Paul Grabein
Der Ruf des Lebens
Paul Grabein

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Wann geht die Post weiter nach Glurns?«

»Die Post?« Verwundert sah der Engelwirt in Halden den jungen Reisenden an. Als einziger war er eben aus dem alten rumpligen Stellwagen gestiegen, der die Verbindung Haldens mit dem unteren, verkehrsreicheren Gebirgstal vermittelte. Dreimal in der Woche nur. »Die Post – die geht nimmer bis nach Glurns, mein Herr.«

»Nicht? Ja, wie in aller Welt kommt man denn da hinauf, wenn man Gepäck bei sich hat, wie ich?«

»Da müssen der Herr schon ein Muli nehmen oder das Gepäck dem Boten-Sepp mitgeben, wenn es nicht gar zu groß ist. Der schafft nämlich alle Tag' in der Früh' die Post: und das frische Gebäck hinauf zum Herrn Kuraten.«

»Also Maultierverkehr gibt's nur noch von hier ab? Das ist nicht schlecht!«

Der Wirt betrachtete eine Weile schweigend mit sichtbarer Verwunderung den Fremden. Doch nun machte sich seine Neugier Luft.

»Zu wem wollen denn der Herr in Glurns, wenn's erlaubt ist zu fragen?«

»Gewiß, mein Lieber; das ist kein Geheimnis. Einen Freund will ich besuchen, der da droben haust. Vielleicht kennen Sie ihn auch; es ist ein Architekt Hilgers aus München.«

»Aber freilich kenne ich ihn, den Herrn Hilgers, der beim Kuraten von Glurns wohnt und ein Freund vom Herrn Gerboth ist. Kommt er doch hin und wieder hier durch, wenn er einmal verreisen muß, hinab nach Innsten, in die Bezirksstadt. Also zu dem wollen der Herr?«

Der Reisende nickte.

»Ja, und da ich einen größeren Koffer mit mir führe, so wird's wohl zu viel sein für den Boten-Sepp, und ich werde mir schon selber ein Muli nehmen müssen. Wollen Sie wohl so freundlich sein und das Nötige veranlassen. Einstweilen bitte ich Sie dann noch um einen Schoppen Roten und – eine Karte der Gegend haben Sie vielleicht auch?«

Er blickte suchend um sich, und alsbald hatte er drüben an der Wand die dort angeheftete Wegekarte erkannt. Er stand auf und trat darauf zu.

»Da haben wir ja schon, was ich brauche.«

»Ja,« der gefällige Wirt wollte ihm folgen, »und wenn ich dem Herrn vielleicht ein bissel Bescheid sagen darf über den Weg?«

»Danke, tut nicht nötig, mein Lieber. Ich versteh' mich aufs Kartenlesen.«

In der Art des Fremden lag bei aller Freundlichkeit doch eine bestimmte Ablehnung. So ging der Wirt denn hinaus, um den Wein herzuzutragen. Nachdem es geschehen, entfernte er sich abermals, nun um das Muli im Dorf zu beschaffen.

Günter Marr stand vor der Wegekarte. So abgeschieden lag also dies Glurns! Er schüttelte den Kopf. Und da oben hauste nun der Franz Hilgers, Jahr und Tag schon. Sonderbar. Er, der doch stets unter den Menschen, immer nur in der Großstadt gelebt hatte. Was mochte da mit ihm vorgegangen sein, daß es ihn nun hinaufgetrieben hatte in diese Einsamkeit, wo es für einen Architekten doch nichts zu holen gab? Aus seinem Briefe hatte er ja darüber nichts entnehmen können. Eine Andeutung machte er wohl freilich. Nachdenklich nahm er das Schreiben aus seiner Brieftasche und ging damit ans Fenster. Dort las er noch einmal:

»Mein lieber Günter,

also willst Du es denn wirklich wahr machen, wir werden uns wiedersehen nach so langer Zeit, nachdem ich über zwei Jahre überhaupt nichts mehr von Dir gehört habe. Ich würde ja ganz Deine Spur verloren haben, wenn nicht der Zufall dabei seine Hand im Spiel gehabt hätte. So wunderbar war das. Muß ich, was alle Jahr nur ein- bis zweimal höchstens vorkommt, hinunter nach Innsten, zu Besorgungen. Ein Landstädtchen im Inntal von zweitausend Einwohnern, für uns aber ›die‹ Stadt, wo es all die Herrlichkeiten gibt, deren man als zivilisierter Mensch doch nicht gänzlich entraten kann, unter anderem auch einen Zahnkünstler, und dem galt diesmal meine – also etwas unfreiwillige – Reise. Uebrigens wirklich eine Reise. Ueber acht Stunden zu Fuß, Post und Bahn braucht es für uns hier oben, um den Segnungen dieses Kulturorts teilhaftig zu werden.

Also dort, beim Sitzen im Wartezimmer meines Zahndoktors, kommt mir die ›Woche‹ in die Hand, seit zwei Jahren wohl habe ich sie nicht mehr vor Augen gehabt, und gleich der erste Blick fällt – nun sage einer, es geschähen keine Wunder mehr heutzutage – fällt auf Deinen Namen. ›Die erste Ueberquerung der Kordilleren im Flugzeug – durch einen Deutschen, den Ingenieur Günter Marr.‹ So sprang es mir mit Riesenlettern in die Augen, und dann folgten all die Bilder nach Deinen eignen Aufnahmen, die Du bei Deiner Notlandung jenseits des Cumbrepasses in der Felsenwildnis des Hochgebirges auf der argentinischen Seite und weiter auf Deiner abenteuerlichen Irrfahrt bis nach Mendoza gemacht hast.

