Paul Grabein
Der Ruf des Lebens
Paul Grabein

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Den ganzen Tag trieb Marr heute eine seltsame Unruhe um. Schon am frühen Morgen hatte das begonnen. Als er da, ganz froh und guter Dinge – noch klang ja immer das Zusammensein mit Hilde Gerboth in ihm nach – vors Haus trat, schlug es mit einemmal um: Alles so anders als gestern. Ein trüber, grauer Tag. Dichte Nebel brauten im Tal und verdeckten die Spitzen der Berge droben. Düster, wie riesige Grabhügel, lagen die Hänge vor ihm.

Es senkte sich ihm auf die Brust, während er langsam zum Dorf hinausschritt. Diese Totenstille! Kein leisestes Regen, kein Laut ringsum. Ordentlich erfreut war er, als sein Auge am Boden endlich eine Ameise entdeckte, und vorsorglich hielt er den Tritt an, der sie sonst zermalmt hätte. Nun blieb er stehen und verfolgte lange das winzige Tier bei seinem armseligen Treiben. Doch wenigstens einmal Bewegung – Leben! Nein, hier konnte nicht gedeihen, was voran wollte, empor mit treibenden Kräften.

Und wieder waren da seine Gedanken bei Hilde Gerboth. Aber, sonderbar, mit einem so unsicheren, bedrückten Gefühl. Wo war plötzlich nur die Zuversicht geblieben, die er gestern abend, ja noch heute morgen für sie gehabt hatte? Zweifel kamen ihm: Ja, wohl drängte sie es fort von hier, aber würde es ihr auch gelingen? Waren die Widerstände nicht vielleicht doch zu stark für ihre Kraft?

Grübelnd, mißgestimmt schritt er so dahin. Doch das Wandern in Dunst und Nebel ward ihm schließlich leid. Die Berge bedrückten ihn heute. Wie graue Gefängnismauern schlossen sie ihn ein. Da machte er kehrt, ging wieder heim.

Aber auch das Sitzen im engen Zimmer war gerade keine Freude. Wohl nahm er ein Buch zur Hand, das er sich vom Kuraten aus seiner kleinen Bücherei geliehen hatte, indessen die Sammlung fehlte ihm zum Lesen.

Immer wieder irrten die Gedanken ab, hinüber – zu dem Hause hinter den Lärchen. Es war wie ein stetes, unruhiges Warten; als müsse ihm eine Botschaft werden von ihr. Bis er sich aber schließlich sagte: Doch nicht gut möglich! Aber was hinderte ihn denn, seinerseits hinüberzugehen?

Er sah nach der Uhr, es war die Stunde, wo er sich drüben schon blicken lassen konnte. Da ging er kurz entschlossen hinüber. Doch eine große Enttäuschung ward ihm zuteil. Von der öffnenden Magd mußte er hören: Der Meister sei bei der Arbeit und wolle nicht gestört sein; das Fräulein aber wäre auf ihrem Zimmer – unpäßlich.

Unpäßlich? Hilde – sie, der gestern doch nicht die leiseste Spur davon anzumerken gewesen war? Kopfschüttelnd wandte er sich ab. Und die Unruhe in ihm ward nur noch stärker seitdem.

So verbrachte er den weiteren Tag in einer wenig erfreulichen Stimmung. Am späten Nachmittag entschloß er sich dann noch einmal zu einem Besuch bei Gerboths. Diesmal ward er auch vorgelassen zum Meister. Dieser bedauerte Marrs vergebliches Vorsprechen und entschuldigte zugleich Hildes Fernbleiben auch jetzt wieder mit ihrem Befinden. Aber es war etwas in Gerboths Worten, das Marr sofort auffiel. Der Meister war nicht groß in der Kunst gesellschaftlicher Lüge. Kein Zweifel – hier lag etwas in der Luft. War Hildes Unpäßlichkeit nicht überhaupt bloß ein Vorwand, so stand sie unfehlbar in einem Zusammenhang mit ihrer Unterredung gestern. Auch Gerboths ganzes Wesen – Marr fühlte es ja deutlich heraus, da war etwas so Fremdes, Zurückhaltendes, Kühles – ganz sicherlich: die Unterredung Hildes mit ihrem Vater hatte stattgefunden, aber sie war anders ausgefallen, als diese es gehofft hatte und er mit ihr! Eine Weile saß Marr noch bei dem Meister. Eine gezwungene Unterhaltung, in hohem Maße peinlich. Jede Verstellung war ihm im Innersten zuwider, und es fiel ihm schwer, sein Empfinden über diesen Ausgang der Sache zu verbergen. Ein Gefühl starker Enttäuschung und einer erwachenden Gegnerschaft gegen Gerboth regte sich plötzlich in ihm. Da erhob er sich denn, etwas unvermittelt, und empfahl sich. Ein ziemlich förmlicher Abschied, auch von des Meisters Seite, und draußen ging er nun mit einer nicht mehr zurückgehaltenen Erregung davon, als triebe es ihn, rasch fortzukommen von diesem Hause, wo ihm eben eine so große Enttäuschung widerfahren war. Ungehindert ließ er jetzt auch seinem Empfinden freien Lauf.

