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Achtes Kapitel.

Rechts steht dunkel der Wald, wie wenn er fest, trotzig und treu das niedrige, langgestreckte Haus beschirmen wollte. Links breitet sich die Ebene. Weit, weit kann der Blick ziehen, viele, viele Meilen. Einer großen Glasglocke gleich hüllt der weite Himmel klar und hell das Land ein. Die stumpfen, abgetönten Farben dieser leicht hügeligen Erde, der Geruch, der ihr entströmt, fügen sich zu einem Traum. Bäche teilen den weichen Rasen, das gelbbraune Moos und die schwarze Torferde. In ihnen zittert es fast menschlich nach, wie in der Kirchenglocken weichen Tönen, die auf langgedehnten Luftwellen ungehindert fortgetragen werden und weit in blauer Ferne verhallen. Einzelne Gehöfte, kleine Hütten, ein einzelner Baum, verlorenes Gesträuch, – sie werden in dieser Gegend Marksteine der Erinnerung. Zäh klammert sie sich gerade an das berglose Land, dessen Reize keinen mehr loslassen, der sie je wirklich nachempfunden und begriffen. Froh und weit dehnt sich die Brust; es ist, als ströme eine Fülle neuer Hoffnungen und neuer Kraft aus dem fernen, klarblauen Horizont herüber, goldene Träume, fruchtschwere Gedanken. Man sieht und hört so vielerlei, das man früher nie gesehen und nie gehört. Ein warmer Hauch kommt in breiter Welle mit herb-aromatischem Duft querfeldein. Er macht alles Lebende erzittern in einem heißen Bewußtwerden kraftvollen Seins. Goldüberschüttet stehen die Birnbäume an der Heide. Sogar in den Gärten der armseligsten Katen blühen Astern und Reseden, und farbig wippen Ranken wilden Weines an den verwitterten Zäunen. Der Garten von Seedland träumt in einem Farbenrausch. In dem bunten Dach der Ahorngruppe flüstert der scheidende Sommer mit dem kommenden Herbst. Schon aber spürt das noch Bestehende seinen Hauch. Der Duft der blühenden Blumen mischt sich mit dem der sterbenden. Nur einige Stellen gleichen Oasen, die den Sommer festzuhalten vermögen. In einer Sandgrube blüht Heidekraut, und die Erde trinkt dort besonders gierig die heißen Sonnenstrahlen. Die Erlen, die den kleinen, daneben fließenden Bach beschatten, stehen noch frisch, und ein grünliches Licht liegt unter ihren Kronen.

Auf dem sandigen, trockenen Boden liegt Gertrud Halliger. Langsam läßt sie mit der einen Hand den schwarzen Samen überreifer Lattichfrüchte in die Rinnen und Brüche der geborstenen, spröden Erde rieseln. Wie durchgebacken von diesen heißen, wie im letzten Abschied noch alles spenden wollenden Strahlen fühlt sie sich an. Gertrud träumt, wie so oft schon, von einer anderen Ebene, die dieser gleicht. Es war auch Herbst! Aber lange ist's her. Draußen war's, in Dachau! Bruder Ingo und Kunz Manzinger waren mit ihr gewesen. Ein weißes Kleid mit einem blauen Jäckchen hatte sie getragen, und den noch sommerlichen Strohhut hatte ihr der Dichter mit Hopfenranken, die er von einer Hecke gerissen, geschmückt. Ob wirklich so viele, viele Jahre indessen vergangen sind? Ist's nicht ein Traum? Einer, wie sie ihn eben geträumt, als sie eingeschlafen war, während ihr Pony, das sie vom Wägelchen abgespannt hatte, sanft und friedlich am gelben Gras schnupperte. Und die Kinder? Sie muß sich über die klare, weiße Stirn streichen, die von goldbraunen Löckchen umzittert ist. Ja, der kräftige Junge, der die braune Scheck in den Stall hat treiben helfen, ist ihr Sohn! Im Garten, bei einem mustergültig aufgebauten Miniaturgärtchen, in dem kein Stein sich verrücken darf, spielt Lise, ihre Älteste. Die kleine Pedantin mit den stahlharten Augen und der geraden Nase, die dem Kindergesicht eine allzuzeitige Reife verleihen. Gesund sind die beiden, brav und leicht zu erziehen. Die blutjunge Mutter hatte niemals Mühe mit ihnen gehabt. So wenig wie die Bonne, welche bei ihnen sitzend stundenlang ruhig arbeiten kann. Wenn Grete Mannes, die Tochter des Oberförsters, in den Ferien nach Hause kommt, ist sie auch viel herüben. Ein großer, hellblonder Backfisch, resolut, rotbackig, mit goldgesäumten Wimpern und einem schlanken, aber zugleich üppigen Leib. Frau Gertrud seufzt immer ein wenig, wenn sie Grete vor sich sieht. Nein, so würde ihre Lise niemals werden; und sie wünschte es doch heiß. Sie liebt die ungebändigte, frische Kraft, die einfache Natürlichkeit des heranwachsenden Mädchens, in dem sie sich eine Freundin erblühen sieht. Und Grete hat wieder ihrerseits in der mädchenhaften Frau, mit der sie oft ganz tolle Jungensstreiche ausführen kann, zugleich eine fröhliche wie eine ernste Kameradin gefunden, zu der sie auch wieder schwärmerisch verehrend aufblicken kann. Sie, die keine Mutter, nur einen Vater hat, sehnt sich ja so sehr nach dem warmen Herzen und der Zärtlichkeit einer Frau.

