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Fünftes Kapitel.

Doktor Degenhardt kommt heute zu einer ganz ungewöhnlichen Zeit nach Hause. Es ist kaum sechs Uhr, und die Dämmerung webt erst ganz sacht ferne Schleier. Seine Älteste hat ihm ein Billett ins Geschäft geschickt, in dem sie ihn gebeten, um sechs Uhr abends zu einer wichtigen Beratung nach Haus zu kommen. Dann hatte auch noch Otto einen Dienstmann gesandt mit der gleichen Aufforderung. Dem lustigen Uz ist wirklich gar nicht behaglich. Hela und Otto, das ist ein bißchen viel! Auf dem Kerbholz hat er ja beständig etwas. Diese Tochter und dieser Sohn aber haben absolut kein Verständnis für die Lebensführung ihres Vaters und dessen seltsame Moral. Mit den anderen Söhnen steht er sich beträchtlich besser. Isolde und Emmy sind froh, wenn er niemals knausert bei ihren Ansprüchen auf die elegantesten Toiletten und bei der Erfüllung anderer kostspieliger Wünsche. Oft ist er fast so galant wie ein Liebhaber gegen diese beiden hübschen, oberflächlichen Dinger, die er manchmal mit in ein Theater oder ein Restaurant nimmt. Dann freuen die sich ihres eleganten, wohlkonservierten Vaters und betrachten es als den größten Spaß, wenn sie dabei für seine Geliebten gelten. Dann trinken alle drei um die Wette den teuersten Sekt und sind kreuzfidel. – –

Nachlässig schlendert Uz durch den geräumigen Vorgarten. Gepflegt und hübsch angelegt, bildet dieser ein Noli me tangere für die Kinder. Da und dort besieht sich Degenhardt ein eingehülltes Bäumchen, oder stößt untersuchend mit dem Fuß an eine der Schutzmatten der Beete. Es pressiert ihm nicht sehr, zu dieser Familiensitzung zu kommen. Aber was nützt das Zögern? – Sein muß es doch! So entschließt er sich kurz, macht ein paar lange Sätze durch den Mittelgang, zieht den Schlüssel aus der Tasche und mit einem geseufzten: »Also!« schließt er auf. Fräulein Finchen steht auf dem Vorplatz und sieht den Doktor mit ihren spähenden, unschuldigen Vogelaugen fragend an.

»Guten Abend, gnädiger Herr; die Herrschaften sind im Boudoir.«

In dem hübschen, eleganten Raum, der etwas phantastisch ausgestattet ist und durchaus den Stempel einer ausgeprägten Persönlichkeit trägt, brennt noch kein Licht. Bleich im matten Dämmerschein sieht Frau Thilde direkt schön aus. Sie sitzt mit einem etwas verschlampten Schlafrock angetan in ihrem Stuhl vor dem Schreibtisch, und ihre schönen Hände sind halb in das graue, lockige Haar, das nur lose aufgesteckt ist, vergraben. Otto lehnt am Fensterkreuz, und Frau Eckeberg, den Hut noch auf dem Kopf, im schwarzen Schneiderkleid von tadellosem Sitz, überhaupt mit großer Akkuratesse angezogen, hat lattensteif auf dem Sofa Platz genommen. Eine Anzahl nichts weniger als saubere und mit kindlich unbeholfener Schrift bedeckte, reichlich mit Tintenklecksen gezierte Bogen liegen auf ihrem Schoß.

Ab und zu schmücken gar nicht ungeschickt mit der Feder gezeichnete Girlanden ein Blatt und zeugen von Ludwigs Kunstsinn und Begabung. Die gute Mutter sitzt da wie begossen. Ein richtiges Gewitter hat sich bereits über ihrem Haupt entladen. Ihr schwindelt, so haben Otto und Hela auf sie eingeredet, während Isolde und Emmy sich, genau wie jetzt auch, mit unterdrücktem Lachen auf dem kleinen Ofenbänkchen rekelten und sich des komischen Skandals freuten. Gott sei Dank, daß der zur Abwechslung einmal nicht sie beide, sondern die Traudl traf und den Ludwig hoffentlich gehörig mit erwischen würde. Frau Thilde hat schon Kopfschmerzen. ›Verkommen‹ – ›schon eines Tages sehen,‹ – ›demoralisiert,‹ – ›von keinem Menschen geachtet,‹ – ›Schande und Spott,‹ – sie fühlt ein Mühlrad im Haupt. Wenn der Vater kommt, sollen die gravierenden, unkindlichen Briefe des verderbten Mädchens gezeigt und laut verlesen werden.

