Paul Grabein
Der Ruf des Lebens
Paul Grabein

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Am Morgen darauf war es. Zu früher Stunde schon saß Hilde am Fensterplatz ihres Zimmers, aber die Näharbeit war ihren Händen entsunken. Die Blicke waren ins Freie hinausgerichtet mit einem Ausdruck des Wehes. Man sah es ihrem Antlitz an, daß ihr der Schlaf in dieser Nacht fern gewesen war.

Ihm galten ihre Gedanken, mit dem sie gestern das Lebewohl getauscht hatte. Ihr Blick suchte die Stelle, wo drüben durch das Grün der Bäume der Giebel des Kuratenhauses lugte. Da weilte er nun heut zum letztenmal. Ja, vielleicht war er schon dabei, sein Bündel zu schnüren, nun wieder hinauszuziehen in die weite Welt. Einsam schritt er dann wieder den Weg zurück, den er gekommen war – ach, daß sie ihm doch hätte das Geleit geben können! – und zog hinaus ins Ungewisse, der grauen Zukunft entgegen. Wie würden ihm die Lose fallen und damit ihr selber?

Wohl hatten sich gestern ihre Hände ineinandergeschlungen mit dem Gruß vertrauender Zuversicht. Aber wer bürgte für die Erfüllung solchen Hoffens? In die weite Welt, in ein Leben voller Ernst und Gefahren ging er hinaus, wer wußte, für wie lange noch, und sie blieb zurück mit all ihrem Sorgen und Bangen.

Aus solchem ernsten Sinnen weckten Hilde Gerboth Stimmen drunten vorm Haus. Unwillkürlich horchte sie durch das offene Fenster hinaus. Sie hörte, wie jemand zur Magd sprach: ein Mann, aber keiner aus dem Dorf. Ein fremder Dialekt war es, wie die Leute zu sprechen pflegten, die von drüben über das Joch, aus den Tälern jenseits kamen. Und nun vernahm sie auch die Stimme des Vaters, der inzwischen dazugetreten war. Aufmerksam noch lauschte sie da hinaus. So verstand sie denn jetzt noch deutlicher, was der Mann drunten erzählte. Ja, sie merkte nun auch, wer es war: Einer der beiden Schafhirten von der Rotmoosalm, und erzählte, wie sein Kamerad droben krank sei, ja sogar recht krank.

Seit Tagen schon hatte er sich nicht wohl gefühlt, aber gestern sei es so schlecht mit ihm geworden, daß er nun bettlägerig sei und nicht mehr aufkönne. Da sei er denn zu halber Nacht noch von der Alm herunter hier ins Dorf geeilt, um Hilfe zu holen – trotzdem die Herde droben nun ganz ohne Aufsicht sei. Beim Kuraten sei er vorgesprochen wegen Arznei und Stärkung für den Kranken. Aber der geistliche Herr sei ja auch fort, wie all die anderen heut schon zu früher Stunde, hinunter nach Halden zum Markt. So habe ihn die Schaffnerin hierhergeschickt – der Herr Gerboth werde schon Rat wissen.

»Wollen sehen, Birnbacher. Kommt nur herein, ich will Euch gern geben, was ich für den Fall etwa im Haus habe. Was fehlt denn Euerem Kameraden?«

Das Weitere hörte Hilde nicht mehr, denn der Hirt war nun mit dem Vater ins Haus getreten. Doch das Mitleid wurde in ihr rege. Sie kannte ja auch den Kranken gut, sie war schon ein paarmal droben bei ihm auf der Alm gewesen und hatte dann jedesmal mit ihm geplaudert. Ein stiller, freundlicher Mann war es, schon bei Jahren, und hatte eine zahlreiche Familie drüben in seinem Heimatdorf. Da trieb es sie hinunter, ob nicht auch sie helfen könnte. Sie kam gerade dazu, wie der Vater dem Boten die Arznei aushändigte und ihm Anweisungen erteilte. Auch Umschläge sollte der Kranke machen, warme Umschläge um die Brust, die alle halbe Stunde erneuert werden müßten. Aber der Hirt schüttelte den Kopf:

»Ja, das wird halt schlecht angehn. Ich kann die Herde nit noch länger ohne Aufsicht lassen. Es heißt aufpassen droben auf dem Rotmooskogel. Schon manch Stuck hat sich da verstiegen und verfall'n in den Schründen. Es hat mi halt so scho' mei' G'wissen arg gedruckt, daß i gar so lang wegbleib'n mußt'; aber es war doch Christenpflicht gegen den Kranken.«

Hilde hörte es und trat nun zu den beiden heran. Bittend sah sie zu dem Meister auf.