Du kennst mich ja, Günter, ich war niemals ein Held und werde es nie sein. Die Nerven lassen mich im Stich. Die bloße Vorstellung all der Schrecknisse, die Du bestanden, lähmte mich geradezu: Die Gefahren im Wolkenmeer, in das Du plötzlich geraten, wo Du die Orientierung verloren hattest und jeden Augenblick den zerschmetternden Anprall an einer Felsenflanke befürchten mußtest, und nachher, wieder bei freier Sicht, der Motordefekt in einer Höhe von 4000 Meter, der verwegene Gleitflug und endlich die Landung zwischen Schroffen und Schrunden auf dem Trümmerfeld eines öden Kars – eigentlich mehr ein Absturz als eine Landung –, und dann Dein Umherirren, trotz Deiner Verletzungen, allein und hilflos, zwei lange Tage und Nächte hindurch, bis Du endlich, zu Tode erschöpft, zu der Hütte der Hirten kamst – daß das ein Mensch leisten und glücklich überstehen kann, es war mir einfach unfaßbar! Und es packte mich, wie ich das von Dir las. Wie Dein Name so mit leuchtenden Lettern plötzlich eingeschrieben stand in den Annalen der kulturellen Eroberung des Erdballs! Ungeheuer stolz war ich da auf Dich und Deinen Ruhm. Ja, wie ein Abglanz davon fiel es auf mich, und immer wieder sagte ich mir: Mit dem, von dem jetzt die Zeitungen melden, mit dem hast Du die Schulbank gedrückt, so lange Jahre – der ist Dein Freund!

Aber freilich, diese Freude wurde mir bald stark getrübt, als ich dann weiter las, daß Du ernstlich verletzt worden bei diesem Absturz und unter der Nachwirkung davon wohl noch immer leiden mochtest. Da überfiel mich die Sorge um Dich und der Wunsch, Dir helfen zu können. Der Aufsatz in der ›Woche‹ erwähnte auch Deine Rückkehr nach Deutschland. Da schrieb ich denn an Deine alte Münchener Adresse, und nach mancherlei Irrfahrten hat Dich mein Brief ja auch glücklich erreicht mit meinem Vorschlag, bei uns Deine volle Gesundheit zu suchen, in der reinen, kräftigenden Luft unserer Berge. Nirgends könntest Du auch in der Welt besser aufgehoben sein als gerade hier. So etwas von wunderbarer, unberührter Natur gibt es sicher nicht zum zweitenmal, und pflegen wollen wir Dich hier, wie Du es auch nirgends besser haben kannst, ich und meine Freunde, mit denen ich nun schon an zwei Jahre mein Leben teile. Du bist ihnen längst auch kein Fremder mehr, so viel haben sie schon durch mich von Dir gehört. Sie freuen sich also wirklich auf Dich und werden Dir nach Kräften den Aufenthalt hier angenehm machen.

Wie glücklich bin ich nun, daß Du auf meinen Vorschlag eingegangen bist und herkommen wirst. Das wird ja herrlich werden! Was haben wir nicht alles zu plaudern, von alten Zeiten und von fernen Zonen, die es Dir beschieden war kennenzulernen. Aber ich werde gleichfalls allerlei zu erzählen haben. So manches hat sich auch mit mir zugetragen, seitdem wir uns nicht mehr gesehen haben.

Voller Ungeduld sehe ich also Deinem Kommen entgegen, mein lieber Günter. Ich habe beim Kuraten, wo ich selber lebe, schon für Dich Quartier gemacht; Du wirst hier aufs beste aufgehoben sein. Also denn auf ein frohes und glückliches Wiedersehen, in wenigen Tagen hoffentlich schon.

Dein Franz.«

Mit einem Lächeln legte Günter Marr den Brief wieder zusammen. Doch immer noch der Alte mit seinem Ueberschwang in Lust und Leid, gar so leicht begeistert, aber auch ebenso schnell wieder entmutigt – der gute Franz. Unwillkürlich flog sein Gedenken rückwärts, die ganze lange Spanne Zeit; bald drei Jahrzehnte waren es nun schon, daß ihre Freundschaft dauerte. Bereits mit ihren frühesten Kinderspielen hatte es angefangen und war so geblieben, durch Schule und Hochschule hindurch, bis zum Abschluß ihres Studiums in München, wo er dann als junger Ingenieur in die Welt hinausging.

Wirklich ein herzensguter, treuer Kerl war er immer gewesen, der Franz Hilgers. Und er hielt auch ihm die Stange, lohnte ihm seine Anhänglichkeit auch seinerseits. Obwohl sie beide etwa gleichaltrig waren, hatte er bei diesem Freundschaftsverhältnis doch stets die Führer- und Beschützerrolle gehabt, immer seine Hand über den Leichtverletzlichen und Schwachen gehalten, wenn die anderen ihm etwas am Zeuge flicken wollten. Wie schon bei den ersten Sextanerschlachten, so auch später noch, bis in die letzten Studentenjahre hinein.

Er mochte ihn auch wirklich gern, den Franz, trotz ihrer Verschiedenheit. Vielleicht war es die gerade, die sie so aneinanderband. Er selber, eine ausgesprochen selbstherrliche, kraftvolle und tätige Natur, hätte sich wohl kaum mit einer verwandten Art auf die Dauer verstehen können; Franz Hilgers' weichanschmiegendes und allzeit nachgiebiges Wesen dagegen ließ es nie zu Reibungen kommen. Er fügte sich nicht nur willig, sondern war obendrein noch dankbar für eine solche Führung. So ergänzten sie sich beide in dieser Freundschaft in glücklicher Weise.

Marr hatte unter solchen Umständen Franzens kleine oder größere Schwächen denn auch stets mit der wohlwollenden Nachsicht des Stärkeren gegenüber dem dienstwilligen Vasallen hingenommen. So lächelte er denn auch jetzt gutmütig über die Art, wie der Freund mit seiner leicht erregbaren Phantasie sich die Fährlichkeiten seines Unternehmens ausmalte und ins Ungeheuerliche steigerte. Freilich, es war ja gerade kein Spaß gewesen; er merkte es noch heute an sich, aber doch nicht halb so schlimm, wie Franz meinte. Diese phantastische Vorstellung war zwar weniger seine Schuld als die des Artikelschreibers, und der Aufsatz in der »Woche« hatte Marr daher auch schon manchmal geärgert. Er hatte sich ja nicht interessant machen wollen. Woran ihm einzig und allein bei der Veröffentlichung gelegen war, das war die Tatsache: Auch ein Gebirge wie die Kordilleren war heutzutage keine Schranke mehr für den Verkehr in den Lüften. Das Drum-und-Dran, das seine eigene Person anlangte, von dem er dem Mitarbeiter der »Woche« nur ganz beiläufig erzählt hatte, war nicht für die Oeffentlichkeit bestimmt gewesen.