Da war also sein Vertrauen in Gerboths verstehende Güte, das er auch in Hilde so zuversichtlich gestärkt hatte, freilich recht wenig begründet gewesen! Er hatte diesen Mann offenbar stark überschätzt; zum mindesten seinen freien Blick. An seinen guten Absichten mit der Tochter wollte er ja nach wie vor nicht zweifeln; aber sein Urteil über sie? Nein – da sah Karl Gerboth ganz gewiß nicht frei und unbefangen.

Was nun? – Doch die Frage war ja offenbar schon beantwortet. Hilde war eben die gehorsame, gute Tochter und fügte sich dem väterlichen Willen, in dem sie für sich die Vorsehung zu erblicken gewöhnt war.

Schade! Und ein Gefühl der Enttäuschung auch ihr gegenüber stieg in Marr auf. Er hatte anderes von ihr erwartet für diesen Fall: daß sie ihre Persönlichkeit durchsetzen würde, nachdem sie doch gestern – allem Anschein nach wenigstens – so durchdrungen war von dem guten Recht ihrer Forderungen. Da war im Grund denn ihre ganze Unterredung umsonst gewesen. Er hätte ihr das ersparen können, diese ja nun ganz unnötigen Erregungen gestern und heute – und auch sich das frohe Erwarten, das er in sie gesetzt hatte.

Nun – eben mal wieder eine kleine Enttäuschung, wie sie das Leben so mit sich bringt. Er versuchte schnell darüber hinwegzukommen, wie er das stets in solchen Fällen tat, mit ein bißchen Selbstverspottung: daß er doch immer noch vielzuviel Idealist war, trotz all seinen Erfahrungen mit den Menschen! Aber es wollte ihm diesmal nicht so recht glücken. Immer wieder drang doch das Gefühl eines tiefersitzenden Bedauerns durch. Schade um sie! Er hatte sie wirklich hochgeschätzt, als einen zuverlässigen Menschen, eine starke Persönlichkeit, wie sie selten sind – doppelt selten bei Frauen. Daß es nun doch bloß Schein war, nur eine Stimmung des Gestern, die nicht standgehalten hatte, als die väterliche Gewalt über sie kam mit dem Uebergewicht ihrer Erfahrung und Weisheit, die Hilde besser kennen wollte als diese sich selber. Da hatte sie denn den Glauben an sich aufgegeben – freilich allzu leicht und schnell nur. Schade – recht schade.

Oder doch nicht! Denn, wenn sie so war, dann war ja nichts an ihr verloren. Dann lohnte es sich auch nicht, sich innerlich noch länger mit ihr aufzuhalten. Wäre nur zwecklos und töricht gewesen, und beides war nicht seine Sache. Das machte sich Marr denn nun auch nachdrücklich klar, während er weiterlief wie in einem geheimen Grimm, und als es geschehen war, da hatte er entschlossen einen dicken Strich gezogen – der Fall Hilde Gerboth war erledigt für ihn. Klar, einfach, selbstverständlich! Nur, daß trotz allem da drinnen bei ihm ein nicht wegzuleugnendes Gefühl unbehaglicher Leere blieb.

In dieser Seelenverfassung, dazu den grauen Himmel über sich, war Günter Marr nicht gerade geneigt, die Einsamkeit und Oede um ihn her mit geduldigerem Auge anzusehen als sonst schon. Im Gegenteil, er wurde sehr kritisch auch in dieser Beziehung.

Im Grunde war es doch eine recht verfehlte Geschichte, daß er hier oben saß. Schade um die kurzen paar Wochen, die ihm noch vergönnt waren, ehe er wieder zurückkehren mußte. Die Sonne gab – schien es – eben nur Gastrollen in Glurns. Womit denn der Hauptzweck der Uebung von vornherein verfehlt war. Na, und das übrige –? Der Freund, um dessentwillen er hergekommen war, fort – und nach den Erfahrungen heute mit Gerboths lockte ihn deren Gesellschaft auch nicht sonderlich mehr. Was sollte er also eigentlich noch hier? Das Vernünftigste war da doch, er packte seine Siebensachen und machte, daß er wieder fort kam. Allmählich setzte sich dieser Gedanke bei Marr immer fester. Nur die Rückkehr Franz Hilgers' wollte er doch noch abwarten. Das war schließlich wohl eine nicht zu umgehende gesellschaftliche Rücksicht.

