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Fünfzehntes Kapitel.

»Du wirst mir meine Bitte nicht abschlagen, Detlev, nicht? Wenn ich dich doch so nötig habe!«

Sie sitzen wieder beisammen wie so oft, als die Frau des Hauses noch fort gewesen und sie beide an den Abenden auf sich allein angewiesen waren. Es ist kühl im Zimmer. Draußen regnet es seit Tagen, nachdem ein Gewitter die Schleusen geöffnet hatte.

»Ich wäre aber auf Dromshoff noch weit mehr von Nöten. Vielleicht doch mehr wie hier,« wirft Dombrowsky ein.

Für den Professor klingt schon eine kleine Unentschlossenheit durch. Immer eindringlicher redet er dem Vetter zu. Dessen gesunde Gesichtsfarbe wird von Schattierung zu Schattierung blässer, und seine Züge bekommen etwas Gequältes. Die für einen Julitag früh einfallende Dämmerung hindert, daß Halliger es bemerkt.

»Sieh, Vetter, – laß doch deinen armen, schönen Schnurrbart ungekaut, – sieh, jetzt brauchen wir dich wirklich. Ich habe dir nun mitgeteilt, wie es um mich steht, und habe dir nichts verhehlt, so wenig wie meiner Frau. Du bist uns doch wahrhaftig als Freund und nicht nur verwandtschaftlich verbunden. Opfer fordere ich ja keines von dir. Ich weiß auch gut, was dich von hier treibt.«

In unwillkürlicher, rascher Wendung dreht sich der scharf geschnittene, brünette Kopf des Barons ihm zu. Unruhig sehen die dunklen, nahe beieinanderstehenden Augen Halliger ins Gesicht. Aber dieser muß heute alles aussprechen, was ihm auf dem Herzen liegt.

»Ja, Detlev, ich weiß es. Ich weiß, daß es nur dein Zartgefühl ist, das dich wegtreibt. Du denkst, meine Frau und ich hätten nun genug mit uns selber, mit uns allein zu tun. Wir müßten stets Zeit zur Aussprache haben, und immer eines fürs andere ausschließlich da sein. Du meinst, da störe ein Dritter. Aber du irrst dich. Du kennst eben mich und Gertrud noch nicht genügend. Wir beide wissen, daß wir Schwerem entgegengehen. Wie Schwerem läßt sich noch nicht übersehen, denn solche Leiden verlaufen verschieden. Ich müßte nicht so teil haben an jeder Fiber meiner Frau, meines treuen Kameraden, um nicht zu wissen, daß sie nun innerlich mit dem Schicksal, das mich und damit auch sie betroffen, schwer ringt. Wie sonst ist sie gewissenhaft Hausfrau und Mutter, wie früher sucht sie ihre lustigen Einfälle und ihr Lachen zu bewahren und zu äußern, aber ich weiß genau, wie hart es ihr ankommt, und daß sie vorerst noch eine fromme Komödie spielt. Das tut sie für mich und für die Kinder. Was wäre uns gerade jetzt dein frisches Wesen, dein Humor, den du übrigens seit einiger Zeit ganz in der Tasche behältst, deine uns überhaupt so sympathische Persönlichkeit wert! Ja, wärst du uns weniger lieb und angenehm, – aber, wie gesagt, direkt wohltätig wirkst du auf uns, – jawohl, segensvoll, – und nun willst du weg. Weg, aus falschem und verranntem Zartgefühl!«

Endlich brennt die Uppmann gleichmäßig, die sich Detlev von Dombrowsky so umständlich anzuzünden bemüht war. Er hatte sich in den Schatten stellend Halliger ruhig ausreden lassen. Stumm geht er nun mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. Von oben hört man Kreischen und Lachen, Getrippel und schwere Tritte. Die Decke des Zimmers zittert unter der Jagd, die im Hausgang des ersten Stockes die Kinder mit Kathl veranstalten. Eintönig fällt draußen in dichten, großen Tropfen der Landregen. Schwer und niedergedrückt hängt das Geranke des wilden Weines, zwischen dem eine Unmenge kleiner Schnecken kriechen, an der nassen Mauer und an den triefenden Scheiben nieder.

