialweib ganz große Rosinen im Kopf hat und etwa so eine Art Beamtin werden möchte. Der Irrweg Gymnasium-Hochschule hat für sie keinen Wert. Auch da soll sie ruhig in einem Bureau anfangen, fleißig und strebsam sein, viel Architektur zeichnen, um dann, wenn etwa nach zwei bis drei Jahren trotz allen anderweitigen Anstrengungen, die sie jedenfalls doch nicht unterläßt, keiner ernstlich angebissen hat, plötzlich im Vorzimmer irgend eines illustren Hochschularchitekten zu bildflächen. Wenn das Lächeln nicht zu fabrikmäßig, die Zähne nicht zu schlecht plombiert, die Löckchen schön gebrannt und arrangiert sind, wird der Große kaum lange widerstehen. Ein weiblicher junger Architekt wäre doch zu interessant! In weitesten Kreisen wird natürlich von der Schülerin gesprochen, – kurz, – er nimmt sie. Je nach ihren geistigen und körperlichen Eigenschaften wird er selbst sich mit ihr befassen, oder sie dem Assistenten überantworten. Ist sie halbwegs brauchbar, wird sie ausgebildet, verwendet, empfohlen etc. werden. Ob das Weib nun Grundpläne aufträgt, Details zeichnet, Fassaden und Perspektiven anmalt, oder unter die Möbel-Architekten, die Tapetenmenschen oder Dekorationsmaler geht, das wird immer von persönlichen Eigenschaften und Neigungen abhängen. Wenn sie in irgend einer Richtung irgend etwas Gründliches gelernt hat und bescheiden in ihren Ansprüchen ist, wird sie ihr Fortkommen finden. Das heißt, – im Ausland! Bei uns wohl niemals, – hoffentlich! Wenn sie aber überhaupt ein Bauweib wird, so ist immer der Besitz eines gründlichen Geldsäckels gut oder wenigstens einer besseren Erbtante, welche dann im rechten Moment, wenn der Sklavin die Bureau-Arbeit zuwider wird, das Zeitliche segnet.

Ich glaube damit Deine kuriose Freundin nach Kräften erledigt zu haben; hoffentlich hast Du nicht mehr solche.

In treuer Liebe Dein Bruder

Otto.«

Mit grimmigem Lachen reicht Gertrud das Schreiben, das schon gestern gekommen, das sie aber wegen eines Besuches nicht mehr hatte lesen können, ihrem Mann über den Frühstückstisch herüber. Nun ärgert sie sich über sich selbst, daß sie Otto überhaupt gefragt und Überresten bissig-bitter-humoristische Antwort. So viel unverhohlene Geringschätzung der Frau im allgemeinen spricht daraus. Allein sie kann sich unmöglich verhehlen, daß auch manche ernste Wahrheit darinnen enthalten ist. Halliger liest den langen Brief unter Kopf-Nicken und -Schütteln und wiederholten Heiterkeitsausbrüchen. Zum Schluß lacht er laut und herzlich.

»Einfach famos! Von seinem Standpunkt aus jedenfalls! Das Schlimme ist nur, daß Otto in der Hauptsache recht haben mag. Ich glaube aber, Grete, – vorausgesetzt, daß sie ihre alte Frische wiedererlangt, – ist gerade die richtige Persönlichkeit, einen Ausnahmefall zu schaffen. Nur dein München schlage dir aus dem Kopf für sie. Ich fürchte, daß es nur eine Art und Weise gibt, ihr das Studium zu ermöglichen, und die ist im Ausland, wie Otto sehr richtig betont. Wir im lieben Deutschland sind ja noch lange nicht weit genug.«

