Paul Grabein
Der Ruf des Lebens
Paul Grabein

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Es klopfte an Marrs Tür, auf sein Herein stand Karl Gerboth vor ihm. Ein Staunen malte sich da doch auf seinen Zügen. Auf eine Botschaft von ihm, eine Einladung hinüberzukommen, war er wohl gefaßt gewesen, aber er in Person hier? Unwillkürlich tat er da ihm einen Schritt entgegen, der nun sprach:

»Ich bin gekommen, um Ihnen noch einmal zu danken. Vorhin war ja nicht groß Zeit dazu. Ich möchte auch jetzt nicht viel Worte machen, Sie wissen ja, was mir mein Kind ist – so lassen Sie mich Ihnen denn danken aus vollstem Herzen, daß Sie es mir wiedergebracht haben.«

Marr hob nur ein wenig die Hand; es lag eine gewisse Unsicherheit über ihm. Wußte denn der Meister von nichts? Sollte ihm Hilde noch nicht davon gesprochen haben?

Doch schon fuhr Karl Gerboth fort, und ernster noch ward sein Blick, der fest auf dem anderen ruhte.

»Ja – wiedergebracht haben Sie mir mein Kind und doch zugleich genommen!«

»So wissen Sie also doch?«

»Gewiß, Hilde hat mir alles gesagt.«

Ein Schweigen trat ein. Mit starker Spannung forschte Marr in den Zügen des älteren Mannes und nun sagte er:

»Darf ich wissen, was Sie Hilde erwidert haben?«

»Herr Marr,« und Auge suchte Auge, ein Hinabdringen bis in die allergeheimsten Tiefen der Seele, »ich mache kein Hehl daraus: Diese Entscheidung war wohl das Schwerste, was das Leben von mir gefordert hat – und ich habe schon mancherlei erfahren. Doch das ist ja nun vorüber, mein Entschluß ist gefaßt. Ich will dem Glück nicht im Wege stehn, das sich Hilde von der Vereinigung mit Ihnen verspricht. Ich habe es ihr gesagt, eben ehe ich sie verließ, und nun sollen auch Sie es wissen.«

»Herr Gerboth –!«

Eine Bewegung ging durch Marr hin, Antrieb und Widerstand; dann aber streckte er dem Vater Hildes doch seine Rechte entgegen mit einem warmen Sichgeben. »Ich weiß, was Ihnen das gekostet hat! Soll ich Ihnen nun meinen Dank versichern mit schönen Worten? Ich denke, es ist mehr in Ihrem Sinn, wenn es durch die Tat geschieht. Also – was an mir liegt, soweit es ein Glück gibt, Hilde soll es finden an meiner Seite! Das verspreche ich Ihnen in dieser Stunde.«

Fest hielt der Meister die Rechte umschlossen, die sich ihm dargeboten hatte.

»Ich nehme dies Wort als ein Unterpfand und vertraue ihm. So lege ich denn das Schicksal meines Kindes in Ihre Hand. Sei es uns allen zum Segen! – – Und nun, Günter Marr, gehen Sie hinüber, Hilde erwartet Sie.«

Ein stummer Druck, ein nochmaliges Ineinandertauchen ihrer Blicke, dann lösten sich ihre Hände wieder; aber Marr blieb, und ein ernster Ausdruck trat in seine Züge.

»Ein Wort noch, eine Bitte! Es handelt sich um Franz Hilgers. Er leidet offenbar schwer unter all dem, und es ist ihm nicht wohl zuzumuten, Zeuge unseres Glückes zu sein. Wäre es da nicht die beste Lösung, auch in Ihren Augen, was mir vorschwebt? Senden Sie Hilde für ein paar Wochen zu meiner Mutter, sie lebt in einem kleinen Landstädtchen drunten in Württemberg und wird sich keine größere Freude wissen, als die Braut ihres Sohnes kennenzulernen. Ich würde dann schon immer vorausgehen, und Hilde könnte nachkommen, mit der nächsten Gelegenheit. So könnten wir den Rest meines Erholungsurlaubes im Haus meiner Mutter zusammen verleben, ohne doch damit einem Dritten die Wunde immer wieder von neuem aufzurühren. Wenn Hilde dann zurückkehrt, allein, wenn ich wieder draußen bin, so ist Franz Hilgers über das Schlimmste hinweg. Halten Sie diesen Ausweg nicht auch für den besten?«

Ein kurzes Sinnen, dann nickte Karl Gerboth zustimmend.