Na, nun war es einmal geschehen, und es lohnte nicht, sich immer wieder von neuem deswegen zu verdrießen. Also Schluß damit! Im übrigen war der Brief von dem braven Franz ja nur gut gemeint, und darum hatte er seine Einladung angenommen. Der Aufenthalt hier oben, in der kräftigenden, freien Luft der Berge, würde seinen Nerven, die doch einen ziemlichen Schock bei der Geschichte abbekommen hatten, sicher wohltun und ihn bald in den Stand setzen, seinem Beruf wieder nachzugehen, die gewichtige Aufgabe, die ihm drüben in Chile übertragen war, erfolgreich zu Ende zu führen. Und überdies, er freute sich auch wirklich darauf, den alten Jugendgefährten nach so langer Zeit wiederzusehen.

Günter Marr barg den Brief in seiner Brusttasche, nahm einen herzhaften Schluck von dem Wein und trat dann wieder zur Karte an der Wand.

Er vertiefte sich diesmal in ihr Studium. Mit geübtem Auge verfolgte er den Weg. Seiner Schätzung nach wohl fünfzehn bis sechzehn Kilometer, also im Gebirge, bei anscheinend starker Steigung, eine Fußwanderung bis fünf Stunden. Dann kam der Wirt zurück. Günter Marr sah zu ihm auf.

»Nun, alles besorgt?«

»Ja, der Spengler-Toni wird in einem Stündchen zur Stelle sein mit dem Muli. Da haben der Herr ja dann auch gleich Gesellschaft und Führung für den Weg.«

Der junge Reisende sah zum Fenster hinaus ins Tal mit seinen hochragenden Bergwänden. Noch freilich lag draußen auf den Hängen das Gold der späten Nachmittagssonne; aber er kannte das, in einer Stunde war die Sonne fort. Gerade die beste Zeit zum Wandern – es wäre schade gewesen, sie hier unnütz zu versitzen. Zudem, es war ihm auch nicht viel an der Gesellschaft des Maultiertreibers gelegen. So entschied er sich denn:

»Ich will lieber schon immer vorausgehen; der Weg ist ja nicht zu verfehlen. Also überantworte ich Ihnen denn mein Gepäck; Sie wissen ja, wo es hin soll, droben in Glurns.«

»Ganz wie der Herr wollen. Ich werd's schon richten, daß der Koffer gut mitkommt.«

Ein Nicken, Günter Marr erledigte seine kleine Zeche, griff nach Lodenmantel und Eichenstock, und mit einem kurzen, frischen Gruß verließ er das Wirtshaus.

Gleich hinter Halden verengerte sich das Tal zu einer langgestreckten Schlucht. Eine Hochgebirgslandschaft von wilder Zerrissenheit und düsterer Schwere. Ein versteinertes Stück Urgeschichte der Erde. Hier hatte sich einst in Vorzeiten ein Gletscher hindurchgezwängt durch die enge Felsenspalte und sie allmählich zerfressen und zermahlen. Die Spuren dieser ungeheuren Arbeit waren auf jedem Schritt des Weges zu erkennen: Ueberall an den Bergflanken Gletscherschliffe und Risse.

Unwillkürlich mußte Marr jener grauen Zeiten gedenken, die der Anblick dieser Landschaft so lebendig in die Vorstellung rief. Jener Urtage der Erde, wo wie diese Schlucht so auch weiter unten das ganze, weite Tal meilenlang, wohin das Auge reichte, nur ein einziger ungeheurer Eisstrom war, Hunderte von Metern tief, aus dem nur die Flanken und Kuppen des Gebirges sich heraushoben. Jenes malmenden Kampfes zwischen Fels und Eis, zwischen den wilden Urkräften der Erde, dessen Male auch heute sichtbar waren. Wie die Walstatt einer Gigantenschlacht sah es hier aus. Ueberall ein Trümmergewirr, Riesenblöcke, wild umhergestreut, als ob sie den ermattenden Händen sterbender Titanen entsunken wären. Unheimlich, düster drohend, als ob sie geradeswegs aus der Hölle stammten, lagen sie da; dicht bewuchert von schwärzlich zottigem Moos, aus dem es beständig herniedersickerte und träufelte.

Marrs Blick überflog die Trümmer in vollem Verstehen. Was für ein Schauspiel mochte es gewesen sein, als damals, unterhöhlt vom Eisstrom, diese überhangenden Bergflanken herabstürzten mit einem tosenden Krachen, das die Grundfesten der Erde erbeben ließ. Und aus Marrs Augen brach es in einem dämonischen Verlangen: Wer das hätte mit erleben können!

Dann glitt sein Blick zur Tiefe nieder, zum Bett des Wildbachs neben ihm; noch heute der Abfluß des Gletschers weiter droben am Talschluß. Dumpf brausend zwängte er seine Fluten durch die Klamm. Hier und da bildeten diese gewaltige kesselförmige Auswaschungen, wo sich die gelbschäumenden Wasser gurgelnd und wirbelnd umherjagten wie eingekerkerte Bestien, die heulend nach einem Ausweg suchten.

Hart zwischen der sich steil auftürmenden Felsenwand und dem jähen Absturz des Bachbettes zog sich der Weg, dem Günter Marr folgte. Ein uralter Saumpfad von nur Meterbreite oft. Hier mochten schon zu den Zeiten der Römer Mann und Lasttier ihren Weg gesucht haben, hinauf zur Paßhöhe, die hinüberleitete zu südlichen Tälern, ins Welschland hinüber. Vom Wegrand stieg der strenge Arzneigeruch des Salbeikrautes auf. Sonngebleichtes Wurzelwerk abgestorbener Baumstämme umklammerte noch hier und da zur Seite die harte Felsenbrust. Oft gespenstig anzusehen gleich den verwitterten Rippen eines Skeletts. Ein schwerer grauer Himmel hing über all dem.

Wie ein lang sich hinstreckender Torgang war der Engpaß dieser Schlucht. Eine Pforte düsteren Schweigens, die das ganze obere Gebirgstal abschloß von der übrigen Welt. Und wieder kam Günter Marr das Verwundern: Wie konnte es nur geschehen, daß der Freund sich da hinten vergrub in dieser verlorenen Einsamkeit? Und schon volle zwei Jahre – was trieb er nur dort eben? Hatte er denn seinen Beruf ganz aufgegeben?