Mit diesem Entschluß als Ausbeute kehrte Marr endlich in sein Quartier beim Kuraten zurück, wo er sich bei einer Flasche Wein und der Zigarre im Gespräch mit dem allzeit zum Plaudern aufgelegten geistlichen Herrn über den Rest dieses so wenig erfreulichen Tages hinweghalf. Beizeiten suchte er dann das Bett auf. War schon das beste, was man hier noch anfangen konnte – in diesem gottverlassenen Erdenwinkel! – – –

Als sich Marr am andern Morgen erhob, nach einem langen und tiefen Schlummer, und die Fensterläden aufstieß, flutete ihm eine Fülle goldenen Lichtes entgegen. Sein Auge fiel auf die blendendweißen Zinnen des Hochgebirges, im Schmuck des Neuschnees. Mit einer erhabenen, überirdischen Heiterkeit leuchteten sie hinein in das zarte Lichtblau des Himmels. Eine wundersam klare, reine Luft strömte droben von den Firnen aus und mischte sich mit dem süßen Duft des frischen Heus hier drunten auf den Wiesenmatten. Eine beseligende Kraft ging von diesem Bilde aus.

Verflogen war da mit einem Schlag aller Mißmut vom Tage vorher. Mit einem Kopfschütteln dachte Marr daran, während er sich geschwind ankleidete und philosophierte: Wie nur der Mensch so lächerlich abhängig war von einem bißchen Sonnenschein! Trotz aller schwindelnd hohen Aufwärtsentwicklung doch noch ganz dieselbe Geschichte. Wie auf den Unterstufen der Schöpfung, bei Tier und Pflanze, das Licht die Quelle allen Lebens – so auch beim Menschen. Darum die ersten und höchsten Kulturen in den Sonnenländern Indien, Aegypten, Griechenland, Italien. Es war doch wohl kein Zufall.

Er verspottete sich wohl gleich darauf selber wieder über seine philosophisch-geschichtlichen Anwandlungen schon am frühen Morgen. Aber gutgelaunt heute. Er war versöhnt mit sich und der Welt. So froh war ihm zumute, eine Lust war es ja allein schon zu leben! Besonders für den, der Tag um Tag im Flugzeug, hoch in den Lüften, stets den Tod vor Augen, Kämpfe mit den Naturgewalten geführt, und es nun als ein wahres Glück empfand, daß seine Augen das goldene Licht noch sahen, die Brust diesen balsamischen Hauch einschlürfen durfte mit durstigem Zug. Wandern wollte er heute, in die Berge – weit, hoch hinauf – immer näher der großen Quelle dieses Lebens mit ihrer wunderwirkenden Kraft!

Rasch nahm er daher sein Frühstück und machte sich dann fertig. Bald war er aus dem Ort heraus und stieg nun mit weitausholendem, federndem Schritt über den Wiesenhang hin, der gerade vor ihm lag. Erst wie er so schon ein gut Stück des Weges gegangen war, fiel es ihm plötzlich ein: das war ja derselbe Weg, den er neulich mit Hilde Gerboth gegangen war, hinauf zur Hohen Wacht! Und mit einem Male waren seine Gedanken wieder bei ihr.

Ob auch sie wohl dieser köstliche Sonnenschein hinausgelockt hatte? Sicher doch. Sie hatte es ihm ja gesagt neulich, ebenso wie, daß es ihr Lieblingsgang war hinauf zu jenem Vorgipfel mit seiner wundersamen Höhenschau. Also konnte er ziemlich sicher sein, sie auch heute dort wieder zu treffen. Aber diese Vorstellung, die im ersten Auftauchen seinen Schritt unwillkürlich noch beschleunigte, ließ diesen jetzt plötzlich stocken. Wozu? Was sollte das? Sie hatten einander ja in Wahrheit nichts mehr zu sagen, und etwa nur um ein paar oberflächliche Redensarten zu wechseln? Nein – das lohnte wirklich nicht; dann lieber allein geblieben! Da bog er ab, einen Seitenpfad in anderer Richtung.

Eine gute Stunde war er wohl gewandert, dann ragte vor ihm eine freie Bergkuppe auf, die mit ihrem Steilhang fast senkrecht abfiel zum Bett des Wildbaches drunten, der sich hier durch eine enge Kluft des Gebirges zwängte. Die Höhe war mit einer Gruppe alter Bäume bestanden, die kühlenden Schatten verhießen. Dort lockte es ihn nun Rast zu machen; denn er war etwas warm geworden bei dem schnellen Anstieg. So lenkte er denn seine Schritte dahin.