»Aber so schlimm, wie Otto es macht, kann es ja doch auch nicht sein. Ich glaube, Roland, es spricht Neid mit. Neid, schon im voraus. In lauter Angst, die weibliche Konkurrentin könnte es den Herren der Schöpfung gleich tun oder sie gar überflügeln. Für mein Empfinden liegt soviel Grausamkeit darin, daß man die Frauen verhindern will, wenigstens zu versuchen, in gleicher Weise wie der Mann zu arbeiten und sich ihr Leben zu gestalten. Sie werden ja ebensowenig zuvor gefragt, ob sie das oft recht zweifelhafte Vergnügen genießen wollen, überhaupt die Welt zu bevölkern. Auch sind sie ohnehin im großen ganzen von der Natur vernachlässigt worden, denn nicht allen ist zu der größeren Schwäche und Zartheit die Schönheit beigegeben worden. Die anderen aber stehen dann meistens dem so ersehnten Endziel der Ehe ferne. Was soll aus ihnen werden? Die üblichen Berufszweige, in denen man gewohnt ist, Frauen arbeiten zu sehen, sind überlastet. Neulich sagte unser guter, alter Pastor: ›Die Frau ist zum Lieben, Beglücken, zum Leben-Ausschmücken und – zum Leiden geboren, nicht aber zum Kampf!‹ Ich hatte eben einen Zeitungsartikel über die beginnende, reformierende Frauenbewegung vorgelesen. Wenn auch die Leiden gewiß jeder gehörig zugemessen sein werden, – wie viele werden niemals lieben, nie wirklich beglücken, und niemals irgend eines Menschen Leben ausschmücken können und dürfen; und sicher tragen sie doch alle diese Sehnsucht heiß und verzehrend in ihrer Brust – könnte nur die Arbeit allein, und nur eine solche, die ihren Talenten und Neigungen entspräche, sie halbwegs versöhnen mit der Härte des Geschickes. Die meisten werden wahrscheinlich arbeiten müssen, wenn sie nicht verhungern wollen, und diesen tapferen Kämpferinnen tritt die Mehrzahl der Menschheit, nicht nur der Männer, mit Grausamkeit und engherziger Abwehr entgegen. Wie oft habe ich in all den Jahren schon darüber nachgedacht, wenngleich ich außerhalb stehe und noch dazu ein Landkonfekt bin.«

Zärtlich streichelt ihr der Professor die Hand: »Weiß Gott, du hattest deine neuen modernen Zeitschriften nicht zum Erwecken nötig. Du warst von je die geborene Frauenrechtlerin. Woher mag das nur in dir stecken?«

Er lacht lustig dazu. Aber Freude und Stolz strahlen dabei aus seinen Augen, denn er liebt es, wenn seine Frau in ihrer Lebhaftigkeit eine wohlbegründete, einmal gefaßte Meinung so energisch und tapfer verteidigt. Und er denkt innerlich auch, daß sie vermutlich mehr grüble und überlege wie die meisten Frauen. Dann meint er:

»Es ist nicht einmal richtig, daß es immer der unruhigen, ewig wechselnden Bilder des Großstadtlebens bedarf, um Anregungen zu geben. Die können denjenigen, die sie benötigen, heutzutage auch Zeitungen und Journale bringen, die sich wie erquickendes, erfrischendes Wassergeriesel über das ganze Land in Tausenden von Armen und Ärmchen erstrecken. Im lauten Leben der Großstadt verschlingt der folgende Tag den heutigen, frißt ein Eindruck den anderen auf. Man hat nicht so gut Zeit und Muße, einen solchen zu verarbeiten und auszudenken. In der Ruhe des Landlebens aber treiben die angesetzten Blüten weit eher Früchte, und die angeregten, aufsteigenden Gedanken bekommen Körper und Seele. Sei nur ruhig. Du wirst schon niemals ein Landkonfekt!«

»Und wenn! Weißt du, Roland, ich möchte mit dir in keine Stadt mehr; auch nicht in mein altes München. Ich meine, da müßte etwas kommen, das unsere Innigkeit und unser ausschließliches Zusammen- und Füreinander-Leben stören müßte!«

Er wendet sich ab und macht sich wie zufällig an einem Stoß Papier zu schaffen.

»Warum glaubst du das? – Aber ich bin ja nur glücklich, wenn es dir behagt, so zu leben. Du mußt mir bloß versprechen, in kleineren Zwischenpausen nach Berlin zu fahren. Du verstehst dich ja so gut mit Bruder Max, dessen Frau und Kindern, und du mußt auch unbedingt jedes Jahr mehrere Wochen die Deinen in München aufsuchen. Das erfrischt dich und gibt dir wieder Kraft zu deinem schweren Amt, mich alten kranken Mann zu pflegen. Also mußt du es schon mir zuliebe tun. Der Gedanke, daß deine ganze blühende Jugend, dein frisches Leben ungenutzt und ungenossen hier in der Einsamkeit und lediglich in Pflichterfüllung verfließen und vergehen sollen, ist mir unerträglich. Etwas mußt du dem Schicksal auch für dich selbst abzutrotzen suchen.«