»Der Papa ist schon da!« ruft Emmy mit ihrer spitzen Stimme. Isolde öffnet eilig die Tür. Ernst Degenhardt nimmt eine heitere Miene an, geht auf seine Frau zu und küßt ihr zärtlich die Hand.

»Grüß Gott, Schnackl, – also was ist's denn?«

Mißtrauisch sieht er von Otto auf Hela, – dann auf die zwei anderen.

»Nix wie 'naus, ihr zwei Mädln, – oder habt ihr etwa auch da was zu tun?«

»Nein, wir bleiben, – wir gehen nicht. Die Emmy hat ja selbst viel gehört, was da geschrieben steht,« erklärt Ist.

Dann eröffnet Hela langsam und feierlich, in wohlgesetzten Worten die Anklage gegen die beiden Kleinen, insbesondere gegen Traudl. Papa Degenhardt atmet tief und erleichtert auf und zieht pfeifend die Luft zwischen die Zähne. Gelassen zündet er sich jetzt eine Zigarre an und läßt sich im nächsten Sessel nieder. Nun wird ihm umständlichst die Nubiersache aufgetischt; diese seltsamen, häufigen Besuche, die Traudl der Frauenkirche abstattet und endlich, daß Kunz Manzinger am Sonntag dagewesen, und wie sich der Fratz dabei benommen.

»Ich hab nix benehmen sehen,« murmelt Ernst Degenhardt.

Frau Landgerichtsrat wirft einen verächtlichen Blick auf den Pater und einen bedeutungsvollen widmet sie Otto, der diesem sagen soll: ›Da siehst du's wieder, er ist, wie er ist, und alles ist umsonst.‹ Die zwei Schwestern bestätigen, wie kokett und herausfordernd Traudl gegen den Dichter gewesen, so daß dieser nicht mehr von ihrer Seite gewichen sei. Endlich aber wäre er hinter ins Kinderzimmer gegangen, und da hätten Ludl und die Kleine in den Nachthemden über ein Kunstgeschichtswerk, das sie aus Ottos Stube gestohlen, gesessen. Hela jedoch, die etwas hatte holen wollen, habe alles gesehen. Traudl sei ganz ruhig mit einem Knie auf dem Stuhl geblieben und habe den frechen Menschen noch lächelnd angeschaut, wie er eingetreten sei. Der hätte gemeint: ›Ihr habt ja gesagt, ich dürfe kommen und gute Nacht sagen, wenn ihr im Bett seid.‹ Und dann wieder das Mädel: ›Ja, aber wir haben zuvor noch das Buch sehen müssen!‹ In dem wären lauter nackte Menschen beiderlei Geschlechtes gewesen. Vor Manzingers Augen sei Traudl dann ins Bett gesprungen, hätte die Decke heraufgezogen und lachend gerufen: ›Also jetzt wirklich gute Nacht!‹ ›Ob sie ihm einen Kuß gäbe.‹ ›Ja, schon!‹ Dann hätte sie sich aufgesetzt und hätte den fremden Menschen geküßt. Dessen Gesicht wäre unbeschreiblich gewesen und wäre von einer fahlen Blässe überzogen worden. Dem Ludl habe er die Hand hingestreckt: ›Guter kleiner Kamerad, – ja?‹

»Blöd –! einfach,« wirft Isolde ein.

»Trottl!« meint Emmy.

Beide hatten sich an jenem Sonntag rasend auf Kunz Manzinger gefreut, als ihn Ingo angekündigt. Noch im letzten Augenblick malte sich Isolde die Augen etwas, weil sie meinte, daß das interessanter mache. Keinen Blick aber hatte er für sie beide gehabt. So ein Fader, ein Langweiliger! Und dann das Getue mit den Kindern! Gar mit der Traudl! So ein großes Mädel! Unanständig ist so etwas einfach!