Er ging quer über die Alm, in bequemem Anstieg, zum Gipfel empor. Es ging sich gut hier. Von dem nackten Fels der Bergwände drüben prallte sommerlich heiß die Sonne herüber, während doch zugleich eine herbe, kühle Winterluft aus der Klamm heraufstrich. Frisch belebend.

Gelbbraun, schon herbstfarben, dehnte sich das Graskleid der Alm. Dazwischen erhoben sich wie dunklere Inselchen die dichten Büsche der Alpenrosen und des Heidekrauts, das mit seinem rosigen Schein den Ernst des Bildes heiter überhauchte. Der Rasenteppich war mehrfach auch durchsetzt von kleinen Hochmoorflächen, sumpfig, mit üppigen, goldbraunen Grasbüscheln, und aus ihnen rann es zu Tal, in zahllosen, tief gerissenen Furchen, ein ständiges Quellen und Rieseln – so viel Leben brachte das in die Stille.

Wirklich, ein anmutendes Fleckchen Erde, hier am Fuß der starren Gletscherwelt, und Marrs Auge streifte nun im Näherkommen noch einmal zu der Gruppe der Arven auf dem Gipfel, die ihre kraftvoll geformten, ernsten Häupter hinunterneigten zum Wildbach in der Tiefe, als lauschten sie seinem dunklen Raunen. Da oben entdeckte er jetzt eine Stelle, wie zum Rasten geschaffen. Ein mächtiger alter Baumstumpf, dessen moosgepolsterte Wurzeln einen bequemen Lehnsitz bildeten, leuchtete silbergrau aus dem Halbdunkel unter den Bäumen heraus. Wie ein Thronsessel, auf freier Bergeshöhe errichtet. Dort mußte es sich herrlich sitzen, da wollte er rasten und Umschau halten. Aber wie Marr, schneller ausschreitend, herankam und dabei einer Biegung des Weges folgte, gewahrte er, daß – ihm bisher durch den Stumpf verborgen – dort schon jemand saß: eine Frau und ihr zu Füßen geschmiegt ein Hund, ein mächtiger Bernhardiner – Hilde.

Er hielt den Schritt an und wollte den Fuß schon zur Umkehr wenden. Doch da hatte der Hund ihn gewittert und hob jetzt den Kopf zu ihm hin mit einem tiefen Knurren. Der Laut machte Hilde aus ihrer Gedankenversunkenheit auffahren. Sie blickte sich suchend um und hatte nun auch ihn erkannt. So war es denn zu spät. Er konnte nicht gut anders als hingehen, sie begrüßen und fragen, ob sie sich wieder besser fühlte heute.

So geschah es denn, und sie tauschten die üblichen Bemerkungen gesellschaftlicher Höflichkeit, wie es dies Zusammentreffen mit sich brachte. Aber eine Befangenheit lag über ihnen beiden. Gezwungen klangen ihre Worte, da sagte sie bekümmert:

»Sie zürnen mir – ich fühle es Ihnen an. Sie haben sich gewiß schon Ihr Teil gedacht. Sie halten mich nun für schwach und unbeständig – sagen Sie es nur ganz offen!«

Er zauderte, aber dann blickte er sie fest an.

»Wenn Sie es denn wünschen, Fräulein Gerboth – allerdings, es ist schon so, wie Sie sagen. Und habe ich damit nicht recht?«

Auch sie sah ihn an, und es lag vieles in diesem Blick, doch dann erwiderte sie nur:

»Mein Vater war so unglücklich bei dem Gedanken – da konnte ich es nicht übers Herz bringen!«

Er zuckte die Achseln. Da schwieg auch sie. Langsam glitt ihr Blick an ihm vorüber mit einer großen, stillen Traurigkeit und senkte sich dann drunten auf das Bild zu ihren Füßen. Die Sohle des Tales und seine eine Wand waren hell beschienen, die andere lag im Schatten. Doch nun schob sich aus dieser Schattenmasse ein dunkles, rätselhaftes Etwas vor, gewann immer schärfere Form und glitt über die smaragdgrünen Wiesen hin zu dem weißen Kirchlein mit seinem roten Turm, zu den Häusern in seinem Schutz. Wie eine gierig gekrallte Riesenhand, die sich erbarmungslos ausstreckte nach dem stillen Glück der Menschen dort unten. Langsam, aber ihrer Beute gewiß.

Mit einem Erschrecken sah es Hilde, und ein dunkles Angstgefühl überfiel sie. Als gälte es ihr – als griffe diese Hand nach ihrem wild aufschlagenden jungen Herzen, um es still und stumm zu machen für immer. Und war es nicht auch so? Sollte da nicht begraben werden, was nach dem Leben verlangte – so heiß und sehnend?