Eine verhaltene Bangigkeit, etwas, sonst dem Wesen Halligers ganz Fremdes, hatte durch seine Worte geklungen. Fast wie wirkliche Furcht, Detlev könnte nein sagen. Jetzt kommt noch ein bittendes: »wenigstens noch bis Ende August, Vetter!« hinterher. Dombrowsky tritt zu ihm und sieht innerlich tief bewegt auf den blassen Mann im Lehnstuhl.

»Ja, Roland, wenn du es, – wenn ihr es so auffaßt, – also dann, –«

»Bleibst du?!«

»Ja!«

»Gott sei Dank!«

Detlev aber kann nur immerzu denken: ›Wäre ich nur schon fort, – schon fort, – in Dromshoff, – am Ende der Welt, – hätte ich doch nicht zugesagt.‹

Aber er hatte zugesagt, – so bleibt er.

Wie der Professor es seiner Frau mitteilt, meint diese nur: »Wenn es dir lieb ist, Roland, – ich meine, es kommt ganz allein darauf an.«

»Nicht doch, – Traudl! –Ist dir Detlev nicht auch von Grund aus sympathisch?«

»Sehr!« meint sie ehrlich und einfach.

Harmonisch und schön vergehen diese Sommertage. Wie verzaubert liegt Seedland. So still, so traumhaft weltfern! Kein Gast kommt, wie sonst wohl, für diese Wochen. Nur mehr Briefe als früher fliegen herein und hinaus. Nicht lange mehr, und die Ernte beginnt hier wie in Dromshoff. Dazu will Detlev jedenfalls wieder daheim sein. Zwar hat er einen Verwalter, der seinesgleichen sucht, und treffliche Leute, aber er will sich diesen Zeitpunkt nicht rauben lassen, um gehen zu können. Ist ihm doch, als wüchsen um ihn Polypenarme, die sich immer mehr festsaugen wollten.

Detlev kennt sich selbst nicht wieder. So hat er nie im Leben das Glück genossen, mit wirklichen Menschen zusammen sein zu dürfen. Wirkliche, große Menschen! Er staunt das Paar an und hört in all dieser langen Zeit nicht auf, es zu tun. Hand in Hand schreitet es die Lebensbahn dahin. Hand in Hand! Und dennoch, – dennoch – vor seinen Augen wird Roland Halliger älter und älter, kränker und kränker. Gertrud aber ist jung und blühend. Das ist kein Ehepaar. Genossen, – ja! Vater und Tochter oder Freund und Freundin, – ein Ideal-Verhältnis, wie es sich fast nie im Wust des Lebens gestalten kann. Nur fern der Welt vielleicht, in märchenhafter Einsamkeit!

Stündlich meint Dombrowsky von ihnen zu lernen. So vieles fällt wie Schlacke von ihm ab, anderes dagegen, Kostbareres, kristallisiert sich ihm an. Halliger gibt denen, die ihn verstehen, viel, in seiner ernst-liebevollen Weise, ohne je lehrhaft zu sein. Es ist, als hätte die Tiefe seines Empfindens, der hohe Standpunkt, auf dem er sich befindet, ihm auch die Kraft gegeben, so mutig in diese trostlose Zukunft zu schauen. Sehr langsam, für andere kaum sichtbar, schreitet seine Krankheit vor. Er leidet nicht sehr darunter. Nur die Beweglichkeit seiner Beine nimmt ab. Gertrud scheint nichts zu bemerken, gewahrt aber jede noch so geringfügige Veränderung. Die Sorge um ihren Heiligen, wie sie ihn nennt, und obgleich er so wenig bedarf, auch seine Pflege nimmt sie so hin, daß außer ihrem Muttergefühl jegliches andere Empfinden vollkommen in den Hintergrund gedrängt wird. Jenes Seltsame, das sie empfunden, das jähe Angstgefühl auch, als der Baron ihren Weg zuerst gekreuzt, scheint gewichen. So vieles hat er ihr über sein Leben erzählt. Sie meint, ganz klar über seinen Charakter zu sein. Nüchtern klar! Nichts Geheimnisvolles, heimlich Interessantes, hängt diesem Mannesleben an, das verlief, wie tausend andere auch. Gewiß, er ist vielseitig begnadet aber unbeackert, meint lächelnd Halliger, dem es große Freude macht, des Vetters Sinn und Freude an der Geographie zu stärken. »Ich glaube,« setzt er hinzu, »er wäre bei seinen Anlagen, Talenten und Fähigkeiten noch weit größer und anders geworden, wenn er zum Beispiel nicht so früh verwaist wäre, und wenn er nicht im Kadettenhaus und unter oberflächlichen Verwandten seine Jugendjahre hätte verbringen müssen. Es macht mir nun mächtigen Spaß, ihn, der mir manchmal mit seiner lebfrischen, ungebrochenen Art ein ganz junger Bursche zu sein dünkt, auf etwas zu stoßen, was dann sein brennendes Interesse gleich erregt. Er erfaßt ja jegliches! Und Dombrowsky, dessen Mutter bei seiner Geburt, und dessen Vater starb, als er kaum zehn Jahre zählte, hat nie ein rechtes Familienleben kennen gelernt. Dessen Reiz tut es ihm hier auch an.«