Unwillkürlich beschäftigten sich Marrs Gedanken da mit den Menschen, die Franz Hilgers seine Freunde nannte, mit denen er sein Leben dort teilte. Er wußte von ihnen nur den Namen. Gerboth – so hatte ja wohl vorhin der Wirt drunten gesagt. Ein ungewöhnlicher Name, aber dennoch war es ihm, als er ihn hörte, im Augenblick gewesen, als ob er ihn schon einmal vernommen haben müßte. Was mochte dieser Gerboth sein? Offenbar doch jemand von gleicher Bildungsstufe – vielleicht ein Arzt, der sich dort droben niedergelassen hatte?

Während Marr im Weiterwandern so seine Gedanken spann und ständig höher hinaufkam in dem Tal, das sich nun wieder erweiterte und hier und da tiefgrüne Wiesenstreifen neben dem Lauf des Wildbaches zeigte, hatte sich die Sonne des späten Nachmittags immer näher zum Rand der säumenden Gebirge hinabgesenkt und war nun ganz hinter ihm verschwunden. Sofort empfand Marr starke Abkühlung. Ein fast rauher Luftzug strich ihm entgegen, herab durch die Schlüfte von Firn und Gletscher droben. Aber zugleich strömte es doch auf ihn ein wie eine heilsame, herbe Kraft, belebend und stählend. Sicherlich – kerngesund und stark mußte sein, was hier oben Wurzel geschlagen hatte und zu leben vermochte. Und abermals kam ihm da das stille Verwundern, wenn er an Franz Hilgers dachte.

Stunde um Stunde war der einsame Wanderer nun schon seines Weges gezogen, ohne daß er einem einzigen Menschen begegnet wäre. Immer dichter spann die Dämmerung hier unten im Tal, das sich jetzt wieder verengt hatte, ihre grauen Schleier. Doch nun änderte sich allmählich die Strenge des Bildes durch das lichte Gefieder von Lärchenbäumen und hangendem Moos, auch Zirbeln und dunkle Tannen säumten das Bachbett, und, der Biegung des Weges folgend, sah er plötzlich vor sich langgestreckte grüne Wiesenmatten, über die der Blick frei hinschweifte bis oben zum Schluß des Tales, wo um einen spitzen Kirchturm ein kleines Häuflein weißer Häuser aufschimmerte. Wie verschüchterte Küchlein um die Glucke drängten sie sich um das Gotteshaus, das sie schützend überragte.

Glurns – nur etwa noch eine gute Viertelstunde weit, also am Ziel! Und lebhafter schritt Marr aus. Wie er dann ein Stück weiter war, streifte sein Blick über den Wiesenhang neben ihm, der sanft zu einer höher gelegenen Talstufe anstieg, und blieb nun an deren Rand haften. An einer einsamen menschlichen Gestalt, die sich dort schattenhaft, mit scharfen Umrissen gegen die hellere Luft abzeichnete. Eine Frau, die auf einem Felsblock saß und mit abgewandtem Antlitz hinaufschaute zu den Firnen droben, nahe dem ewigen Aether, über die der letzte rosige Hauch der scheidenden Sonne hingeisterte. Neben ihr stand ein riesiger Bernhardiner. Er hatte den herannahenden Wanderer wohl schon lange gewahrt und äugte nun herüber zu dem Fremden, unbeweglich, aber doch mit gespannter Aufmerksamkeit. Ein leiser Laut der Wachsamkeit mochte jetzt seine Herrin aufgestört haben, denn auch sie wandte nun den Kopf und blickte zu Marr herüber. Es war zu weit, um den Ausdruck ihres Gesichtes zu erkennen, aber in der Haltung ihrer ganzen Gestalt und in der Bewegung eben war etwas, das Marr fesselte. So gar keine Hast, die etwa Neugier verraten hätte – obwohl ein Wanderer wie er doch sicherlich ein Ereignis war in dieser Einsamkeit – nein, eine eigene große und stille Ruhe lag über ihrer Erscheinung, die so zusammenklang mit der Landschaft, aus der sie wie herausgewachsen dort saß. Ganz unbeweglich jetzt wieder, während ihm nur ihr Auge unverwandt folgte.

Marr war nun vorüber und hatte sie bereits im Rücken, fühlte indessen noch immer ihren Blick auf sich haften. Auch seine Gedanken waren bei ihr. Franz hatte in seinem Brief zwar nichts von einem weiblichen Wesen im Hause seiner Freunde erwähnt, doch ohne Zweifel mußte sie dorthin gehören, ihrer ganzen Erscheinung nach. Aber in welchem Verhältnis stand sie zu diesem Hause? War sie die Tochter oder die Frau Gerboths? Sie war ja offenbar noch jung, aber diese Ruhe gab ihr etwas Frauenhaftes.

Während er in solche Gedanken verloren weiterschritt, hörte Marr plötzlich einen lauten Anruf.

»Hallo – Günter!«

Er sah auf. Quer über die Wiese kam vom Dorf her ein Mann gegangen, eiligen Schrittes, und schwenkte ihm nun lebhaft den Hut entgegen. Er erkannte die schlanke, fast schmächtige Gestalt, die etwas vornübergeneigte Haltung – Franz Hilgers.

Da blieb er stehen und erwiderte winkend den Gruß. Mit weitausgestreckten Händen eilte der andere ihm entgegen, nun war er heran, ergriff seine Rechte, und immer wieder schüttelte er sie. Lächelnd ließ Günter Marr eine Weile diesen Freudenausbruch über sich ergehen, während Hilgers zugleich mit warmen, bewegten Worten seinem Empfinden Ausdruck gab. Doch jetzt blickte der Freund an ihm vorüber, den Weg zurück, den er heraufgekommen war.

Günter Marr folgte dem Blick.

»Was suchst du?«

»Dein Gepäck. Bist du denn nicht mit dem Muli und dem Treiber heraufgekommen?«

Marr schüttelte den Kopf.