Die junge Frau steht unruhig auf. Sie meint, die Stimme ihres Mannes habe leicht gebebt. Über die Schulter wirft sie dann munter scheinend hin: »Du sprichst gerade, als lebte ich auf einer wüsten Insel, hätte kinderlos einen abscheulichen, todkranken und stumpfen Mann und führte ein qualvolles Dasein. Ich aber bin dankbar genug einzusehen, daß ich in Wahrheit vom Schicksal begünstigt bin wie wenige. Was gibst du mir nicht alles?! Und habe ich nicht zwei blühende, begabte und wohlentwickelte Kinder, und lebe ich nicht friedlich in schöner Natur, die ich so liebe? Dabei habe ich die Möglichkeit reisen und jederzeit Besuch empfangen zu können! Ich meine doch, reichlich genug ist unser Haus stets damit gefüllt.«

»Ja, das geht wohl. – Aber was deine Reisen betrifft, so bin ich keineswegs damit zufrieden. Bist du auch einmal weg, so kommst du doch immer gleich wieder, von innerer Unruhe getrieben, die du dann leugnest. Stets hast du irgend welche Ausreden. Du übertreibst wirklich deine Hingabe und Fürsorge für die Kinder und mich. Ich befinde mich durchaus wohl, wenn auch meine Beine lahm sind. Meiner Meinung nach, – und Professor Caldäus teilt sie, – bleibt mein Leiden vorerst stationär, vielleicht Jahre und Jahre lang. Ich bedarf wirklich nicht unausgesetzt deiner rastlosen Fürsorge und selbstentäußernden Hingabe.«

Die junge Frau hat sich neben das Wägelchen gekniet, das der Leidende selbst fortbewegen kann. Ihre Stirn ruht auf der blassen Männerhand. So wie damals im Dom zur lieben Frau in München stehen die Härchen licht und kraus wieder rund um ihren schmalen Kopf. Es flimmert ihr vor den geschlossenen Augen, als blickte sie zur Mittagszeit auf sommerliches, sonnebeschienenes Heideland. »Mein, mein Heiliger!«

Die Kinder stürmen die Treppe herauf und brechen die weiche Stimmung, die sich breit machen will. Sie bringen die Post. Lise trägt sorgsam eine Anzahl Briefe, To zerknüllt ein Paket Zeitungen und Journale zwischen seinen schneenassen und zweifelhaft-sauberen Händen. Das kluge Mädchen kann schon klare, deutliche Schriften lesen. Scharf prüft es jede Adresse und verteilt dann die Briefe. »Da, für den Vater, – gewiß von Onkel Detlev. Und da vom Buchhändler, und eine Karte von einem Verein, und hier für Mutter! Oh, ich sehe schon, – die Karte ist von Tante Grete aus Berlin.«

Gertrud überfliegt die wenigen Zeilen, während die Kinder im Zimmer bleiben. To unterzieht den Papierkorb des Vaters einer genauen Prüfung nach festen Briefumschlägen, die er zu irgend einem Unternehmen braucht, und Lise, an den Nägeln kauend, steht zwischen den Fenstervorhängen und späht zu den Eltern hin. Sie ist entsetzlich neugierig, und es gibt nichts, das sie nicht wissen will.

»Was schreibt Grete denn?« frägt der Professor, der erst die Nachricht vom Buchhändler und dem Verein liest und dann die Zeitung entfaltet, bevor er zum Schluß in größerer Ruhe des Vetters Schreiben zu genießen beschließt.

»Nur einige Worte; sie sei bereits ganz gut in den gemütlichen Haushalt der Damen eingewöhnt und fühle jetzt schon, daß ihr der Aufenthalt und das Herausgerissensein gut tun werde. Frau Doktor Weber sei eine kluge und liebe, alte Dame und Mina ein prächtiger, ganzer Mensch. Es sei wohl selbstverständlich, daß sie nach erfolgreichem Lehrerinnenexamen, – sie ist ja zwei Jahre älter als Grete, – sich jetzt bereits auf ein weiteres vorbereite. Sie äußere sich zwar nicht darüber, studiere aber rastlos, und Grete meint, sie arbeite sich totsicher für das Doktorexamen ein. Das müßte sie dann allerdings im Ausland machen. Und viele, viele Grüße sendet Grete fürs ganze Haus. – Aber nun kommt, Kinder, und zieht rasch eure Überschuhe an. Eben scheint die Sonne so schön und warm, da wollen wir doch ein wenig durch den Garten gehen; dann hat auch Vater noch etwas Ruhe vor dem Essen. –«