Gertrud hört ihm mit gesenktem Kopf zu. Sie denkt: ob es ihm wirklich so wohl tut? Er unterstützt sie getreulich bei ihrem Werk, dem Armen die schwere Last tragen zu helfen. Anders gestaltet sich in ihr nichts mehr. Auch nach Wochen nicht. Vom Morgengrauen bis zum Abendrot: Roland! Zwischen ihr und ihrem Gatten ist keine Wand erstanden, nein, es ist eine gefallen! Tausend Arme statt ihrer zwei möchte sie nun haben, ihren Heiligen zu umfangen, zu hegen und zu umsorgen. Viel enger fühlt sie sich ihm sogar noch verbunden und doch fühlt sie sich freier zugleich. Etwas, ein Letztes, das zwischen ihnen gestanden, scheint gestürzt zu sein. Wenn sie das schmerzliche Lächeln sieht, mit dem Roland, sich selbst vergessend, ihre Schritte, ihre Bewegungen verfolgt, vermeint sie, gleich zu ihm eilen, ihm sagen und beschreiben zu müssen, wie lieb sie ihn habe. Eines Abends, da sie ihm geholfen, sich zu entkleiden, ihm das eine heute so lahme Bein eingerieben und massiert hat und er darauf still und reglos zu Bette liegt, fühlt sie wieder seinen wehmütigen Blick. Sie lacht ihm aufatmend zu, froh und wohlgemut. Im kurzen weißen Rock und ausgeschnittenen Leibchen steht sie vor dem Spiegel und ordnet mit hochgehobenen Armen ihr Haar für die Nacht. ›Wie ein Schulmädchen sieht sie aus‹, denkt er. ›An der Schwelle des Lebens, an der Schwelle, – und ich, – und ich?‹ Ein Stöhnen, schwach, Verhalten dringt in die Erkerecke, vor der der Spiegel steht. Der Kamm fällt klirrend auf die Nickelplatte des Toilettentisches. Mit einem Satz ist Gertrud am Lager ihres Mannes.

»Da, – da ist dein Traudl, – du leidest, – sag' es mir, – sag' es mir, – sehr? sehr?«

Er schüttelt den Kopf.

»Nein, nein, – gar nicht, – es war nichts.«

Sie versteht ihn schon.

»Roly – es wird wieder anders, – bester! Glaube doch daran! Du wirst wieder der Alte, Starke, dann ist es wieder wie früher! Ärgert dich nun deine mutwillige Frau?«

»Du meine Freude, mein Stolz, aber auch mein Leid! Es wird sonderbar mit uns Menschen umgesprungen. Vielleicht tut das die Natur, oft so grausam und dann wieder so mitleidvoll, ganz zielbewußt. Du bist so viel jünger als ich, – und du hast nun einen alten, kranken Mann.«

»Nein, – nicht alt, nicht krank! Für mich bist du jung und gesund wie nur je. Was von dir ausging und mich zu dir zog als Siebzehnjährige, das wirkt alles heute noch ebenso, und du wirst mein Inneres immer gleichermaßen besitzen. Und so auch meine tiefe Liebe. Tropfenweise gäbe ich mein Herzblut für dich!«

In der milden Sommernacht sieht die blanke Mondscheibe auf das breite Bett herab. Wachend liegt Robert Halliger, und sein rechter Arm hält den Leib Gertruds umschlungen. Ihr Kopf ruht an seiner Schulter. Ruhig und tief atmet sie, als schliefe sie ihren ungestörten Kinderschlaf.