»Ich bin schon immer vorausgegangen.«

»Was – so ganz allein?«

»Ja, und es war sehr schön. So genoß ich alles ganz ungestört. Eine wunderbare, große Natur. Nur so einsam. Sag' –,« und Marr sah fragend den andern an –, »darüber hab' ich mir ja schon den ganzen Weg den Kopf zerbrochen: Wie in aller Welt kommst du hierher? Gerade du! So etwa in den entlegensten Winkel Tirols.«

»Du kannst ruhig sagen: Europas. Denn in der Tat ist Glurns das höchstgelegene Dorf des Kontinents.«

»Um so berechtigter also meine Frage: Wie bist du hierher geraten?«

Franz Hilgers lächelte leise. Etwas Geheimnisvolles, Glückliches leuchtete dabei in seinen Zügen auf. Dann aber sah er den Freund an.

»Das ist eine lange Geschichte, Günter, die sich nicht so im Handumdrehen erzählen läßt. Du sollst sie hören, doch in Ruhe – nachher. Jetzt aber zu dir; das ist ja auch viel wichtiger. Vor allem also laß dich noch einmal von Herzen willkommen heißen hier oben. Du glaubst ja nicht, wie ich mich freue, dich wiederzusehen! Und gottlob so frisch. Ich hatte nach allem gefürchtet, dich doch noch recht angegriffen zu finden. Kein Mensch würde dir ja ansehen, was du durchgemacht hast.«

»Ach – alles längst nicht so schlimm! Im Grunde fehlt mir überhaupt nichts mehr. Nur daß mein Herz eben noch ein bißchen Sperenzchen macht, und überhaupt die Nerven. Etwas Auffrischung mag ich also in der Tat wohl nötig haben – aber das ist auch alles, sonst geht's mir ausgezeichnet.«

»Um so besser! Da wirst du hier geradezu glänzende Fortschritte machen.«

Die Freunde schritten während ihrer Unterhaltung weiter. Dabei waren sie ins Dorf gekommen.

»So, da wären wir!« Hilgers wies auf das Haus gleich neben der Kirche. »Dort wohnt der Kurat, da wirst du nun auch mit mir hausen.«

Günter Marr warf einen Blick auf das bezeichnete Gebäude, ein Bauernhaus wie alle anderen hier, nur vielleicht ein wenig geräumiger und höher. Dann fragte er im Weiterschreiten, unvermittelt:

»Was ich dich noch fragen wollte – wer war das Mädchen, oder war es eine junge Frau, die ich da vorhin draußen vorm Dorf traf? Mit ihrem großen Bernhardiner.«

Wieder stand das eigene, geheimnisvolle Lächeln um Franz Hilger's Mund.

»Das war Hilde Gerboth.«

»Die Tochter deines Freundes?«

»Ganz recht – des Meisters einziges Kind.«

»Meister?« Marr sah auf. »Was ist dieser Herr Gerboth denn? Ich meinte immer Arzt.«

Franz Hilgers lachte, doch dann blickte er den Freund seinerseits mit Erstaunen an.

»Hast du denn noch nie von Karl Gerboth gehört? Der Name hat doch einen weiten Klang.«

»Tut mir leid.« Marr hob die Schultern, aber nun besann er sich. »Das heißt – wart' einmal: Es war mir vorhin drunten in Halden doch im Augenblick so, als müßte ich auch den Namen am Ende schon gehört haben.«

»Ganz ohne Zweifel! Karl Gerboth ist doch einer unserer hervorragendsten Maler. Hat er freilich auch nur eine kleine, so doch auserlesene Gemeinde; seine Verehrer nennen ihn den deutschen Segantini. Sicherlich ist er wohl der bedeutendste Alpenmaler der Gegenwart und hat einen ganz neuen Stil gefunden für die herbe Größe der Firnenwelt.«

»So, so,« – Günter Marr nickte vor sich hin – »aber wie kommst du denn zu dem?«

»Das gehört mit zu meiner Geschichte. Doch das alles nachher, da steht ja schon der Herr Kurat vor der Tür seines Hauses, um dich zu begrüßen. Also komm, daß ich dich mit unserem Herbergsvater bekannt mache. Er ist übrigens in Wirklichkeit einer, trotz seines geistlichen Standes; er hat nämlich die Erlaubnis zum Unterhalt eines kleinen Gasthauses erhalten. Es war eine Notwendigkeit, denn wir haben hier in Glurns sonst nichts dergleichen. So traf's sich gut, daß ich hier meines Bleibens fand und nun auch du. – Grüß' Gott, Hochwürden, da bring' ich Ihnen nun meinen Freund Marr!«

Der schon grauhaarige Geistliche mit verwittertem, aber frischfarbigem Antlitz empfing den Freund seines jungen Hausgenossen mit herzlicher Freundlichkeit, und auch die alte Wirtschafterin, die hinter ihm stand, bot diesem treuherzig die Hand. Beide geleiteten Marr dann hinauf in sein Zimmer, das neben dem Hilgers' gelegen war. Der Kurat ließ es sich nicht nehmen, sich hier in Person zu überzeugen, ob auch in allem für den neuen Gast gesorgt war; doch dann wandte er sich an diesen und gab auch der Schaffnerin seines Hauses einen Wink.

»Sie werden gewiß müde sein von der langen Reise und nun ein wenig der Ruhe pflegen wollen, da möchten wir nicht stören«, und er zog sich alsbald mit der Haushälterin zurück.

»Ja – du willst vielleicht wirklich etwas ruhen nach dem beschwerlichen Fußmarsch hier hinauf?«

»Kein Gedanke! Das war ja geradezu eine Erfrischung, das Gehen in der reinen, kräftigen Gebirgsluft.«

Und Marr trat ans Fenster, das er weit öffnete.

»Vorsicht! Du wirst dich erkälten. Du bist das nicht gewohnt.«

»Erkälten?« Der andere lachte herzhaft auf. »Mein lieber Junge, wenn man gewohnheitsmäßig zwischen 4000 und 5000 Meter seine Spazierflüge macht, dann ist man wohl gefeit gegen so ein bißchen Luftzug.«

»Da hast du ja allerdings recht« – fast verlegen sagte es Franz Hilgers.

Marr blickte hinaus ins Tal, in das sich inzwischen schon tiefe Schatten gesenkt hatten.

»Wie früh das hier Abend wird! Schade – wenn die Sonne fort ist, bekommt das ganze Bild etwas so Bleiches, Totes.«

Und er sah empor zu den Hochzinnen droben, die jetzt in der Tat dastanden mit einem fremden, erstorbenen Schein.