»Ja, warum hast du denn das alles gelitten, wenn es dich so entrüstet hat?« wirft Frau Thilde ein, der ihr Mann sofort sekundiert: »Ja, warum denn?«

Hela reckt sich noch steifer.

»Ich habe doch sehen müssen, was sich da abspielen und entwickeln würde. Das Mädl ist so raffiniert wie der Bub gerissen!«

»Mir geht's wahrhaftig über die Hutschnur,« seufzt der Vater.

Die Mutter nickt ihm zu: »Ich verstehe auch kein Wort, wo das alles hinauswill!«

Die Ankläger zucken mit den Schultern. Frau Landgerichtsrat dreht die Augen gen Himmel, so daß man nur mehr das Weiße sieht.

»Ja, wenn ihr eben kein Einsehen haben wollt, und kein Verständnis!«

»Natürlich, dann –« wirft Otto ein.

Darauf ergeht sich die tadellose Frau, unterstützt vom Bruder, in einer langen Rede, was alles geschehen müsse, um sämtliche Geschwister, – Emmy und Isolde versuchen zornig zu protestieren, – insbesondere die beiden Kleinen anders zu erziehen und vor schlimmen Abwegen zu bewahren. Doktor Degenhardts Stirn wirft Falten.

»Gib mir jetzt sofort einmal die Briefe her,« verlangt er ganz energisch. Er entfaltet rasch den ersten.

›Hebe das nur gut auf, Lilli, weil ich später einmal wissen möchte, wie früher alles war,‹ steht gleich einem Motto und dick unterstrichen auf der ersten Seite.

Direkt nach Weihnachten war mit den Aufzeichnungen für die große Postsendung begonnen worden. Völlig harmloser Natur sind sie; aus Ereignissen in der Schule und im Hause zusammengesetzt. Sehr treffende Bemerkungen dazwischen. Da, – da kommt sein Name. ›Den Papa hab' ich wieder einmal drei Tage nicht gesehen, seit er mir das halbe Pfund Malzzucker geschenkt; und ich brauchte doch wieder Geld fürs Schlittschuhlaufen. Die Mama ist wieder gar nicht zum Erwischen. Vielleicht hat sie auch gar keines. Und gewiß wird ihr viel gestohlen, denn sie läßt es so oft herumliegen. Der Papa hat immer und gibt immer eins. Ich glaube, auch Fremden. Am Sonntag habe ich gehört, wie Frau Doktor Kolb zu einer Dame, die ich nicht kenne, beim Tee gesagt hat: »Der Degenhardt soll der Baronin Saßnitz die ganze Riviera-G'schicht' bezahlt haben, sagt man.« Warum die zwei so dumm gelacht haben, weiß ich nicht, denn das war doch furchtbar gut vom Papa. Die Dame ist gewiß lungenkrank und hat selber kein Geld, um sich in Italien zu kurieren? –