Gertruds natürliche Fähigkeit mit Männern zu empfinden, sich in deren Art und Wesen ganz instinktiv hineinzuversenken, läßt sie sogar jetzt eine Kameradschaftsbrücke bauen von sich zu Detlev von Dombrowsky. In späteren, den ersten Tagen und Wochen folgenden, ruhigen Stunden, macht sie sich ehrlich klar, daß ihres Mannes Vetter Ähnliches bei der Begegnung mit ihr empfunden habe, was sie gefühlt bei seinem Anblick. So recht weiß sie sich aber doch nicht herauszufinden. In naivster Bescheidenheit kann sie nicht begreifen, wieso er, der schöne Dombrowsky, der verwöhnte, an ihr Besonderes hätte finden sollen. In Berlin mußte er doch zu Dutzenden die herrlichsten und geistvollsten Frauen gefunden haben. So glaubt sie, daß der Eindruck, den er von ihr empfangen, längst verwischt sei. Auch müsse ja Rolands Erkrankung, die Tragik, die damit verbunden ist, ernüchternd auf den Baron wirken. Daß sie kein Spielzeug sinnlicher Laune, eitler Männerbegehrlichkeit ist, würde er ja wohl bald gemerkt haben. Aber nein, – dergleichen hatte er bestimmt niemals gedacht und vorausgesetzt. Er fühlt ja auch eine geradezu fanatische Verehrung für ihren Mann und liebt ihn so brüderlich wie dieser ihn. Dessen Tiefe bringt jetzt seine eigene, die so allerlei Tand und Kram lose bedeckte, ans Licht. Seedlands Luft wirkt sichtbar heilbringend auf den Vetter, der doch im Grund nur ein einsamer Mann ist. In dieser Überzeugung, in aller Ehrlichkeit bietet sie ihm täglich aufs neue die Freundeshand und kämpft dabei doch so vergeblich gegen eine Macht, von deren Stärke und Kraft sie keine Ahnung hat. Sind die beiden allein, sprechen sie fast nur von Roland, dessen Zustand, und was sie wohl tun könnten, ihn zu erfreuen. Daß etwas Krampfhaftes darin liegt, fühlen sie nicht, oder wollen sie nicht fühlen.

»Vor allem, niemals den Kopf hängen lassen, Detlev!« meint sie.

»Gewiß, nie! Wie Sie das fertig bringen, diese harmonische Stimmung aufrecht zu erhalten, ist erstaunlich.«

»Warum wundert Sie das so sehr?«

Dann versinken sie wieder in jenes Schweigen, das so bedeutsam für beide ist, sie weit ab voneinander zu bringen scheint und sie in Wirklichkeit nur enger verbindet.

Seit jener nächtlichen Aussprache dünkt Gertrud alles viel leichter. Sie kann ihrem Heiligen nun ganz das sein, was sie ihm stets am liebsten gewesen. So stark und machtvoll fühlt sie sich.

Die Dienstboten wissen, wie sie sich zu verhalten haben, und die Kinder brauchen keine Ahnung zu haben, daß der Vater ernstlich krank ist. Es ist ein Glück, daß Halliger die Anwesenheit der Kleinen, besonders Tos lebhafte Art, selten an seinen Nerven verspürt. Er kann Geräusche und Lärm gut ertragen. –

Wie Roland es gewünscht, haben sich Gertrud und Detlev zu einem Spaziergang gerüstet. Dann gehen sie, zuerst stumm, in gleichmäßigem, festem Schritt die Straße dahin. Seltsam, welch süßes Gefühl es ihm bereitet, wenn die junge Frau rhythmisch ihre Tritte in die seinen fügt. Dann fragt er: »Was treibt nun Roland?«

»Grete liest ihm vor. Apropos, – was sagen Sie zu dem prächtigen Geschöpf?«

»Daß das einmal eine rechte Frau wird! Darin liegt, was unsere Zukunft braucht. Ich fürchte nur, Grete, – übrigens fällt mir da ein, daß ich ein Vielliebchen an sie verlor, – wird gar nicht dazu kommen, ihr Mädchenleben als solches auszuleben und durchzukämpfen, wie ich es für sie wünschte.«