Die Frau von Seedland, wie sie in der Umgebung genannt wird, richtet sich halb auf und blickt versonnen übers Heideland. Darüber liegt ein schwacher, mattrosa zitternder Duft. So intensiv muß sie an die Heimat denken und an die Dachauer-Moos-Gegend, in der die vielen Maler hausen, und die ihr damals so großen Eindruck gemacht hatte. Sie hat die Bilder, die sie als Kind in sich ausgenommen, innerlich treu bewahrt. Ihre Gedanken hüpfen nun, springen, laufen und turnen. Jetzt sind sie bei ihrem Hochzeitstag. Die lebhafte Frau in der Sandgrube wälzt sich wie ein junges Füllen und lacht hell auf. Das Pony spitzt die Ohren und trabt herbei. Den drolligen, dicken Kopf neigt es herunter und schnuppert über die Herrin hin, die es nicht erreichen kann.

»Geh' weiter, du!« – Sie wirft mit zwei kurzstieligen Engelsdisteln nach ihm. Es wiehert, macht einen lächerlichen Seitensprung und troddelt hinüber zu einer Strauchgruppe, zwischen der rote Essigbeeren und Pfaffenkäppchen aufleuchten.

Ja, damals! wie toll hat sie doch sein können! Durch einen Zufall war sie allein mit Roland zum Standesamt gefahren. Die Zeugen – Onkel Toni und ein auswärtiger Verwandter ihres Bräutigams – sollten sie erst dort treffen, da der Zug, der diesen Gast brachte, nur knapp zur Zeit ankommen konnte. Und plötzlich, als sie so mit Halliger im Wagen saß, fuhr ihr ein heißer Wunsch durch den Kopf:

»Wieviel Uhr, Roland?« – »Zehn vor elf!« – »So früh noch?« – Sie bog ihren Leib halb hinaus zum Wagenfenster: »Kutscher, halt! Hörn S', fahren S' schnell noch zuerst zur Frauenkirch', – 's ist noch zu früh.« – »Du, – du, – du Übermut!« Er küßte sie und freute sich über ihre impulsive Art. »Lieber, – ich muß ja noch einmal allein mit dir dort hinein vor –« »Vor?« – Er hatte sie so fest an sich gedrückt, daß die Seide ihres Kleides gefährlich krachte und raschelte. Dann stiegen sie aus und traten in die mächtige Halle. Gertrud strebte eilends vorbei an den achteckigen, riesigen Pfeilern, die das Sternengewölbe tragen und das breite Schiff in drei Teile spalten. Durch die mächtigen, wunderschönen, bunten Fenster kam magisches Licht. Ernst und feierlich sah der große Christus auf sie herab. Hand in Hand standen sie vor den Stufen des Hochaltars, an dem noch geschmückt wurde für die kommende Trauung. Daß sie das Paar waren, das dort kaum zwei Stunden später zusammengegeben werden sollte, ahnte keiner, der an ihnen vorbeistreifte. Hand in Hand gingen sie auch wieder. Fest hielt Roland Halliger die kleine Hand seiner kindlichen Braut. Über deren junges Gesicht rollten die Tränen, verursacht von einem Weh, das ihr ins Herz schnitt. War ihr doch, als sollte sie ihren alten Dom auf ewig verlassen, die treuen Türme nimmer sehen, nimmer die tiefen Glocken hören, nie mehr die mystischen Schauer, den tiefen, unendlichen Frieden fühlen, der sie hier immer von Kindheit an umfangen.