Im Gesicht Ernst Degenhardts zuckt und hüpft es eigentümlich. Fest und etwas spöttisch schauen Hela und Otto ihn an. Er blättert weiter. An einer anderen Stelle: ›Weißt Lilli, wir sind so viele; aber es ist doch, als wären wir nur ganz wenig. Oft mein ich wirklich, nur Ludl und ich.‹ – Später: ›Die großen Geschwister sind uns wie fremde Leut'; wenn sie dann plötzlich 'was von uns wissen wollen, meint man, es mischen sich ganz Fremde ein in unsere Sachen. So eine interessante Mutter wie die unsere hat kein Kind in der Schule. Ich möcht' wissen, warum sie jetzt solche Märchen schreibt, die wir nicht mehr lesen dürfen. Früher haben wir's dürfen. Sie hat heut' gesagt, sie hätten nach und nach einen anderen, einen: Simpolieschen Charakter bekommen. Was das für einer ist? Ein arger, unanständiger muß es sein. So, wie es sich nur für Große schickt. Die Mama ist schön, wie eine Zigeunerin kommt sie mir vor. Ganz anders wie andre Mütter, aber furchtbar zum Liebhaben. Ich möcht' oft immer nur an ihrem Hals hängen und mich dann abküssen lassen von ihr, und so gräßlich viel sagen, was ich niemandem sagen kann. Auch nicht dir. Dann sag' ich's Onkel Toni, – aber ich glaub', der versteht manches gar nicht, so wie die Mama es tät', wenn die Zeit hätt'. Autsch kann die aber kochen! Das tut sie mit ein paar Augen, wie – wie im Theater bei Mord und Totschlag. So steht sie am Herd und macht Saucen und Puddings, oder sitzt vor dem offenen Fenster und kleppert Maschonaise, oder sonst etwas Gutes. Oft hab' ich mir schon gewünscht, sie wär wie die Mama von die anderen Kinder und gar nicht wunderbar und interessant und gescheit, sondern halt nur so – so – so, daß sie einem waschen, kämmen und ins Bett legen täte. So wie deine oder der Rosa Held ihre Mama, oder so wie die von die Rheinspergs. Dann sagen die Kinder immer, sie schliefen so fein, wenn's ein Mama-Bett wäre. Das Fräulein Finerl ist ja herzensgut, aber doch keine Mama.‹ Einige Blätter weiter: ›Denke dir nur, der Ingo ist wieder daheim. Der ist sehr hübsch und elegant geworden; er ist viel lieber mit mir, wie der Otto, der Max und der Carlo. Übrigens hat mich der schon wieder gezeichnet; diesmal in Rötel. Nur gar so grob ist er dabei, und ich krieg' doch immer gleich den Krampf. Gestern hat mich der Otto ohne allen Grund plötzlich fast zerdrückt vor Zärtlichkeit und verküßt. Kein Mensch weiß warum. Gerade so wenig, warum er ein anderes Mal immer meint, wir täten schlechte Sachen. Mir ist er unheimlich. Das Fräulein Finerl hält sehr viel auf ihn und entschuldigt ihn immer. Er hätte uns eben sehr lieb und hätte deshalb Angst um uns, daß wir wüst und schlecht werden könnten. Wenn ich einen lieb hab', dann meine ich nicht immer, er könnte schlecht werden, und trau' ihm nicht gleich alles Miserable zu. Am Sonntag ist's immer schön bei uns und lustig. Im Vorderhaus ist feiner Tee mit den Großen. Die Mama ist dann elegant und hat sogar ein Korsett an. Der Papa ist dann fast immer daheim. Es kommen auch furchtbar berühmte Leute. Auch der Lenbach, dann ein schrecklich berühmter Kapellmeister, der sehr jüdisch aussieht, aber prachtvolle Augen hat und immer eine rothaarige, große Dame mitbringt. Auch Paul Heyse, der auch sehr berühmt ist, war schon ein paar Mal da. Sie sagen, seine Geschichten dürft' ich noch nicht lesen. Das Fräulein Finerl sagt, der Zola wär' auch ein unanständiger, französischer Schriftsteller. Aber die Emmy und die Isi haben doch einen schmierigen Band von ihm unter der Matratze. Unsere Anna hat ihn beim Bettenmachen dort gefunden. Ich möchte oft viel lieber ganz bei den Großen bleiben. Da hört man so viel. Bei uns hinten im Stall, wie der Ingo unsere Zimmer nennt, geht's dann wild her. Wir dürfen dort alles. Der Ludl hat ein paar neue Buben, die sehr nett sind und furchtbar ulkig. Einer verehrt mich so sehr, daß er will, ich soll mich mit ihm verloben. Aber erstens steh' ich schon genug mit dem Verlöbnis vom Ludl und dir aus, wenn ihr euch so oft verzankt, und zweitens ist der Bub, – es ist ein Sohn vom Doktor Urkas, – protestantisch. Was er glauben tät, wär mir ja Wurst, aber er hat gesagt, er würde nie seine Kinder katholisch werden lassen, und ich möcht um alles in der Welt keine protestantischen. Meine armen Kinder sollen nicht eines Tages in diesen abscheulichen Kirchen und bei dem allgemeinen Gesinge herumsitzen müssen. Die sollen auch das Schöne von unseren Kirchen haben, und alle lass' ich in der Frauenkirche taufen. Da war' das also schon deshalb nichts mit dem Urkas. Verehrer hab' ich überhaupt viele. Mehr wirkliche wie die großen Mädels. Aber wie die auch aufs Heiraten aus sind!‹

Doktor Degenhardt schielt belustigt auf die Seinen. Sie wollen immer alle dazwischenrufen und ihn nicht ruhig lesen lassen. Seine Miene, bald verblüfft, bald ernst, dann wieder seltsam lächelnd, erregt alle ungemein. Keines außer Hela und Otto, hat ja noch Zeit gehabt, die Blätter zu studieren.