»Mein Gott! – Sie sehen aber auch alles, alles! Darin sind Sie wie eine Frau.«

»Na, das ist doch nicht schwer. Herr Willy Wedekamp gibt sich keine besondere Mühe, seine Gefühle zu verbergen. Und Grete! Plötzlich so eine Wetterfahne! Es ist doch wahrlich leicht genug, zu sehen, was da im Werden begriffen ist. Oder ist der Alte dagegen?«

»Ich weiß nichts. Die Sache spann sich an, während ich in München war. Herr Wedekamp kam erst in jenen Wochen, und ich hatte natürlich nicht Zeit und Interesse für Grete, als mich die Schreckensbotschaft traf.

Unwillkürlich greift Dombrowsky nach ihrer Hand, die er fest und stumm drückt. Er nimmt ablenkend wieder den heiteren Ton an:

»Nun wird wohl Grete Mannes' Leidenschaft für Architektur mehr verschwinden, und sich ausschließlich der Liebe und der Forstwissenschaft zuwenden.«

Gertrud lacht, bückt sich im Gehen nach einer besonders schönen Arnika-Blume und steckt sie in ihren Gürtel. Der weiße, weiche, schmucklose Piquéhut sitzt ihr tief im Nacken, denn die Sonne ist hinter dem Wald. Blasser und schmaler ist sie in diesen Wochen geworden. Er sieht es deutlich und sorgt sich.

»Frau Gertrud! Denken Sie auch an sich und an Ihre Gesundheit?«

»Wir sprechen doch eben von Grete,« antwortet sie fast trotzig.

»Nun aber reden wir von Ihnen. Ich will das!«

Sie sieht im Gehen zu ihm auf. Ihr weicher Mund ist kindlich geschürzt, in ihren Augen blinken Tränen. Ihrem ganzen Wesen ist der Stempel der Sorge aufgedrückt, und ihre Nerven haben wirklich gelitten.

»Gerade dieses unaufhörliche Zusammennehmen, das immerwährende Heitersein, das nicht echt ist und nicht echt sein kann, zehrt an Ihnen, genau wie es übermäßige Arbeit tun würde. Darf ich offen sprechen, Gertrud?«

Ein Trupp Arbeiter vom Torfstich kommt; noch andere folgen.

»Nicht jetzt, Detlev, – später! Wir gehen in den Achtergrund, dort will ich nach der Schutzhütte Rolys sehen, ob sie auch intakt geblieben ist all die Zeit. Wir ruhen da etwas aus, und Sie, – Sie können dann sprechen. Ich weiß zwar schon alles, was Sie mir sagen wollen.«

»Ich glaube nicht!«

Freundlich erwidern sie die Grüße der Arbeiter.

»'n Prachtsmann is er, der Seedlander. – n' scheenes Paar, die zweie!«

Beide verstehen gut, was ein alter Brummbaß sagt. Der Irrtum berührt sie unangenehm, ohne daß sie sich Rechenschaft gäben, warum. Gertrud sammelt feines, smaragdfarbenes Moos, in dessen Kissen zierliche Blüten wie winzige Purpurköpfchen stehen. Sie möchte ihre sprunghafte Unterhaltung etwas regeln.

»Was meinten Sie vorhin mit Gretes richtigem Ausschöpfen ihres Mädchenlebens?« lenkt sie ab.

»Ganz einfach: Ich denke mir, es ist schade, wenn sie nicht jahrelang zuerst wie ein gesunder Baum für sich in werdender Kraft in die Welt hineinwächst und ihre kräftigen Äste nach allen Seiten breitet. Wir werden ein ganz neues Weib bekommen mit der Zeit, Frau Gertrud. Verlassen Sie sich darauf! Ein denkendes, arbeitendes, ein – vielseitiges Weib. Ich glaube, das muß diese Bewegung, die sich nun allerorten zeigt, endlich zeitigen. Noch findet sie unter uns Männern freilich fast nur Mißverstehen und Übelwollen. Die Unmasse tastender oder tobender Rechtlerinnen, die uns im Übereifer das Fell über die Ohren ziehen wollen, verderben auch viel. Aber wir sind eben in einer Kampfes- und Übergangszeit, und daraus, aus allem Schlamm und Morast, ersteht später siegreich dieses neue Geschöpf.«