»Mein kleines Traudl, sei nicht traurig. Glaubst du, ich will dich auf ewig von der Heimat trennen?«

Sie saßen schon wieder im Wagen, – ihre Tränen waren versiegt. Ein sonniges Lächeln lag auf ihren Zügen. Die Stimme dieses Mannes hatte ja den Glockenklang, den sie sich ersehnte. Aus seinem Herzen würde ihr der Friede kommen und sie an seiner Brust jene Ruhe finden, von der sie sich verlassen meinte, seit sie wieder zu Haus war.

Ein wahres Chaos bildet in ihrer Erinnerung die Hochzeit selbst. Nur schwer hat sie es durchsetzen können, daß diese in kleinem Kreis und das Diner zu Haus stattfand. So überaus glücklich war sie gewesen, erreicht zu haben, nicht wie seinerzeit Hela und dann später Emmy, in der langweiligen, für sie so reizlosen Ludwigskirche, sondern in ihrem geliebten Dom getraut zu werden. Eine Gestalt, ein Bild blieb ihr von diesem Tag noch lang, lange vor Augen. Das ihrer Schwester Isolde! Ein verstörtes, verzerrtes Gesicht, krampfhaft liebenswürdig mit unruhig irrenden Augen über schwarzen Schatten. Lange hatte sie noch das laute, forcierte Gekicher im Ohr gehabt und die scharfe Stimme. Der Wein hatte endlich eine bräunliche Röte auf Isis in letzter Zeit so verblichene Wangen gezaubert. Immer wieder hatte Gertrud auf die Schwester starren müssen. Wie gebeugt, müde ihrer Jugend schien deren Gestalt, die an Elastizität und Eleganz verloren hatte. Anton Buchlehner aber trat zu seiner jungen Freundin und legte den Arm um deren Leib. »Sei ruhig, Trauderl, –« flüsterte er ihr ins Ohr. »Hab' nur keine Angst und mach' dir keinen Kummer. Geh' du ruhig in deinem Glück fort. Ich werd' schon sorgen, daß alles so mit der Isi wird, wie's noch am besten zu machen ist. Und das alles werd' ich tun in deinem Gedenken und sozusagen für dich!« Vorerst hatte sie ihn nur halb verstanden. Isolde reiste bald darauf in Begleitung Onkel Tonis nach England ab. Monatelang blieb sie dort auf dem Land, im Haus eines Arztes. Für Anton Buchlehner bestand die Ausbeute dieser Reise in einer Reihe von prächtigen Skizzen, die er später mit gewohntem Erfolg verwendete. Leutnant Reich hatte sehr Plötzlich den Abschied genommen. Genaueres wußte niemand. Es ging aber das Gerücht, einer hätte ihn geohrfeigt. Daß der fesche, hübsche und leichtsinnige junge Mensch gar vielerlei Gebandel gehabt hatte, ohne jemals Lust zum Heiraten bekundet zu haben, war offenes Geheimnis. – –