»Sie haben wohl recht. Ich bin auch damit einverstanden und will Franz Hilgers gleich von diesem Beschluß in Kenntnis setzen, wenn ich jetzt zu ihm gehen werde.«

»Sie wollen zu ihm,« unschlüssig sah Marr einen Augenblick vor sich hin, »auch ich hatte daran gedacht. Aber ich bin im Zweifel – nach seinem ganzen Verhalten vorhin gegen mich muß ich fürchten, es würde ihm nur eine neue Aufregung bedeuten, was ich ihm gern sagen möchte. Da ist es denn wohl besser, die Zeit auch hier ihr Werk tun zu lassen, und ich bitte Sie denn nur: Bringen Sie ihm meine Grüße und besten Wünsche, von ganzem Herzen, und ich hoffte, daß, wenn uns einmal ein Wiedersehen beschieden sein wird, wir uns trotz allem die Hand drücken können – ohne Groll.«

»Ich werde ihm alles sagen.«

»So gehe ich denn nun zu Hilde!«

Hell flog es wieder über Marrs Mienen, und lebhaft wandte er sich zur Tür.

Eine Weile blieb Karl Gerboth noch allein mit sich. Ganz ruhig und still sollte erst bei ihm selber alles werden, ehe er hinüberging zu dem Leidenden, um ihm Trost zu bringen.

Dann trat er bei Franz Hilgers ein. Er fand diesen im Bett vor. Mit einer matten Bewegung, wie mit einer Entschuldigung, hob er den Kopf von den Kissen, als er den Meister eintreten sah.

»Ich hatte solche Schüttelfröste und war elend zum Umsinken. Ich dachte ja auch nicht, daß Sie, Meister . . .«

»Doch nur selbstverständlich, mein lieber Franz, das einzig Richtige so, und Sie bleiben mir ganz ruhig liegen! Ich werde mich zu Ihnen setzen,« er zog sich einen Stuhl heran, »und nun lassen Sie mich doch einmal sehen, was denn eigentlich mit Ihnen ist. Ich bin ja so ein halber Medizinmann geworden hier oben, vielleicht kann ich Ihnen doch auch mit meinen Künsten ein bißchen zu Hilfe kommen. Zeigen Sie mir doch einmal Ihren Puls.«

Aber Franz Hilgers wehrte ab hastig – bedrückt.

»Nein, nein – vielen Dank – aber es ist wirklich nichts weiter als nur ein bißchen Ueberanstrengung. Das gibt sich schon wieder von selbst.«

Und er wandte das Haupt zur Seite ins Dunkel.

Der Meister betrachtete ihn eine Weile schweigend. Er war gewöhnt, in dieser Seele zu lesen wie in einem offenen Buch. So wußte er denn auch jetzt, wo die Wurzel dieses Leidens saß. In mitleidsvollem Verstehen, mit einer tiefen Güte strich er da dem Kranken über die heißen Schläfen.

»Armer Franz!«

Der Leidende zuckte zusammen unter dieser Berührung, und als sich die tröstende Hand da nur noch sanfter um seine Stirn legte, wie um ihm Ruhe und Linderung zu geben, stöhnte er auf in tiefster Qual, und plötzlich brach es von seinen Lippen, während er das Antlitz immer noch zur Wand gekehrt hielt:

»Ich verdiene Ihre Güte nicht, Meister – ich bin ihrer unwert!«

Verwundert blickte Karl Gerboth auf ihn nieder.

»Wie können Sie so sprechen, Franz? Sie!«

»Doch, doch! Sie wissen nicht, Sie ahnen ja nicht . . .«, und mit einer fiebrig erregten Bewegung warf er sich jetzt herum, ins Licht. Mit weitaufgerissenen Augen, in denen ein Grauen vor sich selber stand, bekannte er dem Meister: »Ich bin beladen mit schwerer Schuld – mit einer furchtbaren Gedankensünde! Vielleicht nur an einem Haar hing es, und eine Blutschuld lastete jetzt auf meiner Seele!«

»Franz!«

»Ach, Meister . . .!« Und der Kranke fuhr plötzlich empor aus den Kissen, seine eiskalten Hände umklammerten die Gerboths. »Heut, draußen auf dem Gletscher – wie ich mit ihm so allein war – da hab' ich es gedacht, gewollt: Ruhig hineinlaufen lassen wollt' ich ihn in sein Verderben – in seinen Tod! Erst im allerletzten Augenblick noch kam mein Warnruf. Dessen bin ich fähig gewesen – nun wissen Sie alles, Meister, und nun verurteilen Sie mich.«

In völliger Erschöpfung, in tödlichem Ermatten nach diesem Ausbruch, sank der Kranke in seine Kissen zurück. Regungslos lag er dort.