»Wenn du nichts dawider hättest, Vater, so möchte ich den Birnbacher wohl begleiten hinauf auf die Alm. Dann könnte er nach seiner Herde schauen und ich nach dem Kranken, und der hätt' seine Ordnung und Pflege.«

Karl Gerboth nickte nach kurzem Ueberlegen. Es war ja nicht das erstemal, daß sich die Tochter in dieser Weise nützlich machte, und er hatte es gern, wenn sie es tat. Zudem, sie kannte ja auch Weg und Steg, und Rolf war bei ihr, der Bernhardiner. So sah der Meister sie denn freundlich an. Ihr blasses Aussehen fiel ihm dabei auf. Ja, ja – gestern! Da strich er gütig über ihr Haar.

»Recht so, Kind, geh hinauf mit dem Birnbacher und spring seinem Kameraden bei!« Und er dachte dabei: Es wird ihr gut tun, sie ablenken, hinwegbringen über diesen ersten Tag, der ja gerade der schlimmste war. »Also richt' alles geschwind, was du brauchst zu deinem Samariterwerk, und wart' – auch ein Fläschchen Wein will ich dem Birnbacher noch mitgeben zur Herzstärkung für den Kranken.«

Dann war alles bereit, und Hilde ging mit dem Hirten. Der Hund war der Dritte im Bunde. Im Vorüberkommen am Kuratenhaus zuckte es freilich noch einmal schmerzlich in Hildes Brust zusammen; dann aber wandte sie den Kopf tapfer geradeaus und hielt sich wacker neben dem langen Birnbacher, der mit weitausholenden Schritten den Weg neben ihr durchmaß. So kamen sie rasch zum Dorf hinaus und stiegen bergan.

Geraume Zeit wanderten sie schon. Nunmehr kamen sie an die Stelle, wo sich der Weg gabelte. Zwei Möglichkeiten gab es hier: entweder den Pfad zu wählen durch den Talgrund, stark hinab, drunten zum Steg über den Gletscherbach und dann wieder hinauf den steilen Hang jenseits zur Alm. Aber lang war dieser Weg und mühselig. Die Leute hier wählten daher gewöhnlich den anderen Pfad, der oberhalb des Abbruchs des Planferners über diesen hinführte, und auch der Hirt schritt nun mit seiner Begleiterin dort zu. Da sparte man gut eine Stunde. Freilich hieß es ein wenig aufpassen, denn der Gletscher hatte viele Spalten. Aber sie kannten ja alle beide den Weg. Auch Hilde war ihn schon oftmals gegangen, allein sogar. Ohne Bedenken wählten sie denn also jetzt diese Abkürzung, und auch Rolf trottete wie auf wohlbekanntem Steg vor ihnen her, den Fußtapfen früherer Wanderer folgend, die sich hier und da im Firn des Gletschers erhalten hatten.

Glatt kamen sie denn auch hinüber. Aber wie sie nun schon auf der Rotmoosalm waren und sich der Hütte näherten, blickte der Hirt, der bereits mehrfach den Himmel gemustert hatte, abermals zu den grauen Wolken empor, die sich da droben allmählich zusammenzogen zu einem schweren Vorhang, der sich immer tiefer hinab über die Bergflanken senkte.

»Sell gefallt mir nit, ganz und gar nit!«

Und nun plötzlich stutzte er, blickte mit den hellen, bergkundigen Augen scharf in die Ferne, nahm aber dann zur Sicherheit doch noch das Fernrohr aus der Tasche und beobachtete so mit gespannter Aufmerksamkeit irgend etwas weit drüben am Steilhang des Rotmooskogels. Auch Hilde sah hinüber, und es schien ihr, daß sich da ein paar dunkle Punkte auf den sonnengebleichten Felsrippen zwischen den dunklen Schründen des wildzerrissenen Berggrats bewegten.