Er sah, was in ihr vorging, und plötzlich brach es in ihm durch, aller gewollten Zurückhaltung zum Trotz.

»Quälen Sie sich doch nicht so! Verschließen Sie sich doch nicht mit Gewalt gegen die Stimme Ihrer Natur – folgen Sie ihr vielmehr getrost und seien Sie gewiß: Es ist der rechte Weg!«

Sie blickte zu ihm auf, schwer bedrückt.

»Da sind auch noch andere Stimmen in mir.«

»Welche?«

»Dankbarkeit und Mitleid. Soll ich meinem Vater das antun, ihm sein Leben zerstören – zum zweiten Male?«

»Dankbarkeit, Mitleid – gewiß, man soll sie betätigen; aber in den Grenzen der Vernunft. Das darf nicht bis zur Selbstaufopferung gehen.«

»Ist nicht gerade diese unsere höchste Tugend?«

»Narrheit ist sie!«

»Und doch wird sie uns gepredigt von Jugend an.«

»Eine Irrlehre – von finsteren Asketen erdacht. Den Soldaten, der sich dem Ruf des Vaterlandes durch Selbstverstümmelung entzieht, verachten wir als einen Feigling und Verbrecher. Aber wenn wir uns dem Kampfruf des Lebens entziehen, uns langsam abtöten im stillen Duldertum, so ist es höchste Tugend. Menschenopfer, man fordert sie noch heute – was für ein Aberwitz, was für ein Frevel!«

Hilde schwieg betroffen, da fuhr er fort, noch dringender:

»Und wenn Sie schon wollten, dürfte Ihr Vater es annehmen, daß Sie aus Dankbarkeit und Mitleid sich selber hinopferten? Das wäre ja schwere, nie zu verzeihende Schuld! Auch alle guten Absichten können daran nichts ändern.«

Sie sah ihn an, als möchte sie wohl seinen Worten glauben, doch dann schüttelte sie traurig den Kopf.

»Die Pflicht ist stärker in mir.«

»Pflicht – das Wort lass' ich gelten. Aber Sie haben auch Pflichten gegen sich selber. Und die sind die stärkeren. Unsere oberste Pflicht ist, uns zu erfüllen, das Höchste zu werden und zu leisten, dessen wir fähig sind. Das können Sie aber nicht, wenn Sie sich freiwillig begraben. Ach – könnte ich Ihnen doch einflößen von diesem frohen Sonnenglauben! Weg doch mit all dem Irrwahn, dem Ballast uralter, vererbter Begriffe, mit dem sich die Menschheit herumschleppt seit Jahrhunderten – sich selber nur zum Leid. Wie viel weiter, unendlich viel weiter wären wir schon, wenn wir ledig wären dieser Last und frei erhobenen Hauptes dem Ruf des Lebens folgten, das keine mühselig im Staub kriechenden Knechte haben will, sondern stolze, aufrechte Menschen. Nicht trübe Pflichterfüllung, nicht asketische Aufopferung für andere, sondern ein frohes Regen und Entfalten all unserer Kräfte, uns selber zu Lust und Nutzen – das ist der Sinn des Lebens. Ist es denn so schwer, dies neue Evangelium zu glauben?«

Seine Worte rüttelten an ihrem Innersten. Erregt ging ihr die Brust. So sagte sie, doch noch immer mit einem Schwanken und Zagen:

»Sie künden da so Schönes, Großes – wie gern möchte ich Ihnen folgen auf Ihrem Wege! Wenn nur mein Vater nicht wäre. Wie soll er diesen Schmerz verwinden – und ich?«

»Auch das gehört zum Vorrecht der Starken, sich nicht zu scheuen vor dem Schmerz, den man selber ertragen oder anderen zufügen muß. Furcht vor Schmerz ist Feigheit. Kraft überwindet auch Schmerz und Wunden.«

Während er so sprach, fiel sein Blick auf die Arven droben am Bergrand. An der Grenze des Baumwuchses hielten sie dort wie vorgeschobene Posten Wacht gegen die rauhen Eisriesen. Wetterbäume, kampfzerzauste Recken, mit zersplitterten Aesten und zerfetztem Nadelkleid; Wunden, die sie erlitten im Kampf mit Sturm und Lawinen. Dennoch aber standen sie aufrecht, mannhaft und trutzig. Ein herzstählender Anblick. Ihre knorrigen Wurzeln hielten mit hartem Griff Felsblöcke und Bergflanke gepackt und ließen nicht fahren, was sie hielten. Kampf war ihr ganzes Wesen – Kampf und zähe Kraft, die aller Wunden nicht achtet, sondern mit starken Armen das Leben umfängt. Da hob er seine Rechte zu diesen Trutzgesellen hin.