Wie eine goldene Krone wölbt sich eine Reihe dicht beieinander stehender Prachtexemplare verspäteten Löwenzahns über Gertruds Stirn. Ihr Haar wird noch davon berührt und mengt sich mit den verachteten Blumen. Ja, den Frieden, die Ruhe und das Glück, die sie sich erträumt, hatte sie wirklich an der Seite Roland Halligers gefunden. Niemals hatte er ihrer großen Jugend vergessen und es stets einzurichten gewußt, daß dieser trotz des ländlichen Wohnsitzes alles Recht wurde. Zart und mild, in unendlicher Rücksicht, hatte er vor sieben Jahren dieses Kind ins Neuland der Liebe zu geleiten versucht. Das aber blieb ihr dennoch fremd. Auf seiner Schwelle blieb sie stehen und starrte mit entsetzten Augen in rätselhafte, purpurfarbene Wellen und in diese fremde, lodernde Glut, die da drüben aufflammte. Wenn sie sich des Nachts aufsetzte, blaß, oft verweint, und im Mondlicht das gütige, feine Gesicht ihres Mannes sah, voll froher Ruhe, dann schwand auch der zornige Schmerz in ihr, die jähe Zerrissenheit, und sie fühlte die Seligkeit des Opfernden einem lieben Menschen gegenüber. Dem liebsten Menschen! Und sie gab und gab mit vollen Händen. Sie geizte nicht! Sie entzog nicht! Und wie ihr mädchenhafter Leib, – der sein weißes Gewand der Keuschheit so ungern eintauschen wollte gegen das farbenglühende der Liebe, – zur zweiten Mutterschaft gelangt war, da fühlte sie nicht minder wie das erste Mal die heiße Freude, die unendliche Wonne, die kein Mann jemals zu verstehen vermag. Alles Unerfüllte und Brachliegende an ihren heimlichen inneren Schätzen ergoß sich in veränderter Gestalt über die beiden kleinen Wesen, für die sie lebte mit jeder Faser ihres Herzens. Nun hatte auch sie das Hohe errungen! Und so konnte sie die Hand ihres Mannes fassen und sagen: »Ich bin glücklich!«

In den hohen Espen lebt und webt es. Weit, weit, am Saum des Horizontes fast, zieht eine Schar schwarz scheinender Vögel gen Süden. Dann fallen Gertruds Augen auf ihre Hände, die sie gegen das Licht hält. Rot schimmert darin, unter den blanken, länglichen Nägeln das Blut. Sie muß die Lider schließen vor der blendenden Sonne. Ein zartes Netz silbriger, weicher Fäden schwebt über ihr und von ihr weg, einen einzelnen, langen, wie ein verlorenes Haar nachschleifend. Sie hascht danach, wie er ihre Wange streift. Da! Sie horcht auf. Der Wind weht ferne, verlorene Töne daher. Musik! Bald lauter, bald leiser: deutlich erkennt nun die junge Frau eine rhythmische Tanzweise. Der Wind breitet die Schwingen und führt die Töne voll herauf. Sie richtet sich halb empor; prickelnd fährt es ihr in die Glieder. Die sanfte Müdigkeit, die sie eingesponnen, ist vorüber. Ein Wohlgefühl zugleich mit einem seltsamen leisen Weh ergreift sie, und ihr Blut rollt schneller. Mit großen, heißen Augen schaut sie hinüber nach Sardennen, wo sie Kirmes feiern. Kirmes, – Tanz. Sie wiegt sich. Wie lange hatte sie nicht mehr getanzt! Und wie war sie immer mit voller Seele dabei gewesen, so leidenschaftlich ihm hingegeben, und dabei doch so völlig gleichgültig gegen des Partners Person, wenn er nur ein hervorragend guter Tänzer war. Sie besinnt sich, – besinnt sich noch eine Weile, dann kommt neues Leben über sie. Gleich darauf rast der kleine, niedrige Wagen über das wellige Heideland, daß unter seinen Rädern und des Ponys Hufen Steine und krachende Zweige auffliegen. Ein Katner hat Mühe, seinen Hund zu beruhigen, der dem Gefährt wütend nachkläfft und hinterherrennen will.

Am Eingang zur Scheuer lehnt dann Gertrud Halliger und blickt hinein in das Gewühl der Tanzenden. Sardennen ist ein größeres Dorf in dessen Nähe keine Fabriken sind. Die Leute gelten, obwohl der Grenze Polens so nahe, für ruhig, solide und friedliebend. Das fremde Blut, das in den Adern vieler fließt, rebelliert nicht sonderlich. Es wird nicht mehr getrunken wie anderswo, und von Mord und Totschlag ist keine Rede, wenn auch ab und an eine Keilerei harmloser Art stattfindet. Eine einzige Liebhaberei haben sie: den Tanz! Erfinderisch schaffen sie sich Feste, ihm zu fröhnen, und er ist's, dem sogar die Fleißigsten manche Arbeitsstunde opfern. Zu einer wahren Kunst haben sie's darin gebracht. Für die Alten und Gebrechlichen ist es eine Lust, den Tanzenden wenigstens zuzusehen, wenn sie sich selbst schon nicht mehr darunter mengen können. Die Musik lassen die Leute sich etwas kosten. Ihnen genügt lange nicht, was denen drüben in Schield oder Unsingkadenen ausreicht. Eine Scheuer wird ausschließlich für die Lustbarkeit benutzt. Die jungen Burschen haben sie geschickt eingerichtet mit Holzbänken und Tischen auf den Seiten, so daß die Mitte ganz frei bleibt. Für die Laternen ist auch gut und sicher gesorgt; die strengste Feuerwache kann ihnen nichts anhaben.