»Was gibt's denn da, Birnbacher? – Gemsen?«

»O na – wenn's die wär'n, nachher möcht's schon gu'et sein; aber es san koane Gamsen nit – Schaf' san's, an drei Stuck, von meiner Herd'n. I hab' mir's ja glei' denkt heut morgen in der Fruah, als i fort mußt, daß es etwas geben werd' droben. Nu is's denn halt so kimma. Ist mir das Malefizviech richtig aufig'stieg'n auf den Grat und findet nun nimmer wieder herab. Und obenein das Wetter noch!« Wieder sah er auf die düster drohenden Wolken. »Es gibt ganz offenbarlich heut noch was. Einen argen Schneesturm werd'n ma ha'm, i moan, es soll halt koa Stund' mehr währ'n. So kann's denn nix helf'n: 'nauf muß i und dös alsbald, daß i das Viech noch derwisch, eh' daß ein Unglück g'schie'cht mit eam.«

»Ja, wenn's so ist, Birnbacher, dann geht nur gleich! Verliert ja keine Zeit mehr. Ich find' mich gut allein zurecht und werd' schon sorgen für Euren Kameraden. Gebt nur rasch her, den Wein und was Ihr sonst noch in der Tasche habt für ihn.«

»Ist scho' recht«, nickte der Birnbacher, schob sein Fernrohr wieder zusammen und reichte Hilde das Gewünschte hin. »Dann also pfüet di Gott, Freila!«

Treuherzig streckte er ihr zum Gruß die arbeitsharte Hand hin und stieg dann bergan mit langen, eiligen Schritten.

Auch Hilde ging schneller zu, und bald sah sie die Hütte vor sich auftauchen. Ein Bau von Steinen und Rasenstücken kunstlos gefügt, wie verloren auf der einsamen Hochalpe. Aber frommer Glaube hatte die dürftige Behausung unter den Schutz himmlischer Gewalten gestellt. Drei von den Hirten geschnitzte Holzkreuze auf dem niederen, steingedeckten Dach und drei Kreidekreuze an der Tür mit den Namen der heiligen drei Könige sollten den Bau und seine Insassen gegen die Gewalten der Bergdämonen schützen.

Hilde Gerboth trat ein durch die niedere Tür, tief mußte sie sich dabei bücken, und ein eigener Hauch schlug ihr nun aus der Finsternis drinnen entgegen – eine Mischung von Herdrauch, Tabaks- und Schlafgeruch. Allmählich erst unterschied ihr Auge die Dinge hier drinnen in dem Dunkel der fensterlosen Hütte, das nur der spärliche rote Schein von der Feuerstätte an der Rückwand ein wenig lichtete. Der Rauch der dort auf offener Steinplatte knisternden Holzscheite zog kräuselnd zur Decke empor und suchte sich dann seinen Abzug in dem Spalt oberhalb der Tür. Rußgeschwärzt und speckig glänzend waren daher Seitenwände und Dachbalken des Raums. An diesen hingen zwischen einer Speckseite und einem Büschel geweihter Palmen ein paar Holzschnitzereien, der einzige Zeitvertreib der Hirten hier in ihren Feierabendstunden: ein Vogel, der mit ausgebreiteten Flügeln an einem Faden schwebte, und eine Teufelsfratze mit Hörnern und lang vorgestreckter Zunge.

Die rote Glut der Feuerstätte fiel ein Stück über den Boden hin und geisterte hier und da an den Wänden der Hütte, wo die Ritzen zwischen der Steinfügung mit Rasen zugestopft waren. Eine Behausung, ursprünglich, wie sie ähnlich schon zur Höhlenzeit Menschenhände errichtet haben mochten. Ein Hauch des Feuerscheins spielte auch um die Lagerstätte an der einen Längsseite: eine Streu von Gezweig, darüber ein Lodenmantel gebreitet, das Ganze von Steinen umhegt. Dort lag nun der Kranke, trotz seiner Leiden und Verlassenheit still und geduldig.