»Seid nur froh, wenn ich euch das nicht laut vorles'; ein jedes könnt' sich davon 'was hinter die Ohren schreiben,« meint er ganz unverfroren.

»Ich glaube, du auch, Papa!« Seine Älteste hatte es ihm boshaft zugeflüstert.

»Kann gut sein,« meint er gelassen. Dann liest er weiter.

Frau Thilde blickt stumm ergeben und versonnen vor sich hin.

»Du, – ich glaub', die hat uns auch mitgenommen,« raunt Emmy der Schwester zu.

»Hast du denn nichts davon gelesen, vorher?«

»Nein, – nur ein Stückerl. Dann hat die Hela die ganze G'schicht gleich wieder zurückgefordert.«

Darauf folgt die Beschreibung, wie Kunz Manzinger dagewesen. ›Den mag ich auch,‹ endet sie. ›Und er will mit mir spazieren gehen und Bonbons, ganz feine, hat er mir auch geschenkt. Ob ich ihn mit in die Frauenkirche nehmen wollte? Natürlich, hab' ich gesagt, denn der ist ein Dichter und weiß schon, warum mir's dort so gut gefällt. Später wird er sicher ganz schrecklich berühmt.‹

Auf der letzten Seite steht: ›Weil du mich gefragt hast und meine beste Freundin bist, auch obendrein meine Schwägerin wirst, vertraue ich dir an, wen ich leiden kann und wen nicht.‹ Dann durch einen dicken Strich geteilt, links: ›Herrn, die ich mag‹ und rechts: ›Herrn, die ich nicht mag.‹ Auf der schmeichelhaften Seite ist Anton Buchlehner obenan. Gleich darunter, aber erst kürzlich neu dazwischengekritzelt: Kunz Manzinger. Es folgen noch die Namen eines Lehrers, eines Pfarrers, der des Hausarztes und die einer Anzahl von Jungens. Auf der schlimmen Seite stehen weit mehr. Auch manchmal dabei die Begründung von Traudls Abneigung, zum Beispiel ›Zwickt einem immer beim Fangermandl in die Beine?.‹ Bei dem Namen eines alten, sechzigjährigen Herrn steht: ›Weil ich sein ewiges Abgeschnull nicht leiden kann.‹

Der Leser lacht laut auf. Frau Hela Eckeberg und Otto sind wütend, Mama völlig verwirrt, allein schon durch die ganze Veranstaltung. Emmy und Isolde sind sehr erstaunt, ihre Neugierde absolut nicht befriedigen zu können, und verlassen endlich enttäuscht das Zimmer. Zufällig fallen die Blätter gegen die Mitte auseinander. Gerade die Stelle ist sauber und deutlich geschrieben, wie Traudl erklärt, warum sie sich entschlossen, Onkel Toni zu heiraten. Dem Uz wird sonderbar zumute. In ein kleines, einsames Kinderherz sieht er hinein. Brennend fühlt er es in seinen Augen aufsteigen, und ein unklares Schuldbewußtsein beginnt ihn zu quälen. Er macht eine rasche, drollige Bewegung, als wolle er etwas abschütteln, dann springt er auf, packt den langen Brief zusammen und hält ihn hinter seinen Rücken.

»So! Vorgelesen wird gar nichts. Wenn die Mama was wissen will, kann sie ja vielleicht selbst, aber warum soll sie sich mit dem Zeug plagen, wo sie so viel zu tun hat!«

Nach rückwärts macht er einige Schritte und nähert sich so sachte immer mehr dem offenen Kaminfeuer, das der niederen Temperatur halber, die plötzlich draußen wieder herrscht, brennt. Ehe Otto es verhindern kann, fallen die Papiere schon in die Flammen, die gierig danach lecken. Wie eine Mauer bleibt Doktor Degenhardt vor dem Cheminee stehen.