An der jungen Frau bebt jede Fiber, wenn sie von den flatternden, bunten Bändern, die in die langen Zöpfe der Mädchen geflochten sind, gestreift wird. Es ist ein trefflicher Menschenschlag, und selten sind plumpe Leute darunter. Staub wirbelt auf unter den stampfenden Tanzschritten, die sie bei einer polnischen Mazurka machen. Endlos währt diese. Dann bricht die Musik jäh ab. Es ist aber bloß ein Spaß der Musikanten. Alle Leute stehen verblüfft, regen kein Glied, um dann in schallendes Gelächter auszubrechen. Auch Gertrud wird davon angesteckt.

Zum Tor herein flutet goldenes Licht, Tauben gurren droben auf dem Dach und kommen pickend mit den frechen Spatzen bis an die Schwelle. Draußen ist's wunderbar ruhig, – kein Mensch geht auf den Wegen. Die Tiere scheinen alle zu schlafen. In flammendem Rot und Gelb fällt still das sterbende Laub der Bäume herab, und es ist, als sprühten Funken davon. Und darüber eine große Frische, Helligkeit und Bläue, – als sei es Lenz, der Hoffnungen weckt und selige Träume!

Heiß und veratmend steht das junge Volk. Der Schweiß rinnt über die roten Gesichter. Aber die Fröhlichkeit ist noch ohne Ausschreitungen, und die allgemeine Lust ohne Roheit. So, als ob ihnen alles dahinschwände vor der reinen Freude am Tanz. So leicht kennt niemand hier in Sardennen die Frau von Seedland. Hat einer oder der andere sie auch einmal zu Pferd oder Wagen gesehen, so schwand die Erinnerung allzuschnell, um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Man hält Gertrud, die in dem schwarzen Rock, der weißen Bluse, und ohne Hut so einfach aussieht, stillschweigend für eine bessere Bedienstete des nächsten Gutes, dessen Herrschaft erst Weihnachten in die Stadt ziehen will. Keiner hat auch viel Zeit, auf die Fremde zu achten. Je größer die Anzahl der Zuschauenden, desto besser. Das spornt nur an und unterhält. Eifersüchtig sind die Mädels auch nicht auf das spinnige Ding. Jede hat ihren Schatz, oder auch mehrere, und die Burschen sind etwas Handfesteres gewöhnt. Außerdem sind übergenug Tänzer vorhanden und man gönnt es jedem, der mittun will. Einer in hohen, glänzenden Stiefeln, die mit weißen Steppnähten verziert sind, hat schon längst die feine Fremde aufs Korn genommen. Jetzt, wo ein Walzer zart und schmelzend intoniert, sieht er, wie es deren schlanken, prächtigen Leib zu elektrisieren scheint. Er ist Kenner! Totsicher fühlt er es an den leisen, unbewußten Bewegungen, daß die was kann. Er hat seine Militärjahre in Berlin abgedient und ist kein Schüchterner: »Na, Fräuleinchen, wie wär's? Wollen Se mal rankommen? Das 's nochmal 'n Walzer, nich? Der hat sich jewaschn!«