»Sehen Sie – diese Bäume lehren uns, wie man es machen muß!«

Ihr Blick folgte seiner weisenden Hand, und nun hörte sie ihn weitersprechen, der unwillkürlich näher zu ihr getreten war und jetzt dicht vor ihr stand.

»Kämpfen, aufrechtstehen und trotz Schmerz und Wunden das Leben lieben – das ist die Losung für alles, was stark ist. Und nur das hat ein Recht auf Leben. Sie aber – Sie sind doch stark! Glauben Sie doch nur an sich selber. Lassen Sie sich nicht beirren von allem ängstlichen Warnen, mag es noch so gut gemeint sein.« Seine Blicke umfaßten ihr Antlitz, ihre junge, blühende Gestalt. »Stark sind Sie, so wert, zu leben in Freiheit und Kraft. Ein Jammer wär es – nicht zu verantworten – sollte das alles verkümmern in dumpfer Enge. Nein, nein – es darf nicht sein! Liebes Fräulein Gerboth, hören Sie doch auf mich!«

Und plötzlich nahm er ihre beiden Hände mit einem fast stürmischen Griff. Fest hielt er sie, und tief drangen seine Blicke in die ihren, drängend mit aller Gewalt.

Da geschah es ihr wie ein Wunder: Sie zuckte zusammen unter dieser Berührung, als spränge ein Funke, ein ganzer flammender Strom von seiner sieghaften Kraft über zu ihr und schösse nun glühend durch ihre Fibern, sie emporreißend, ob sie wollte oder nicht. Wie ein Jauchzen klang es in ihrem Herzen, ein Leuchten brach aus ihren Augen, und so kam es jetzt von ihren Lippen:

»Ja, ja – ich will!«

Hell strahlte es da auch in seinem Blick auf. Noch fester umschloß er ihre Hände, und wie so sein Auge auf ihrem Antlitz ruhte, so nahe dem seinen, so lockend in all seiner unberührten Jugend, frisch blühend wie ein seliger Maientag – da überkam es ihn: Er hätte sie an sich reißen mögen mit einem lauten Siegesruf. An sich, um sie zu halten für immer – sich zur Freude, ihr zur Hut!

Hatte sich von diesem Ausbruch etwas in seinem Auge verraten, hatten seine zuckenden Hände gesprochen – ihr Blick, der sich eben noch dem seinen unbefangen dargeboten hatte, verwirrte sich, und ihre Hände strebten von den seinen loszukommen.

Da gab er sie frei. Ruhig nun wieder sprach er:

»Ihr Entschluß freut mich von ganzem Herzen. Und Sie werden nun fest bleiben, wie es auch kommt?«

Sie beteuerte es, aber ohne ihn anzusehen, und trat einen Schritt zurück, wieder hin zu dem Wurzelsitz, zu dessen Füßen noch der Bernhardiner lag, der mit stummem Beobachten auf sie beide geschaut hatte. Marr mußte unwillkürlich zu dem Tier hinsehen, wie es sprechend in seinen klugen, dunklen Augen stand. Als begriff er, was hier vorging. Langsam hob er dann den Blick von dem Hund wieder zu Hilde auf, die sich inzwischen nach dem Buch gebückt hatte, das vorhin ihrer Hand entglitten und in das Heidekraut gesunken war.

»Sie werden nun noch einmal mit Ihrem Vater sprechen – heute noch?«

»Wenn irgend möglich, schon heute!«

Er wollte weiterfragen, ihr mit besorgtem Rat zur Seite stehen – es lag ihm ja noch so viel auf dem Herzen – aber es war etwas in ihrem Wesen, das ihm die Zunge band. Die Unbefangenheit zwischen ihnen beiden war dahin seit diesem Augenblick eben. Nur zu deutlich empfand er es. Und er merkte es ihr an: Seine Gegenwart beunruhigte sie. Sie hatte den Wunsch, allein zu sein, sich Rechenschaft abzulegen darüber, was da geschehen war mit ihnen. Und hatte nicht auch er ein gleiches Bedürfnis? Wogte es trotz aller äußeren Beherrschung nicht erregt auch bei ihm in der Tiefe, mit einer nie gekannten, treibenden Gewalt? Ja, – sich klar werden über die Bedeutung dieses Augenblicks, auch er wollte es! So sagte er denn:

»Ich wollte noch hinauf – bis zur Paßhöhe droben – da muß ich mich nun auf den Weg machen.«

Sie nickte nach der bezeichneten Richtung hin.

»Ja, dann wird es Zeit; der Weg ist weit.«

Da nahm er Abschied und schnell schritt er davon über die Halde.