»Freilich – das ist einmal nicht anders bei uns in den Bergen. Der Tag endet früh. Man muß ihn daher auch beizeiten anfangen. Wir leben daher hier auch wie die Bauern.«

Günter Marr antwortete nicht gleich. Doch nun wandte er das Antlitz vom Fenster her.

»Werden wir nachher noch hinübergehen zu deinen Freunden?«

»Nein – ich dachte, es würde dir lieber sein, wenn wir heute abend allein blieben. Du hast dann Zeit, dich hier in aller Bequemlichkeit ein bißchen einzurichten. Das heißt, wenn du etwa lieber –?«

»Nein, nein – es ist mir ganz recht so.«

Franz Hilgers trat jetzt auch seinerseits ans Fenster.

»Wo dein Gepäck nur bleibt. Es könnte jetzt eigentlich bald hier sein.«

Sie blickten eine Weile zusammen hinaus. Es war schon ganz dunkel im Dorf. Hier und da stahl sich ein Lichtschein hinter den festverschlossenen Läden hervor. Auf der Hausbank gerade ihnen gegenüber saß ein Alter und rauchte geruhsam seine Pfeife, ein Enkelkindchen saß ihm zu Füßen still spielend am Boden. Feierabendstimmung, allertiefster Frieden. Und da draußen stand die Welt in Brand.

Marr versank in ein Sinnen. Wie völlig entrückt aus Raum und Zeit schien dieser Erdenwinkel. Traumhaft spann es sich hier um die Seele.

Aus einem Hausflur nebenan drang ein schwacher, rötlicher Schein. Ein Muttergottesbild mochte dort hängen unter einem geweihten Lämpchen. Eintöniges, blechernplärrendes Murmeln von Frauen und Kindern drang von dort herauf. Dazwischen von Zeit zu Zeit, unvermittelnd einfallend, eine tiefe Mannesstimme – die Abendandacht der Familie.

Unwillkürlich lauschte Marr hinüber. Ein Erinnern flog ihn an, von weit her: Wie er drüben im Indischen Archipel geistlichen Zeremonien von Naturvölkern beigewohnt hatte. Ganz ähnlich war das gewesen. Der Urgrund aller Religionen war ebenderselbe. Sie quollen alle aus den gleichen dunklen Tiefen der Menschennatur. Und ohne Frage, es lag für eindrucksfähige Seelen etwas Beruhigendes, sanft Zwingendes in dem rhythmischen Auf und Nieder dieser Stimmen, das den Andächtigen dort mehr geben mochte als der Gedankengehalt der gewohnheitsmäßig hingesprochenen Worte.

Doch nur eine Weile horchte Marr so hinaus. Dann schloß er das Fenster. Genug nun – das war doch nicht seine Welt. Und er kehrte sich dem Freunde zu.

»Du wolltest mir ja erzählen, Franz – ich glaube, es wäre jetzt die richtige Stunde.«

»Wenn du willst, gern.« Hilgers folgte Marr ins Innere des Gemachs, wo dieser nun ein Zündholz aufflammen ließ.

»Ach – willst du Licht machen?«

»Stört's dich?«

»Wenn's dir gleich ist, laß uns lieber noch eine Weile im Dämmern sitzen. Es plaudert sich dabei so gut.«

Marr war zwar kein Freund verträumter Stimmungen, Licht und Klarheit waren ihm Lebensbedürfnis, aber er tat dem anderen den Gefallen.

»Wie du willst«, und er ließ sich auf dem kleinen, harten Sofa an der Rückwand nieder.

Franz Hilgers nahm in der Nähe Platz auf einem Stuhl.

Vornübergeneigt, die Arme auf die Knie und die Hände ineinandergelegt, begann er nun:

»Ich muß ziemlich weit zurückgreifen bis in unsere Münchener Zeit. Du weißt ja, es gärte schon damals in mir.«

Marr nickte.

»Ich lag im Kampf mit mir selber, in so mancher Beziehung. Ich fand mich nicht zurecht, weder in mir noch in meiner Umwelt und in meinem Beruf. Der Architekt lag mir im Grunde wenig, zu viel Mathematik und Technik, es spukte eigentlich schon immer der Künstler in mir. Ich saß mehr in den Ateliers als in den Hörsälen damals in München.«

»Ich weiß und war immer darauf gefaßt, daß du eines Tages noch umsatteln würdest. Also das ist's – darum steckst du hier oben: Maler bist du geworden!«

»Ja – das heißt, ich bin noch ein Werdender. Nur, ich habe jetzt meinen Weg gefunden – auch sonst.«

»Inwiefern?«

Ich deutete ja schon eben an: Es war ein Suchen in mir, noch in manch anderer Beziehung. Eine Unsicherheit, unter der ich litt, mehr als du wohl ahntest. Ich habe immer viel nachgedacht über mich, und ich glaube, ich habe mich ziemlich bald richtig eingeschätzt. Meine übergroße Reizbarkeit gegenüber meiner Umwelt – meine Schwäche, wenn du es willst – war mir sehr wohl bewußt. Was andere, was Menschen wie du in ihrer glücklichen Art mit einem Lachen abschütteln, das fraß an mir, lange und innerst. Ich stieß mich wund, an Dingen und Menschen.«

»Allerdings, du warst immer so eine Art Butterkrebs; das ist wahr. Dir fehlte der Schutzpanzer einer gesunden Gemütsruhe.«

»Das empfand ich verstärkt gerade damals, als unsere Wege sich trennten. Du hattest mir diesen Panzer zu einem guten Teil ersetzt, hieltest mir vom Leib, was mich hätte verwunden können, und halfst mir, wo es einmal doch traf, bald wieder darüber hinweg. Und ich werde dir das nie vergessen.«

»Sei so gut! Nun willst du mich wohl mit aller Gewalt zu deinem Schutzheiligen verklären?« Marr lachte. »Du weißt, ich habe herzlich wenig das Zeug dazu.«