»Mir kommt, – finde ich Vernünftiges darüber in dem vielen geschriebenen Wust, – all das Gelärme und Getöse so unnötig und zwecklos vor. Neues Weib, ich verstehe nicht recht. Was die da zu bilden anstreben und was Sie eben schildern, Detlev, das hat es sicherlich schon immer gegeben. Ich unterschreibe gern jedes Wort; nur neu kommt es mir und meinem Empfinden nicht vor. Tausendmal hab' ich dergleichen gedacht und gefühlt, auch, wo ich konnte, danach gehandelt.«

» Sie! Ja, Sie! Aber das ist's ja doch, warum Sie eben anders sind und von jeher anders waren, und es ist zugleich auch der Grund, warum viele da draußen, in dem, was man Welt nennt, Sie anstarren wie ein Wunder. Sich selber unbewußt waren Sie von jeher das Weib, das noch kommen soll, in vielen Exemplaren kommen soll.«

»Und Sie meinen, daß Grete, –«

»Ihnen in vielem ähnelt. Aber schon sie ist ein Kind der anderen Zeit. Die paar Jahre, die zwischen Ihnen liegen, machen da bereits viel aus. Wenn Sie etwa Ihren Eltern, Ihren Geschwistern erklärt hätten, Sie wollten irgend etwas lernen und ergreifen, um eines Tages selbständig in der Welt stehen zu können –«

»Dann hätten sie mich in corpore für weit verrückter gehalten, als wenn ich zum Beispiel den Mil Töpfer, – einen sieben Millionen schweren Schwachsinnigen, – zu heiraten begehrt hätte.«

»Nun, sehen Sie, und doch: Nach allem, was mir Roland und Sie selbst von Ihrer Familie und über Ihre eigene Persönlichkeit erzählten, steht es für mich fest, daß Sie einfach ausgebrochen wären, hätte Ihnen das Schicksal nicht gerade Halliger in den Weg geführt. Sie hätten jenes Leben nimmermehr ertragen. Und damals hat doch gewiß noch nicht die geringste Frauenbewegung existiert, durch die Ihnen etwas ins Ohr gesetzt sein könnte.«

»Sie haben recht! Wirklich und wahrhaftig! Aber das alles aus Ihrem, eines gewesenen Soldaten und Reitersmannes Mund, klingt gar zu seltsam. Täglich staune ich mehr, was in Ihrem Kopf alles rumort.«

»Weiß Gott, ja, 's sieht bunt da drinnen aus. Aber bitte, stopp, – nicht so rennen. Sie schaden sich durch dieses Abhetzen. Ja, – warum ich so spreche? Ich habe,« – er setzte nicht hinzu: seit ich Sie kenne, – »darüber nachgedacht, warum keine Frau in meinem Schicksal noch eine ernste Rolle gespielt, und warum keine mir jemals wirklich gefallen hat. Im besten Fall besaß sie immer nur eine Eigenschaft, die ich schätze. Interessierte ich mich für ein weibliches Wesen, so blieb die Abkühlung nie lange aus. Ich glaube, ich bin ganz hervorragend anspruchsvoll. Ja, es hat sogar Zeiten gegeben, da ich förmlich zu finden suchte, und das hat mir dann den Ruf eines Schmetterlings eingetragen. Unsere Offiziersdamen, die Beamtenfrauen und Mädchen, oder auch die in Künstlerkreisen, – enfin – es war stets das gleiche. Ich bin dabei zu dem Resultat gekommen, daß eine seichte Oberflächlichkeit, eine betrübende Einseitigkeit mehr Platz gegriffen haben als je in vergangenen Tagen. Große Frauen hat unsere Zeit nicht mehr. Aber die Welt, die Erde regeneriert sich selbst. Aller Verfall birgt neue Keime, und daraus sproßt und grünt es dann wieder. Und so erwarte ich mir auch aus diesem Verfall das Neue, und siehe, es kommt!«

Verblüfft sieht sie nun auf mit ihrem lebhaften Blick, der einem Kind, dann wieder dem reifen Weib zu gehören scheint:

»Es kommt!« ist das – meint er Grete damit – er kennt sie ja kaum – oder will er, – aber in seinem Gesicht rührt sich nichts.