Bald war er ihrem Gesichtskreis entschwunden und ging nun weiter, hinauf den steinigen Saumpfad zwischen dem Geröll. Ein ungestüm vorwärtsdrängendes Schreiten, getrieben von innersten Gewalten, die entfesselt in ihm anrangen gegeneinander.

Da war es wieder das jähe Erkennen, das vorhin wie ein Blitz durch ihn hingezuckt war in heißem Aufflammen: Er liebte dies Mädchen! Unerwartet, ganz und gar, war ihm dies Erkennen gekommen; aber nun war es da und nahm von ihn Besitz mit Sturmgewalt. Ein nie geahntes herrliches, hochwogendes Gefühl: so jubelfroh und sieghaft! Wie waren all seine Kräfte gespannt und noch gesteigert. Jeder Nerv, jeder Muskel gestählt in einer jauchzenden Lebenslust. Alles an ihm nur ein einziger Wunsch und Wille: Sie erringen – die Liebe, Reine!

Denn sie gehörte zu ihm, Art von seiner Art. Und auch über sie war es gekommen in jenem Augenblick. Ihr ganzes Verhalten hernach, diese holde, mädchenhafte Scheu – nein, nein, kein Zweifel. Eine glückverheißende Zuversicht sagte es ihm: Sie empfand nicht anders als er! Noch höher schwoll da in ihm dies Froh- und Kraftgefühl. Ja – sein mußte sie werden, deren Herz auch zu ihm hinverlangte, und würfe sich ihm eine ganze Welt von Gegnern in den Weg! Hellauf glühte seine Kampflust. Ringen um einen solchen Preis – konnte es höheren Reiz geben? Nur heran, wer sie ihm vorenthalten, sie einkerkern wollte in dumpfer Enge, um ihr den Weg zu verlegen hinaus ins Freie, in Luft und Licht. Nun war ihre Sache auch die seine geworden – und er wollte sie führen wie noch nie eine!

Aber in sein ungestümes, kampffrohes Auflodern hinein scholl es plötzlich wie ein strenges, warnendes Halt! Wohl mochte er angehen gegen eine Welt von Widersachern, es sei ihm unbenommen – doch stand da nicht der eine, der einzige, vor dem sein hocherhobener Arm machtlos niedersinken mußte: Franz Hilgers?

Scharf gruben sich die Falten zwischen Marrs Brauen ein. Er wußte, es ging hier um das Lebensglück des Freundes, der ihn voller Vertrauen, in all seiner Arglosigkeit und Warmherzigkeit, hierhergeholt hatte. Wohl hatte Hilgers noch kein förmliches Recht auf Hilde, aber gleichviel – war es nicht doch Anstandspflicht für ihn, zurückzutreten vor älteren, so lang gehegten Hoffnungen? Und gerade, weil sie den letzten Rettungsanker eines im Leben Gescheiterten bedeuten. Wäre es nicht für ihn, den Starken, beschämend, sich sagen zu müssen, du hast ihm dieses Letzte nun auch noch genommen – ihm, der da schon arm und geschlagen genug war? Würde es ganz gewiß auch für ihn selber nicht leicht sein, seinerseits zu verzichten, Hilde Gerboth zu vergessen – ihm würde es doch gelingen mit seinem kraftvollen Willen. Und er hatte ja auch sonst noch allerlei, an das er sich halten konnte – Berufsfreuden und ‑erfolge, ein ganzes reiches Leben voll Kampf und Streben. Vielleicht auch, daß ihm sein bewegtes Wanderleben doch noch einmal an anderem Ort das Glück der Liebe über den Weg führte. Also, war es nicht wirklich Freundespflicht – ja, schon bloßes Anstandsgebot – hier haltzumachen mit seinen Wünschen?

Schwer rang Marr mit dem Gedanken. Immer wieder sah er Hildes liebes Antlitz vor sich. Sie lassen? Es war eine harte, sehr harte Zumutung. Und doch – Ehre und Selbstachtung mußten vorgehen, wenn es erforderlich war. Aber war es das? Klargeblieben – sich nicht durch ein falsches Gefühl der Verpflichtung beirren lassen! Ganz nüchtern prüfen und abwägen. Hätte solch ein Zurücktreten denn jetzt noch einen Sinn, wo in Hilde doch einmal ein Gefühl geweckt war, das sie bisher nicht gekannt, das sie Franz Hilgers nie entgegengebracht hatte und nun erst recht niemals entgegenbringen würde?