Hilde begrüßte ihn und sprach ihm Trost zu. In ihrer frischen und herzlichen Weise. Es war, als ob plötzlich ein lichter Sonnenstrahl belebend ins Dunkel dieser kümmerlichen Behausung fiel. Dann machte sie sich an ihr Samariterwerk, ging zum rohgezimmerten Wandbrett drüben, wo in Zinn- und Holzschüsseln Schafmilch, Käse und hartes Brot lag, der ganze Speisevorrat der Hirten während ihres Sommerlebens hier, nahm einen sauberen Holznapf, gab dem Kranken Arznei und Wein und bereitete mit flinken Griffen am offenen Herdfeuer alles für die Umschläge vor, die sie dann ihm anlegte und in der angemessenen Zeit immer wieder erneuerte. Und es tat dem Leidenden gut, die Schmerzen ließen nach, er fühlte sich befreiter und sank endlich in einen wohltätigen Schlaf, aus dem er nur hin und wieder aufdämmerte, wenn die Pflege es erforderte.

In der Zwischenzeit saß Hilde als sorgsame Hüterin gegenüber seiner Lagerstatt auf der Rasenbank. Nun, wo ihr Pflegling im Schlummer lag, waren ihre Gedanken ja wieder frei. Da nahmen sie ihren Flug hinab zu Tal nach Glurns, hin zu Marr. Jetzt war er gewiß wohl schon aufgebrochen und wanderte seinen Weg zur Ferne, aus der er gekommen war, seinem Schicksal entgegen, das ach so ungewiß war!

Schwer und bang wurde ihr wieder ums Herz, so daß sich ihre Hände falteten, unbewußt, wie in einem stummen Flehen zu den dunklen Gewalten des Lebens: laßt ihn mir doch wiederkehren, gesund und unversehrt, in all seiner frohen Kraft, ihn, der mir so lieb geworden ist! Lange saß sie so.

Aus ihrer Versunkenheit störte sie der Hund zu ihren Füßen auf. Schon seit einer ganzen Weile war er unruhig gewesen, hatte den Kopf witternd gehoben und dann leise winselnd gegen ihre Knie gedrückt, wie in einer geheimen Angst und Mahnung. Sie, in ihren Gedanken, hatte es aber nicht weiter beachtet. Nun jedoch schreckte sie auf, denn ganz unvermittelt heulte Rolf plötzlich los – laut und klagend. Da fuhr sie empor, jetzt selber geängstigt. Das tat das treue Tier nur, wenn Gefahr drohte. Was war da also?

Eilends lief sie zur Tür, aber kaum, daß sie sie geöffnet hatte, riß es ihr plötzlich den Griff mit wüster Gewalt aus der Hand und schmetterte die Tür krachend gegen die Außenwand der Hütte – ein Windstoß von ungebärdiger Wildheit. Ihr erschreckter Blick gewahrte nun auch, wie draußen auf der steinigen Alm eine gelbgraue Wolke tanzte, in rasendem Wirbel – vom Sturm aufgepeitschter Staub. Tiefste Dämmerung war es zugleich mit einem Male geworden, der Himmel ringsum verfinstert. Nebel umdrängten die Alm und die Hütte. Keine zwanzig Schritt weit mehr konnte sie sehen, und eine eisige Kälte wehte sie mit dem auftobenden Winde an.

Sofort übersah Hilde die Lage: der Birnbacher hatte recht behalten mit seiner Prophezeiung vorhin, das Wetter zog herauf – nicht lange mehr, und auch der Schnee war da!

Was nun? Ihr erster Gedanke war natürlich, hierzubleiben und abzuwarten. Aber das konnte lange dauern –, sie kannte das ja. Bis zum späten Abend, vielleicht sogar die Nacht hindurch konnten Sturm und Schneetreiben anhalten. Dann saß drunten der Vater und ängstigte sich ihretwegen. Noch einmal blickte sie da um sich. Es war nun wieder still. Nur eben ein Windstoß war's gewesen, ein Vorbote des Unwetters erst. Am Ende war dieses selbst doch noch nicht gar so nahe, und sie kam, wenn sie sich eilte, noch rasch zuvor über den Gletscher. Denn nachher war's ja nicht mehr schlimm. Da war glatter Weg, immer im Fels, nicht zu fehlen und zum Teil auch im Schutz der Talwände.