»Nun, meinen Dank wirst du dir immerhin schon gefallen lassen müssen. Aber ich will's kurz machen; als ich nun so mir selber überlassen war, da ging das Leiden für mich doppelt an, um so mehr, als ich nun ja auch meine gewohnte Bahn verließ, beruflich umsattelte, nachdem ich anstandshalber vorher noch die große Staatsprüfung abgelegt hatte. Das gab natürlich allerlei Reibungen, zum Teil recht schmerzhaft sogar. Mein Großvater, von dem ich abhängig war, lebte ja damals noch und wollte durchaus nichts wissen von meinen neuen Plänen.«

»Kann mir's wohl denken.«

»Nun – es ist ja jetzt vorüber. Er starb bald danach, und ich wurde damit mein eigener Herr. Aber diese völlige Unabhängigkeit war ein Danaergeschenk für mich: sie wurde ausgenutzt. Ich hatte nun einmal ein großes Anlehnungsbedürfnis, du warst nicht mehr da, so kam es eben: es drängten sich allerhand Leute an mich heran, ich war vertrauensselig und mußte es mehrfach teuer bezahlen. Nicht bloß mit Geldverlusten, vielmehr schmerzte mich die Erkenntnis, daß es so viel Schlechtigkeit auf der Welt gab.«

»Armer Kerl, das war freilich eine bittere Schule für dich.«

»Ja, das war es wirklich, und es kam schließlich ein großer Ekel über mich – vor den Menschen. Ich wurde scheu, ein wahrer Einsiedler, und zog mich auf mich selbst zurück. Das ging so eine Weile, aber ich bin doch nicht die Natur, ganz für mich allein zu leben auf die Dauer; namentlich nicht in einer Großstadt wie München. Das Gefühl der Vereinsamung kommt da doppelt stark über einen, inmitten all der Tausende rundum, die gesellig und froh miteinander leben, und nur man selber steht mitten drin, verlassen – wie ein Ausgestoßener.«

Marr machte eine leise Bewegung. War es Bedauern oder Unwillen? Das Dunkel im Zimmer verschleierte es.

»Aber ich will dich verschonen mit all den Einzelheiten dieser traurigen Zeit. Genug, es stand eines Tages für mich fest: so ging das nicht weiter! Ich mußte fort aus München, irgendwohin, wo ich diesem Leben fern war, in dem ich mich doch nie zurechtfinden würde, aber wo ich doch Menschen hatte, an die ich mich anschließen konnte, und zugleich Gelegenheit, weiter zu arbeiten an meiner künstlerischen Ausbildung. So kam ich auf einen Gedanken, der dir wahrscheinlich recht absonderlich vorkommen wird, der mir aber in meiner damaligen Seelenverfassung nahelag. Es gibt da unten am Lago maggiore eine neue Lebens- und Künstlergemeinschaft. Wie eine große Familie hausen sie dort zusammen, nur sich und ihren höheren Zielen zugewandt, die Menschen, die sich zueinandergefunden haben aus Seelenverwandtschaft. Ich hatte in München schon manchmal davon gehört, nun sagte ich mir: das müßte das Richtige sein auch für mich. So fuhr ich denn eines Tages hin.«

»Und es wurde natürlich abermals ein Reinfall.«

»Allerdings. Es waren dort wohl in der Tat ein paar wertvolle Leute darunter, denen es ernst war mit ihrem Streben; aber die Mehrzahl . . .«

»Schwindler, die sich auf Kosten von euch Idealisten in dieser neuen Gemeinschaft ein billiges und bequemes Leben verschafften.«

»So ungefähr war es etwa.«

»Das hättest du dir freilich von vornherein sagen können.«

»Gewiß, wenn ich deinen klaren Blick fürs Leben gehabt hätte, Günter. Aber war's auch eine neue Enttäuschung, so wurde sie mir schließlich doch überreich aufgewogen: da drunten fand ich nämlich den Weg nach hier.«

»Aha!«

»Unter den wenigen, die es ehrlich meinten, war ein lungenkranker junger Maler. Der war ein glühender Verehrer Karl Gerboths, des Künstlers und Menschen; einer selten geschlossenen und abgeklärten Persönlichkeit, wie er ihn mir schilderte – in Wahrheit ein Philosoph, ein Weltweiser. Wie seine Kunst, so der ganze Mann: Firnenlicht, Höhenluft über seinem Wesen! Als mir der andere so viel von dem großen Meister erzählte, dem er durch einen Zufall für ein paar Wochen nahegekommen war – ein verrenkter Fuß hatte ihn auf einer Hochgebirgswanderung dort oben in Glurns aufs Krankenbett gezwungen, und Karl Gerboth hatte sich mit dem Pfarrer seiner angenommen –, da stand es für mich fest: dort würde auch mein Platz sein, dort würde mein Leben noch einmal seinen Ankergrund finden. Doch als ich zu meinem neuen Bekannten von diesem Gedanken sprach, mußte ich erfahren: es war nicht leicht, um nicht zu sagen unmöglich, an Karl Gerboth heranzukommen. Er hielt sich in der Unnahbarkeit aller wirklich Wertvollen und Großen. Darum hatte er ja schon seinen Wohnsitz gewählt, weitab von den Menschen, hoch droben an der Grenze des ewigen Eises in jenem weltverlorenen Dörfchen des Hochgebirges. Selbst seinen Verehrern und Freunden war der Zutritt zu ihm verwehrt, und die Gesuche, als Schüler von ihm angenommen zu werden, wurden stets abgelehnt. So schien es leider denn aussichtslos, was ich mir vorgenommen hatte. Aber endlich faßte ich mir trotz allem ein Herz. Hatte ich doch von meinen Bekannten zugleich auch so viel gehört von der Großherzigkeit dieses seltenen Mannes, daß ich ein gläubiges Vertrauen zu ihm faßte. Da setzte ich mich denn hin und schrieb an ihn, ganz wie mir's ums Herz war; ich sagte ihm offen, was ich bei ihm suchte als werdender Künstler und als Mensch. Und dies letztere mag es wohl gerade gewesen sein, was mir zum Erfolg verhalf, denn zwei Wochen später hatte ich den Brief in Händen, der mir erlaubte hier heraufzukommen.

»So also kam es. Und du erlebtest diesmal keine Enttäuschung?«

»Enttäuschung?!«

»Mit den Philosophen ist das doch so eine Sache. Meist Menschen, die irgendwie gescheitert sind: Schwache – Mißgünstige – oder Uebersättigte. Auf alle Fälle also Leute, die sich am Leben rächen wollen. Ich habe doch meinen Nietzsche mit Erfolg gelesen.«

Franz Hilgers lächelte überlegen.