Was sie diesem bisher geschenkt hatte, das war ruhige Freundschaft, schwesterliche Vertraulichkeit gewesen. Vielleicht hätte dies Empfinden auch hingereicht zu einer Ehe mit ihm, da sie ja nie ein anderes kennengelernt hatte. Aber nun war es doch geschehen! Der Feuerfunke war auch in ihr Herz gefallen und hatte gezündet – und nun war es zu spät. Nun konnte kein Franz Hilgers mehr kommen und wähnen, ihr ein Glück zu bieten und sie zu gewinnen. Jetzt hatte sie einen Maßstab bekommen für ihr Fühlen und Urteilen, und ihre Kritik, die sich bereits geregt hatte – Marr mußte ihrer Unterhaltung über Franz neulich gedenken – sie würde Hilde diesen bald klar erkennen und bewerten lassen.

Das, was nun einmal wach geworden in ihr, das würde nie wieder einschlafen. Die Binde war von ihren Augen gefallen. Sie sah Franz Hilgers jetzt mit anderen Blicken als vorher, und sie, in der eine frische, treibende Kraft nach dem Leben verlangte, mit Sturm und Sonnenschein, mit Jubeln und Tränen vielleicht, aber doch eben nach einem Leben und nicht nach der abgeklärten Greisenruhe einer weltfremden Weisheit, sie konnte an Franz Hilgers' Seite nun kein Glück mehr finden. Sie, die Starke, mußte ihn nun notwendig als den Schwächeren empfinden, der ihr nie würde geben können, was das wachgewordene Weib in ihr verlangte.

Also, es war zu spät! Selbst wenn er wollte, hier konnte er nichts mehr retten. Immer deutlicher ward es Marr bewußt, und mit dieser Erkenntnis ward es zugleich ruhig in ihm. Der Kampf war entschieden – ein zweckloses Sichopfern wäre Widersinn gewesen.

In ernstem Sinnen, aber mit gemäßigterem Schritt, ging er nun weiter. Leid tat ihm der Franz Hilgers – ehrlich leid! Daß ihm abermals eine so schwere Enttäuschung beschieden war, und diesmal von ihm, den er seinen Freund nannte! Aber er war sich keiner Schuld bewußt, konnte dem anderen frei ins Auge sehen, wenn dieser wiederkam. Was sich hier vollzog, das war das Schicksal mit seinen inneren Notwendigkeiten. Da konnte keines Menschen Hand das Rad aufhalten und wieder rückwärts treiben. Und mit diesem unvermeidlichen Schicksal mußte sich ein jeder abfinden.

Seine Gedanken blieben bei dem Freunde, in einem aufrichtigen Mitgefühl. Wirklich, das Geschick spielte ihm hart mit, und doch, es konnte nicht wohl anders sein. Was zu weich war, das wurde eben zerrieben. Das Leben ist grausam gegen die Schwachen. Und wie er so alles durchdachte, empfand er es immer klarer: Dieses Mitleid mit dem im Lebenskampf beständig Unterliegenden, das war wohl im Grunde immer seine Freundschaft für ihn gewesen. Aber dieses Empfinden konnte und durfte ihn nicht beirren in seinem Urteil: Wie schmerzlich es Franz Hilgers auch traf, dennoch war es gut, so wie es nun kam. Denn ein schweres Verfehlen an dem obersten Gesetz alles Lebens blieb ungeschehen, wenn diese Heirat nicht zustande kam, die die Starke an den Schwachen binden wollte. So lag der Fall, auch wenn er sich selber ganz ausschaltete. Darüber konnte alles Mitleid und alle Freundschaft nicht hintäuschen.

Da hob Marr sein Haupt wieder empor, frei und froh. Er durfte seiner Liebe folgen nach dem heiligen Recht des Lebens, das dem Starken das Starke gesellt wissen will. –

Es war schon dämmernder Abend, als Marr dann von seiner einsamen Wanderung heimkehrte ins Haus des Kuraten. Ganz kraftvolle Ruhe und Entschlossenheit. Klar lag sein Weg vor ihm. Ein gerader Weg, der ihn – sobald der Freund zurück war und alles von ihm erfahren hatte – noch in derselben Stunde in Karl Gerboths Haus führen sollte. Mit offenem Wort: Ich begehre deine Tochter. Gibst du sie mir willig, ich will es dir danken. Weigerst du sie mir – so hol' ich mir, was zu mir gehört. Nun wähle. Und wähle richtig. Um deiner selbst wie ihretwillen!

Gleich beim Eintreten brachte ihm die alte Wirtschafterin ein Telegramm. Er erbrach es und sah: von Franz Hilgers.

»Alles glücklich erledigt, schon auf Rückreise, treffe morgen nachmittag dort ein!«

Also morgen schon – um so besser! Würde die Entscheidung denn nicht lange mehr auf sich warten lassen. Und mit festem Griff faltete er die Depesche wieder zusammen.



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