Er hat sie schon im Arm. Gar kein Gewicht spürt er, und fühlt doch Kraft, Blut, Leben. Heidi! Wie geht's dahin! Erst die noch leere Scheuer entlang, daß die Zuschauer zurückweichen. Die zum Tanze Antretenden zögern fast, um dem Paar Nachsehen zu können. Von einem Sitz klatscht ein alter Mann mit knallroten Bäckchen und silbrigem Bart- und Haupthaar lebhaften Beifall. Dann tanzen sie langsamer, kunstvoll, in zierlichen Schritten, der Musik und dem Rhythmus angeschmiegt, hinschmelzend in einer Lust ohnegleichen. Wie Eins fühlen sich die zwei jungen Leiber. Es macht durchaus keinen Unterschied, daß er ein Bauernbursche aus Sardennen, sie eine Dame der Gesellschaft ist. Gertrud fühlt gar nichts als eine unsägliche, kindliche Wonne. So, als löse sich in ihr etwas, als würde sie frei, federleicht, froh, so unendlich froh! Es ist, als hätte nun ihr Körper etwas, was er bis jetzt entbehrt hatte. So meint sie noch nie getanzt zu haben, je zuvor, auf irgend einem der Bälle ihrer Vaterstadt, oder bei ihren Gastrollen in Berlin, die sie von Seedland aus gegeben. Sie strahlt nur so, und ihre Augen glänzen. Ganz verliebt schaut der junge Mensch auf ihr schimmerndes Haar herab, aus dem ihm ein fremdartiger, berückender Duft entgegenweht. Fester drückt er sie an sich. Sie weiß es gar nicht. Kaum halten sie ein wenig inne, kommen schon andere Burschen, Gertrud zum Tanz zu bitten. Sie sagen ihr die plumpsten Schmeicheleien, und nicht nur über ihre Tanzkunst. Aber der erste läßt keinen lange heran. Er fühlt sich vollkommen König, weil er hier keinen eifersüchtigen Schatz zu befürchten hat. Der seinige ist eben auswärts in einem Dienst. Leichtsinnig schnuppert der Bursche nur so herum und nimmt, wie die großen Herren, was ihm gerade wert dünkt. Und weiter geht der Tanz, wild oder sanft, einfach und kunstvoll.

Die Sonne ist schon nahe am Sinken. In der Scheuer liegt ein violettes Licht, draußen aber breitet sich ein kalter, grauer Ton. Man pausiert. Die Mädchen machen sich an den Laternen zu schaffen, die Burschen wälzen ein Faß herein mit hellem Bier. Wieder andere schleppen Schragen und Bretter herbei, um Tische und Bänke zu vermehren. Gertrud ist es, als erwache sie aus einem heiteren Traum. Ihr Tänzer war eben von einer Gruppe junger Burschen zu irgend einer Hilfeleistung herangezogen worden. Sie streicht das feuchte Gelock aus der Stirne, und benutzt die allgemeine Geschäftigkeit, um unbemerkt und eiligst zu verschwinden.

Ein Seufzen geht durch das Geäste und Gezweige der Bäume, wie es vor dem Regen durch die Luft zu ziehen pflegt. Die Lichter der Laternen, die in der Scheuer brennen, streiten sich mit der vergehenden Sonnenröte, die im Westen die Erde küßt, zum letzten Mal vor der Nacht. Die Frau von Seedland hat ihr Kleid als Mantel um die Schulter geschlagen. Sie eilt durchs Dorf. An dessen Ende ist eine Schenke, wo sie Pferd und Wagen eingestellt hatte. Ein winziger Junge versieht Knechtdienste. Sie wirft ihm ein Silberstück als Trinkgeld zu, das der Kleine mit einem hell aufjauchzenden Dank quittiert. Dann rast sie mit dem Gefährt von dannen, wie sie am Nachmittag gekommen. In den Gärten vor den Häusern Seedlands liegt grünliche Finsternis. Dazwischen leuchten noch helle Blumen auf. Hier und da sieht Gertrud, die nun Schritt fährt, ein Kinderköpfchen oder ein altes Gesicht, traulich beleuchtet, über einen Tisch gebeugt. Sie veratmet. Eine angenehme Müdigkeit liegt ihr in den Gliedern.

Im Haus brennt die Flurlampe schon. Gerade ist ihr Mann im Begriff, an jeder Hand ein Kind, nach seiner jungen Frau auszuschauen. Gar manchmal fährt sie mit dem Pony so über die Heide; so lange aber war sie noch nie ausgeblieben. Allein seine aufkeimende Sorge weicht, wie er in ihr fröhliches Gesicht blickt, das einen kindlichen Ausdruck trägt:

»Da bin ich!« Sie küßt Mann und Kinder. »Ich muß euch erzählen! So schön war es heute, – so schön!« Und halblaut flüstert sie Roland zu: »Einen lustigen Streich hab' ich auch ausgeführt.«

*

[Kapitelzählung im Buch fehlerhaft. Überschrift Neuntes und Zehntes Kapitel fehlen. Re.]


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