»Genug jetzt davon. Und wegen dem werd' ich aus meinem G'schäft her zitiert? Grad, als wenn ich sonst nix zu tun hätt' und so pressiert hat's auch? Ja, seid ihr g'scheidt alle zwei?«

»Weiß Gott, wann du sonst zu finden und zu haben gewesen wärst! Kein Mensch kümmert sich recht um die zwei Kleinen. Die Traudl wächst doch heran,« grollt Otto, »es wird grad so wenig 'was daraus wie aus den großen Mädeln!«

»Ihr seid's Pedanten, Nörgler und Schwarzseher. In Ruh' laßt uns. Aber natürlich, gelt Schnackl – wir reden schon mit dene zwei ein ernstes Wort. Ich kauf' mir 'n Ludl und kauf mir die Traudl. Ganz traurig bist' ja. Schnackl!« wendet er sich zärtlich an seine Frau. »Nein, nein, gelt, wir machen das schon, mit dene Kinder. Ein bissel ein Lausbub' ist der Ludl schon, aber, – ich weiß net, – er lernt doch eigentlich ganz gut!«

»Er lügt,« ruft Hela.

»Geh', – auch noch! No und also, wie geht's nachher deine zwei Krabben daheim und dem Herrn Gemahl?« Er betont das Wort spöttisch feierlich. Dann: »Seids doch gemütlich, – zum Tee geh'n mir jetzt. Ganz kaputt bin ich über das Gered' für gar nichts.«

Frau Landgerichtsrats Gesichtsfarbe spielt ins Grünliche; sie greift nach ihrem Mantel, der auf einem Stuhle liegt. Es ist, als gehe eine Eiseskälte von ihr aus.

»Ich muß heim zu meinem Mann und den Jungens. Otto und ich haben das Unsere getan. Adieu also!«

Mit wütendem Gesicht, ohne auch nur einen Ton von sich zu geben, folgt ihr der Bruder.

*

Traudl sitzt bei ihrer Mutter im Boudoir und hat die Arme um deren Hals geschlungen. Beide schluchzen. Das Mädchen hatte so lange, – wissend, daß unten über die Verbrecher beratschlagt und der Brief vorgezeigt würde, – in heller Angst gewartet. Jetzt kommt die Reaktion, trotz oder gerade weil alles so ganz anders geworden, als sie es erwartet hatte. Erst hatte sie Hela, später dann auch Otto mit bösen Gesichtern weggehen sehen. Von Isi und Emmy war ihr bloß im Vorüberstreifen auf der Treppe zugerufen worden: »Freu' dich nur,« und »jetzt geht dir's schlecht, du freches Ding!« Fräulein von Hartmann sagte ihr, der Papa säße in seinem Zimmer und läse. Gleich darauf hatte Mama Traudl zu sich rufen lassen. O Gott! Auf deren Schreibtisch, über die großen, weißen Bogen hingestreut, wie Mutter sie zu ihrer Schriftstellerei benutzt, lagen Teile aus Traudls Brief. Und wie seltsam: alle waren halb oder etwas angebrannt. Überhaupt roch es im Boudoir nach versengtem Papier. – Allein es kam kein böses Wort, kein Vorwurf. Frau Thilde nahm nur ihre Jüngste in die Arme, küßte sie und ließ sich wieder küssen.

»Wenn es Sommer ist und wir wieder in die Berge hinaus in unser Bauernhaus gehen, dann wirst du 'was erleben. Wir werden ja fast allein sein, denn Isolde und Emmy wollen zur Tante nach Berlin und mit dieser an die See gehen. Eckebergs reisen in die Schweiz, Otto nach Wien, und die anderen Brüder kommen doch nur so ab und zu. Siehst du, mein Traudl, da werd' ich so ziemlich allein sein mit meinen zwei Kleinen. Ich arbeite dann nichts und werde mich ganz dir und Ludl widmen. Wir treiben rechten Unsinn, lesen, kochen uns gute Sachen und sind recht, recht lustig! Hörst du, – mein Süßes?«

»Ja, ja, Mama! Hast du mich denn lieb?«

»So sehr lieb, Traudl!«

»Wie schön es bei dir ist, Mama, – kann ich nicht manchmal zu dir?«

»Ja, komme nur, Kind, – oft, oft!«

Die erschütterte Frau bricht wieder in heiße Tränen aus.