Lautlos still war es in dem Gemach. Mit tiefgeneigtem Haupt saß Karl Gerboth an der Lagerstatt, nun aber hob er langsam den Kopf. Sein Blick traf den Leidenden, dessen Auge an seinem Munde hing, als käme von dort der Richterspruch über Leben und Tod. So sprach er nun mit allertiefstem Ernst:

»Mein lieber Franz – ich habe es Ihnen so manchmal gesagt, wenn wir über diese Dinge sprachen: Wie ich das Leben sehe, ich kenne keine Schuld. Was da geschieht mit uns, es sind Notwendigkeiten. Wir gehorchen den Gesetzen unserer Natur. Darum kenne ich auch kein Richten. Aber selbst wenn ich dazu berufen wäre, ich würde Ihnen sagen in dieser Stunde: Erheben Sie Ihr Haupt wieder frei vor sich selber und vor anderen! Im Kampf mit Ihren Trieben hat ja doch die Lauterkeit gesiegt, der Anstand Ihrer Gesinnung. Wenn auch im letzten Augenblick zwar, es geschah doch rechtzeitig noch. Also – was quälen sie sich? Für die dunklen Triebe, die die Natur in uns pflanzte, sind wir ja nicht verantwortlich; nur dafür, daß wir sie unterdrücken, um uns selber achten zu können. Nichts denn von Reue! Reue ist etwas Unfreies, und darum Niederes und Häßliches. Der hochgemute Mensch kennt nur eines: Einsicht in das Rechte und den festen Willen zu diesem Rechten. Diesen Willen stärken Sie sich mehr und mehr. Jener Augenblick des Schwankens heut, er sei Ihnen also kein Anlaß zu sinnloser Selbstzerfleischung, nein – zum ruhig-ernsten Aufrichten in dem Bewußtsein Ihres trotz allem überlegenen besseren Willens!«

»Meister!« Wie in einer Erlösung leuchtete es aus Hilgers' Blicken. »Sie verwerfen und verweisen mich also nicht? Ich darf bleiben bei Ihnen – auch fernerhin?«

»Aber ja doch, Franz, was fragen Sie nur so?«

Ein leiser, dumpfer Laut, wie ein unterdrücktes Schluchzen, brach von Hilgers' Lippen, und diese preßten sich nun, noch ehe Gerboth es hindern konnte, auf die gütige Hand des Meisters.

Unwillen regte sich im ersten Erstaunen bei Karl Gerboth. Aber er sah ja: Er hatte es wirklich mit einem Kranken zu tun, der zudem von einem schweren inneren Erleben aufgewühlt war bis in die Grundfesten seines ganzen Wesens. Da entzog er ihm nur langsam die Hand und drückte den Aufgeregten sanft in die Kissen zurück.

»Ruhig werden, Franz – ganz ruhig.«

Wie zu einem kranken Kinde sprach er mit ihm. Und während er so saß am Lager Franz Hilgers', der sich allmählich nun wieder frei fühlte von der zerschmetternden Last, kamen ihm Gedanken, die ihm selber etwas wie Trost und Erleichterung brachten. Eine seltsame Stunde: Da strebte fort von ihm, was nach den Banden des Bluts zu ihm gehörte, und hier klammerte sich an ihn flehentlich, als an den einzigen, rettenden Halt, etwas Fremdes.

Fremd? Das Auge des Meisters ruhte sinnend auf dem Liegenden, und warm stieg es dabei in ihm auf. War ihm dieser hier wirklich noch ein Fremder? War Franz Hilgers ihm denn nicht ans Herz gewachsen in den Jahren vertrauten Zusammenlebens, in denen dieser ihm seine Treue und Anhänglichkeit, seine verehrende Liebe täglich und stündlich bewiesen hatte, wie es sein eigener Sohn nicht hingebender hätte tun können? Da brach es in Karl Gerboths Herzen, das sich in schmerzlicher Vereinsamung hatte verschließen wollen in dieser herben Stunde, durch wie sieghafte Frühlingssonne, und er nahm diesen Schwachen, Irrenden und doch Strebenden an sich mit all der verstehenden Güte und Nachsicht eines Vaters. So beugte er sich denn nun über ihn hin und leise sprach er, fast feierlich klang es:

»Eine Tochter nahm mir dieser Tag heute – nun soll er mir dafür einen Sohn geben; es war ja schon längst beschlossen zwischen uns. Wenn es nun auch nicht sein wird, wie wir es uns einst gedacht hatten, als Mann meines Kindes, so soll es dennoch geschehen; denn du gehörst zu mir – hast dir ein Heimatsrecht erworben, in meinem Hause wie in meinem Herzen. So sollst du denn bei mir bleiben, jetzt und immer, wenn es dich wirklich danach verlangt.«

»Meister – Vater!« Franz Hilgers' Hände umklammerten ungestüm die Rechte des verehrten Mannes. »Was wüßte ich mir Lieberes?«

»Sei es also – teile denn meine Einsamkeit mit mir; dann, wenn Hilde gegangen sein wird, teile mein Denken und Schaffen. Stille Wege werden es sein, die wir zusammen wandern werden, aber ich vertraue, sie sollen uns aufwärts führen – zur Höhe!«



 << zurück weiter >>