Ein kurzes Ueberlegen. Aber ihr Schützling da drinnen? Sie ging wieder in die Hütte. Der Kranke war wach geworden. Der Schlaf hatte ihn gekräftigt, sein Leiden hatte bedeutend nachgelassen, da redete er ihr nun selber zu: Um ihn hätte es keine Not mehr, es ginge ihm wieder gut, und bald sei ja auch der Birnbacher wieder da – also das Fräulein sollt' halt machen, daß es heimkäm' noch zur Zeit. Aber gleich, ohne Verzug, und gut springen müßt' sie schon, wenn sie es noch schaffen wollt'!

Hilde sorgte in aller Eile noch ein wenig für ihn und rückte ihm seine Arznei handlich ans Lager, dann nahm sie Abschied und brach auf. Mit größter Hast, der Hund immer vor ihr her, eilte sie die Alm hinab zum Gletscherübergang. War es auch neblig und sogar noch dichter denn zuvor, so fand sie doch zwischen dem Geröll den wohlbekannten Pfad heraus, der hier und da an der niedergetretenen Grasnarbe kenntlich war. Und Rolf lief ihr zudem ja auch als Pfadfinder voraus. Vorsorglich nur ein paar Schritt, daß sie ihn nicht im Nebel verlor, und alle Augenblicke wandte er überdies noch den Kopf zurück, zu ihr hin.

Ein Weilchen stiegen sie so talab, im Eilschritt, da schrak Hilde plötzlich zusammen: Aus dem Nebel tauchte es plötzlich vor ihr auf, fast unmittelbar vor ihr – ein riesiges, dunkles Tier im Pelz, abenteuerlich fremd anzuschauen. Sie erschrak aufs heftigste, und auch Rolf knurrte drohend mit grimmig gesträubtem Rückenhaar. Und da – noch ein zweites und drittes Ungeheuer solcher Art! Aber im gleichen Augenblick lachte Hilde auch schon hellauf – Schafe, die nur in der dicken Nebelluft so übertrieben groß erschienen. Die Herde war es, die, sich selbst überlassen, nun heimgelaufen kam, von dem Wetter geängstigt, um Schutz zu suchen auf der Alm bei Hütte und Menschen.

Im Weitergehen mußte sie da an den Birnbacher denken – so allein droben im Nebel am Rotmooskogel mit seinen wilden Schründen und Abstürzen. Um drei Schafe zu retten, setzte er sein eigenes Leben aufs Spiel. Ein armseliges Dasein! Günter Marr hatte neulich doch recht. Und es überkam sie ein Gefühl der Geborgenheit, daß sie den Hund bei sich hatte – es war ihr wirklich ein rechter Trost. Denn ein schlimmes Wandern war es schon hier, recht unheimlich sogar.

Alle paar Augenblicke fegte so ein schrecklicher Windstoß über die Halde. Immer ganz unvermittelt und mit einem Aufheulen wie ein wildes Tier, das heimtückisch aus seinem Versteck hervorbrach, um sie niederzuwerfen, das ihr an Kleid und Haaren zerrte, den Weg versperrte und sie abdrängen wollte vom rechten Pfad – hinunter den Hang, dem steilen Absturz zum Gletscherbach zu. Mühsam konnte sie sich da nur Schritt für Schritt weiterkämpfen. Aber endlich hatte sie doch die Stelle erreicht, wo sich die Alm zum Eisbett des Planferners hinabsenkte. Schon war sie im Schutt und Geröll der Moräne und tastete sich durch das Gewirr der Trümmer zurecht.

Aber da horch: Plötzlich ein seltsames, unheimliches Geräusch in der Ferne! Ein langgezogenes, schrilles Pfeifen, das rasend schnell näher kam und nun aufschwoll zu einem donnernden Gebrüll, einem prasselnden Krachen, als ob tausend Gewehrschüsse losgingen auf einmal. Sie schrak zusammen, und doch kannte sie diese Laute: Eine Steinlawine war niedergegangen droben, irgendwo an einem der Hänge jenseits. Klagend heulte auch der Hund auf und stand da, am ganzen Leibe zitternd, den Schweif eingeklemmt. Er, der doch mit den Bergen vertraut war, und sah sie geängstigt an, Hilfe suchend bei ihr.