»Nein, nein, keine abscheuliche Mama sollst du haben! Du hast auch keine, nicht wahr? Sage nein, bitte – bitte, sage nein! Und alles kannst du mir immer erzählen, – alles, alles!«

»Ja, Mama, – ja, liebe, liebe Mama!«

Etwas unendlich Feierliches zieht ein in das lautklopfende kleine Herz Gertrud Degenhardts. – – –

Gegen acht Uhr, nachdem die zwei Jüngsten schon gegessen haben, öffnet der Doktor eine Spalte der Kinderzimmertür: »Seid ihr da?«

»Nur ich, Papa, – der Ludl ist drüben und ochst. Der hat heut so einen Haufen Hausarbeiten.«

»Bist du schon fertig mit den deinigen?«

»Schon lang'! Du, – Papa, – du, – werd' ich jetzt von dir verschimpft? Die Mama war doch so arg lieb und gut mit mir!«

Die Kleine strahlt, aber sie sieht ganz angegriffen aus.

»Patscherl! Aber nicht dumm und immer recht brav sein, gelt? – Mußt' morgen bald in die Schul'?«

»Erst um zehn Uhr; wir hätten schon von neun an, aber der Zeichenlehrer ist krank.«

»Ah? Schön, schön! Das ist nett, – also, zieh dich schnell ein bisserl an, ich nehm' dich mit in den Zirkus!«

»Papa!« Sie schreit laut auf vor Wonne und fliegt ihm an den Hals.

»Pscht, – pscht, – bist gleich ruhig! Schau, wann's der Ludl hören tät'. Möcht' ihm das doch nicht antun! Der arme Kerl kann ja nicht mit.«

Er hilft eigenhändig dem Kind ein schönes, neues Kleidchen anlegen, bürstet ihm das Haar, bindet eine bunte Schleife geschickt in das schimmernde Gelock und hüllt Traudl in ihr Kapuzenmäntelchen. Dann schleichen sie sich wie zwei Verbrecher die Stiege hinunter und den Gang hinüber zur Mama. Fräulein Finchen kommt gerade aus dem Boudoir heraus und erstarrt fast über das, was sie hört. Aber sie hat sich längst abgewöhnt, über die im Haus übliche Erziehungsmethode ein Wort zu sagen. In leisem Jammerton murmelt sie nur vor sich hin: »Nein, was zu arg ist, ist zu arg. Schad' um die Kinder!«

Frau Thilde ist ganz glücklich über den prächtigen Einfall des Gatten.

»Das ist aber nett, Papa, – ja, nimm sie nur mit, und recht viel Vergnügen, mein Trauderl!«

Gegenseitige Küsse, dann stürmt die Kleine voran zu dem Wagen, den der Hausbursche schon geholt. – – –

Mitternacht ist vorüber, als das Kind ganz verschlafen an der Seite seines Vaters heimfährt. Aber die prickelnde Musik hat es noch halb im Ohr und in der Nase etwas von dem penetranten Stallgeruch. Traudl schwärmt für Pferde. Über die drolligen Späße der Clowns hat sie Tränen gelacht, und ein Wunder ist es, wenn sie sich nicht den Magen verdorben an all den Süßigkeiten, mit welchen der Vater sie gefüttert hat.

»Du lieber Papa!«

Er streichelt sie zärtlich, wie sie sich im Dunkel der Droschke ganz eng an ihn schmiegt. Endlich trägt er sie fast durch den Garten und die hintere Treppe hinauf, wo er sie dem in einem lächerlichen Negligé steckenden Fräulein von Hartmann übergibt, das ohne ein Auge zu schließen auf Traudl gewartet hat. Der Wagen steht noch unten. Leise schleicht sich Degenhardt wieder herab, meidet im Garten den knirschenden Kies, gibt dem Kutscher raschflüsternd eine Adresse an und steigt wieder ein.


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