Nach Tisch bettet Gertrud ihren Mann, der ihr Detlevs Schreiben noch reichte, zum Schlaf, den Brief liest sie dann mit wechselnden Gefühlen. Wäre es doch für ihre innere Ruhe so viel besser gewesen, wenn Detlev ferne und stumm zugleich hätte bleiben können. Lebend, – und doch für sie ein Toter! Aber dennoch ergreift sie immer eine namenlos glückliche Empfindung, wenn wieder nach längerer Pause ein Brief von ihm kommt. Berichtet auch ein jeder fast ausschließlich von der Reise, mit vielem rein Wissenschaftlichem untermischt, das Halliger besonders erfreut und interessiert, ihr aber manchmal fast unverständlich bleiben muß, so meint sie doch aus jedem Wort herausfühlen zu müssen, daß auch Detlevs Empfinden dem ihrigen ähnlich ist. Und doch muß dieser, der so innig mit Roland befreundet ist und außerdem, wie es scheint, in dessen Fußstapfen als Forscher treten will, von Zeit zu Zeit schreiben. Gertrud ist innerlich tief, tief davon überzeugt, daß er so nachhaltig wie sie selbst unter dieser Liebe zu leiden habe. Als hätte er nun nochmals Abschied, und diesmal ernstlich und für immer, vom Vaterland genommen, so berührt sie die Hauptnachricht seines heutigen Berichtes. Er meldet, daß Dombrowsky einem Vetter der verarmten Linie Dromshoff pachtweise auf Jahre überlassen hätte. Von den recht unbemittelten Verwandten hatte er öfters gesprochen. Auch davon, daß einer der Vettern eine hervorragende Begabung für die Landwirtschaft besäße. So versorgt er sein Gut, indem er es in treffliche Hände gibt, macht sich dadurch frei und erweist zugleich einem armen Teufel eine Wohltat. Ihr aber will es scheinen, als mache er damit einen dicken, ganz besonderen Strich unter sein bisheriges Leben.

In der halben Dämmerung, die durch die zugezogenen Gardinen in ihrem Zimmer herrscht, liegt die junge Frau auf ihrer Chaiselongue. Die Kinder werden, wie stets um diese Stunde, vom Fräulein möglichst abseits gehalten, damit der Professor ungestörten Schlummer genießen könne. Draußen herrscht eine harte, plötzliche Helligkeit und dazu hat sich ein heftiger Sturm erhoben. Er rast über das gelbe, fahle Gras und über die Häupter der Bäume hinweg, und es ist, als wolle er dem ganzen Gelände, das sich unter ihm ächzend zu krümmen scheint, das alte Gewand abreißen, es hinwegführen und über die weite Heide wirbeln. Die Wolken jagt er zu Bündeln zusammen und spielt mit ihnen, wie etwa ein Kind mit seinem Gummiball. Dazwischen aber schießen Ströme von Sonne über die mit Wasser vollgesogene Erde, die mit zag klopfendem Herzen wartet auf den Frühling.

»Frühling!« flüstert Gertrud, und ihre Fingerspitzen gleiten zärtlich über zwei kümmerliche Schneeglöckchen in einer winzig kleinen Vase. Die Kinder hatten mit Wichtigtun und Entdeckerstolz ihr diese allerersten Lenzesboten aus dem Garten gebracht. Frühling! Seine Stürme sollen vollends wegfegen, was vom flammenden, farbenprächtigen Herbst noch übrig ist. Die Tauwasser sollen sich auch darüber stürzen und es fortschwemmen, und damit auch diese törichte, sündhafte Sehnsucht, die im allerverborgensten und dunkelsten Winkel ihres Herzens sitzt. Die Lenzessonne muß kommen und diesen Winkel aufsuchen und erhellen!

Gertrud will sich nie mehr vergegenwärtigen, wie es damals gewesen, keinen Blick, – keinen Kuß. Da würde alles zur Sünde!' Sünde auch an der Schönheit und der Poesie wäre, sich zu wiederholen, was vorüber ist. Was geworden war ohne Wissen und Wollen! Gewesen! Was war, ist hin, es schimmerte, und – schwand!!


 << zurück weiter >>