Dann bleibt er stehen und deutet, indem er ihren Arm faßt, stumm auf eine Rehgeiß, die mit ihrem Kitz ruhig äsend am Waldrand streift. Bald sind sie im Achtergrund. Eine kleine Rindenhütte, die Schutz für knapp zwei Menschen bietet, birgt in einem starken Eichenschränkchen einige Erfrischungen, in der Hauptsache aber allerlei Bücher und Gegenstände, die Halliger darin deponierte. Zwei hohe Buchen stehen dicht dabei. Unversehrt ist das Türschloß, auch der Inhalt des Kästchens. Detlev hat sich auf eines der kleinen Bänkchen gesetzt, die den Eingang von außen flankieren. Gertrud kommt mit einer Tokayer-Flasche und einigen Kakes heraus: »Es ist aber nur ein einziges Glas da!« – »Schrecklich!« Sie schenkt ein und bietet ihm den Trunk.

»Aber, Frau Gertrud! Doch höchstens nach Ihnen!«

Sie nippt erst, dann fühlt sie, wie gut es ihr tut und trinkt das ganze Gläschen leer. Ihre Wangen bekommen mehr Farbe, sie sieht nicht mehr so abgespannt aus. Wieder schenkt sie ein: »Aber nun Sie, hier, – bitte.«

»Auf Ihr Wohl, – ich meine es aber besonders nachdrücklich!«

»Aha, – die Einleitung zur angedrohten Rede. Ich will mich lieber dazu setzen.«

Er steht vor ihr. Mit großen Augen träumt sie ins Grün des Waldes hinein, das sich vor ihnen breitet. Sommerwölkchen, schon ein wenig rosig überhaucht, ziehen am reinen Himmel. Es riecht nach Moos und Erdbeeren, deren Zeit schon fast vorüber sein muß. Hundert Schritte Weiter blinkt ein kleiner Teich, an dessen einer Seite hohes Schilf im leichten Wind schwankt. Hügelchen von Thymian und kurzen, haarigen, grauen Pflänzchen erheben sich am Boden.

»Das komische Kraut, – was ist das?« frägt Gertrud halb zerstreut. Mit der Fußspitze stößt sie an die Pflanzen. Sie trägt zu solchen Exkursionen das Praktischste Schuhzeug, aber auch darin zeigen die kleinen Füße ihre schöne Form. Detlev sieht auf den hohen Spann, die feinen Knöchel und überhört ihre Frage. In der Ferne webt die kommende Dämmerung schon sachte matt-grau-blaue Schleier.

›Also reden muß ich,‹ denkt Dombrowsky. Jetzt hätte er am liebsten nichts mehr gesagt und nur immer so gestanden und die junge Frau angesehen.

»Ja, also Gertrud!« – nun packt ihn aber doch tiefer Ernst, und er gerät in Feuer. Eindringlich und lebhaft spricht er auf sie ein und setzt sich dann zu ihr aufs Bänkchen, das kaum für beide genug Platz bietet.

»Es beunruhigt mich so, zu denken, daß Sie sich nun auch elend machen. Ich kann ja nicht fort, ohne daß Sie mir sagen, welches Programm Sie sich für diese trübe Zukunft gemacht haben.«

Sie zuckt die Achseln: »Kann man denn ein Programm aufstellen? Kein Mensch weiß, was diese Zukunft dringen wird, wie soll man da Pläne machen?«

»Ich glaube aber, – und auch Professor Caldaeus meint, – daß es ein langes, langes Leiden, – wie stark progressiv, kann niemand sagen, – werden wird. Wollen Sie da nun wirklich in Seedland bleiben? Immerzu, immer? Höchstens abgesehen von etwaigen auswärtigen Kuren, die Roland vielleicht machen wird?«

Sie schüttelt den Kopf so lebhaft, daß sich ihr Haar lockert und ein feiner Duft sich daraus löst. Eine heiße Welle strömt Detlev zum Herzen. Er steht auf, macht ein paar Schritte und bleibt, an eine der Buchen gelehnt, vor ihr stehen.