Einen Augenblick griff ihr da der Schrecken ans Herz. Zum erstenmal kam ihr das Bewußtsein der Gefahr, das sie noch nie kennengelernt hatte auf all ihren Berggängen. Ein seltsames, schauriges Gefühl. Das Herz stockte ihr, und wie eine Lähmung ging es von dort aus durch ihren ganzen Körper, bis in jedes einzelne Glied. Die Füße versagten ihr den Dienst, standen wie angewurzelt, und die Knie zitterten ihr, als wollten sie zusammenbrechen. Aber nur einen Augenblick eben, dann war es wieder überwunden. Ihr Wille riß sie hoch – vorwärts und rascher nur noch! Und schon knirschte es unter ihren Tritten – die ersten von der Sonne ausgenagten Eisfetzen zwischen dem Geröll, sie war auf dem Gletscher selbst.

Aber inzwischen hatte es sich auch herangestohlen wider sie, immer näher und drohender. Aus allen Rissen und Schlüften, Schluchten und Tälern kam es gekrochen, ein Heer von Nebeln, das sie lautlos umschlich und umzingelte. Immer jäher ward zugleich die Abkühlung. Eine Kälte wie im Winter, und plötzlich war es da: Ein Aufheulen, ein Anspringen des Sturms, wilder und grausiger denn alles zuvor, und nun wirbelte es um sie her, weiß unabsehbar, soweit das Auge reichte – Schneeflocken. Und es wurden ihrer mehr und mehr, sie flossen ineinander und schlossen sich zu einem dichten Vorhang zusammen, der die Welt um sie her verhängte. Kaum daß sie noch die Umrisse des Hundes erkannte, der doch nur ein paar Schritte vor ihr war. Und diese Flocken waren nicht die weichen lockeren Daunen, die der Winter wohl, wie freundlich spielend, drunten im Tal bei den Menschen ausstreut – nein, bösartige Geschosse waren es, die er nach der einsamen Wanderin entsandte. Myriaden spitzer Eiskristalle, winzige, aber schneidende Pfeile. Sie bohrten sich schmerzhaft ins Antlitz und zwangen die Augen, sich zu schließen, daß die Füße nur ungewiß tastend noch weiter den Weg suchten. Und das Brausen des Sturmes benahm ihr die Luft, schnürte ihr die Brust ein wie mit eisernen Klammern.

Immer eisiger ward der Frosthauch. Bis ins Mark erschauerte Hilde, die nur in ihrem dünnen Kleid ohne Umhang heute früh drunten weggegangen war, weil ja am Morgen die Sonne so schön droben auf den Bergen lag. Nun waren ihr die Hände wie gelähmt vor Kälte, und das Blut stockte in den Füßen, daß sie kaum weiter konnte. Ganz mühsam nur noch, mit dem Aufraffen ihrer letzten Kraft rang sie sich so vorwärts, Zoll für Zoll, nun schon auf dem blanken Eis des Gletschers. Und in diesem verzweifelten Anringen gegen die grausam-wilden Gewalten der Bergöde durchzuckte es sie plötzlich: Ein Erkennen der vollen Größe dieser Gefahr – die Spalten im Eis! Bei gutem Wetter für den Wegkundigen ja leicht zu vermeiden, aber heut –, wo sie bald keine Handbreit mehr vor dem Auge sah? Wo der Schnee ein Tuch über den Gletscher breitete? Ein einziger Fehltritt, ein Ausgleiten konnte den Tod bringen!