»Nein? Wird er gar keine Kuren gebrauchen?«

»Er hält nichts darauf. Seedlands Luft und Ruhe tun ihm besser. Und doch weiß ich, daß er von hier wegwollen wird. Er wird dergleichen vorschützen, nur damit ich fortkomme. – Ich kenne ihn!«

Sie springt in die Höhe und reckt die Arme hoch. »Nur jetzt stark bleiben, – gesund, – nur jetzt, – nur jetzt!!«

Eine heiße Erregung hat sich ihrer bemächtigt. Ihr graut vor den Leiden, denen ihr Heiliger gewiß noch entgegengehen wird, und tiefstes Mitleid um ihn verzehrt sie. Traurig sieht der Baron auf sie hin. Dann meint er leise: »Werden Sie mich eines Tages rufen, wenn Sie meiner bedürfen und mich brauchen können?«

»Nein! Denn da müßte ich ja immerzu rufen. Er braucht Sie, Detlev, – er! Sie tun ihm ja so wohl, schon durch Ihre bloße Gegenwart.«

Jäh hält sie inne. Sie erschrickt vor der inneren Wärme, die aus dem Klang ihrer eigenen Worte strömt, und über den feurigen Glanz in seinen Augen. Beide denken ganz das gleiche zur selben Minute. Allen beiden fällt es auf, daß Gertrud ihn nie Vetter nennt, und sie fühlen sich wie erleichtert, sich nicht nach Schablonenbrauch du nennen zu müssen.

»Es ist spät, wir müssen heim!«

»Ja!«

Er schämt sich, daß er von allem, was er ihr ans Herz hat legen wollen, so gut wie gar nichts gesagt hat. Nach seiner feierlichen, vielversprechenden Ankündigung war er schließlich nur wie ein blöder Junge vor ihr gestanden. Schweigend, jedes mit eigenen Gedanken beschäftigt, gehen sie wieder in gleichem, festem Schritt nebeneinander auf der breiten Straße des stillen, dunkelnden Waldes. Der Boden unter ihren Füßen ist glatt durch herabgefallene trockene Nadeln und sieht stellenweise wie gebohnt aus. Da, – ein Huschen, etwas Großes, Schwarzes! Gertrud stößt einen hellen, kurzen Schrei aus und greift kreidebleich in die Luft. Schon liegt sein Arm fest um ihren bebenden Leib. »Aber Gertrud! Wegen eines schönen, feisten Bocks, der wie ein Satan durchs Unterholz bricht, so zu erschrecken! Mit Ihren Nerven sieht es ja gut aus!«

Sie will sich tapfer aufrichten, aber es geht nicht recht. Eine große Hilflosigkeit bemächtigt sich ihrer plötzlich. In ihr schreit es: Onkel Toni, – Onkel Toni, komme, komm' mir zu Hilfe, – ich kann nicht mehr!! Dann weint sie krampfhaft, wild. Er redet ihr sanft zu, daß sie sich schonen müsse, nicht grübeln, nicht wachen, nicht sorgen dürfe. Nur abwarten in Hoffnung und Mut. Er redet und redet und weiß selbst nicht, woher er die schönen Worte findet, indem er ihr Dinge verspricht, an die er innerlich gar nicht glaubt. In Scheu, wie ein zerbrechliches, zartes Ding, hält er sie im Arm, aber zugleich von sich ab. In seinen Ohren saust und braust es, er kann nicht mehr klar sehen. Er weiß, – er fühlt, – noch eine Sekunde, und er wird sie an sich reißen und mit heißen Küssen bedecken. Aber schon macht sie sich frei.

»Ja, das ist nun die starke Frau!« höhnt sie sich aus. »Aber es war nur so durch den ersten Ansturm, denn es kam doch ein bißchen viel nacheinander in der letzten Zeit. Ich weiß nicht, ich bin gar nichts mehr wert!«

Er sieht sie an mit seltsamem Blick. Er spricht nicht mehr. Und so gehen sie weiter. Draußen, vom Waldesrand aus, sehen sie Grete Mannes auf einem Rain stehen. Ihre große, volle und doch schlanke Gestalt zeichnet sich in festen Linien vom gelblichen Abendhimmel ab. Sie legt eine Hand beschattend über die Augen und späht nach Osten.

Gertrud kann deutlich einen Jägersmann mit zwei Hunden erkennen, der in der Ferne übers Moor schreitet.

»Kommen Sie, – Detlev! Wir gehen über Grädigen nach Haus.«


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