Wieder kam es da über Hilde, wie vorhin. Ein plötzliches Versagen ihres Willens und aller Kraft. Es war, als ob Körper wie Geist erstarrten in dieser schrecklichen Kälte. Sie hatte das Gefühl, als müßte sie im nächsten Augenblick zusammensinken, da wo sie gerade stand. Aber das wäre das Ende gewesen, erst recht. In einem verzweifelten Aufflackern rief sie sich da mit aller Gewalt die Lebensgeister wieder wach. Nur nicht erschlaffen jetzt mit dem frostgelähmten Hirn – nein, denken und wollen: ihre Rettung! Und es durchblitzte sie ein Erinnern. Sie kannte ja Weg und Steg hier oben. Gar nicht weit ab, ein, zwei Minuten längstens war rückwärts in der Moräne ein Plätzchen, wo sie manchmal beim Rasten Schutz vor dem Sonnenbrand gesucht hatte. Ein paar große Blöcke, in Urzeiten einst im Fall übereinandergeschichtet, so daß es zwischen ihnen eine Art Höhle gab. Dorthin wollte sie, da würde sie Schutz finden, auch jetzt. Und sie rief Rolf zu sich heran, ergriff ihn am Halsband, daß er wenigstens zur Seite blieb für alle Fälle, dann schritt sie zurück in der Richtung, wo die Stelle sein mußte.

Ein erregtes Suchen, von Angst getrieben, ein vergebliches Hin- und Herirren – es war so schwer, sich im Schneegestöber zurechtzufinden, vielleicht gar aussichtslos – aber da, endlich! Wie ein Jubel wollte es sich ihr entringen, als es im Flockengestöber plötzlich auftauchte, ganz dicht vor ihr, nur wenige Schritte noch – die Blöcke! Es war aber auch die höchste Zeit gewesen. Nun rasch hinein, ins letzte Eckchen dieses Verlieses flüchtete sie sich und kauerte sich dort zusammen, den Hund dicht an sich ziehend, daß die Wärme seines Leibes sich ihr mitteilte und ihren schon halberfrorenen Gliedern neues Leben gab.

So saß sie lange, lange. Eine Stunde wohl schon und länger noch. Furchtbar war dies Harren und Hinausspähen, ob es denn noch immer kein Ende nehmen wollte mit dem Schneefall draußen. Anfangs hatte ihr wohl die Wärme des Hundes geholfen, aber allmählich, bei dem stundenlangen, unbeweglichen Kauern, versagte doch auch das. Abermals begann ihr das Blut in den Gliedern zu stocken, und von Füßen und Händen schlich diese lähmende Starre immer höher an ihr empor – langsam, doch unaufhaltsam.

Eine schreckliche Angst packte sie da an. Noch weiter so, vielleicht nur ein paar Minuten noch, dann hatte dieses Absterben auch Herz und Hirn ergriffen, dann war es aus – vielleicht für immer! Und in diesen Minuten, diesen letzten ihres Bewußtseins, klammerte sich Hildes Seele noch einmal mit allen Fasern an das Leben.

In einem bunten Wirbel kreiste es erregt in ihren Gedanken, Erinnerungen alles dessen, was einmal schön gewesen war in diesem Dasein. Wie ein freudiges, starkes Bekennen zum Leben war es. Ihr war es da plötzlich, als hörte sie die Worte: Nie hab' ich ein höher gesteigertes Lebensgefühl gehabt als gerade in jenen Augenblicken, wo der Tod um mich war. So hatte er doch gesprochen damals, am ersten Tag, wo sie sich kennenlernten – er, der dann ihr Lehrer geworden war und ihr den Weg gewiesen hatte zu den stärksten und tiefsten Quellen dieses Lebens.

Und zu ihm retteten sich nun auch ihre letzten Gedanken. Günter Marr – ach, daß er doch käme, sie an sich risse, an sein starkes, warmes Herz, daß diese schreckliche Froststarre von ihr wich, der sie zu erliegen drohte, mehr und mehr! Aber wie ein Traum war es nur noch, daß sie ihn vor sich sah, ihn grüßte mit einem leisen, süßen und doch schmerzlichen Lächeln: einem Abschied für die Ewigkeit, einem Geständnis ihres innersten Empfindens, das jetzt frei geworden war, wo alle Fesseln sanken – wo ja doch alles ein Ende nahm.

Dann kam es über sie wie ein Nebel, der ihr alles verhüllte und in den sie nun versank – willenlos, mit einem sanften Ersterben.



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