»Du kennst eben den Meister nicht, sonst würdest du nicht so sprechen. Wer je das Glück hatte, diesen Mann kennenzulernen, der weiß: Karl Gerboth kann nie und nimmer enttäuschen – in keiner Beziehung.«

»Nun, dann um so besser. Da ist denn dein Suchen endlich belohnt worden.«

»Im vollsten Maße; hier hab' ich alles gefunden, was ich je zu hoffen wagte – und mehr noch, viel mehr!«

Marr horchte auf.

»Wie meinst du das?«

Trotz des Dunkels, das im Zimmer war, stieg es heiß in Hilgers' Wangen. Doch dann beugte er sich dem Freunde noch näher zu.

»Ich habe nie ein Geheimnis vor dir gehabt, Günter, so sollst du denn auch das erfahren. Du weißt ja, wie ich immer zu den Frauen stand.«

»Ja, das heißt, soviel ich mich erinnere,« – Marr lachte gutmütig – »standest du eigentlich gar nicht!«

»Ganz recht; ich mied sie. Nicht etwa, weil sie mir nichts galten; im Gegenteil, meine Gedanken drehten sich insgeheim nur allzusehr um sie. Aber ich täuschte mich nie darüber. Ich gehörte nicht zu den Leuten, die Glück bei den Frauen haben. Die mußten aus anderem Holz geschnitten sein. Mir fehlte jenes Selbstbewußtsein, die Siegeszuversicht, die auch hier entscheidet. Da mich aber schmerzliche Erfahrungen in dieser Beziehung ganz besonders getroffen hätten – trotz allem war ich doch Manns genug in diesem Punkte –, so blieb ich lieber ganz davon. Ich galt schließlich für einen Weiberfeind – oder Gott weiß was sonst. So stand es also, bis ich hierherkam und Hilde Gerboth kennenlernte. Sie ist ja ganz anders als all die übrigen, sieht nicht auf Aeußerlichkeiten, ist fern von allen weiblichen Eitelkeiten, man fühlt sich ihr gegenüber vom ersten Augenblick an sicher und vertraut wie bei einem guten Kameraden – kurzum, es war wirklich kein Wunder, daß es so kam.«

Ein kurzes Schweigen. Dann fragte Marr:

»Ihr seid verlobt?«

»Das noch nicht – aber ich habe bereits die Einwilligung ihres Vaters.«

»Und sie selber?«

»Ich darf nach allem wohl annehmen, daß der Wunsch ihres Vaters auch der ihre ist, wennschon wir darüber noch nie gesprochen haben. Der Meister wollte es nicht.«

»Warum denn nicht?«

»Wir sollten uns beide erst noch besser kennenlernen, noch mehr aneinander gewöhnen. Auch ist der Meister der Ansicht, Hilde sei noch zu jung. Er möchte ihr so lange wie möglich ihre sorglose Jugend und Unbefangenheit erhalten. Sie wird im nächsten Jahre erst mündig, bis dahin sollte ich also noch warten.«

»Hm,« – aus dem Dunkeln klang es herüber – »und dieser Wunsch des Vaters war dann für dich Befehl?«

»Ja – wie sollte er denn nicht?«

»Nun, gar so selbstverständlich ist das doch wohl eigentlich nicht. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte ein Mädel lieb und sollte Jahr und Tag neben ihr her leben, ohne ihr das auch nur mit einem Wort, einem Blick, zu verraten – Herrgott, Mann, hast du denn Fischblut in den Adern?«

»Das wohl nicht,« – es klang ein wenig verletzt – »aber allerdings auch nicht dein draufgängerisches Temperament.«

Marr zuckte die Achseln.

»Ist ja schließlich auch deine Sache – wenn's dir so recht ist.«

Franz Hilgers lenkte ein, wie immer gutmütig und schnell versöhnt.

»Es ist auch mir nicht immer ganz leicht gefallen, das will ich gern zugeben. Aber muß ich nicht den Wunsch ihres Vaters achten? Er ist doch schließlich nicht unbegründet.«

»Darüber könnte man auch anderer Ansicht sein.«

»Doch nicht, wenn man Näheres weiß, und der Meister sprach ganz offen mit mir darüber. Er sagte mir, der Gedanke, sein Kind einmal fortgeben zu müssen an einen fremden Mann, habe immer einen tiefen Schatten über sein Leben geworfen. Um das ganz zu verstehen, müßtest du freilich noch mancherlei wissen, indessen –. Nur soviel möchte ich dir jedenfalls sagen: Hilde hat keine Mutter mehr. Schon seit ihrer frühesten Jugend ist sie ganz auf ihren Vater angewiesen. Beide hängen also sehr aneinander. Es ist ein ganz außergewöhnlich inniges und schönes Verhältnis. Das alles rechtfertigt daher wohl, was sonst nicht so selbstverständlich wäre. Kurzum – der Meister hat also nie etwa daran gedacht, seine Tochter ihrer natürlichsten Aufgabe zu entziehen, nur die Sicherheit wollte er haben, daß sie auch ihr Glück dabei fände. Und Hilde ist eine eigene Natur, ganz in seinem Geiste erzogen, nicht jeder könnte sie verstehen, ist es da nicht nur zu begreiflich, daß er die Gewähr haben möchte, daß der Mann, dem er einmal sein Kind gibt, auch wirklich alle diese Voraussetzungen erfüllt?«

»Und diese Gewähr hat er nun bei dir gefunden?«

»Es mag dies wohl überheblich klingen, aber der Meister hält mich in der Tat Hildes für würdig.«

Ein Schweigen trat ein. Dann fuhr Franz Hilgers fort, ehrlich, wie er gegen sich selber war, nun auch gegen den Freund.

»Es ist wohl namentlich eins, was ihn da gerade bestimmt haben mag. Der Meister hat immer gewünscht, daß sein zukünftiger Schwiegersohn sich dazu entschließen könnte, in Glurns zu wohnen. Das aber hätte die Sache natürlich sehr erschwert. Den meisten würde es wohl herzlich wenig zusagen, ja einfach ein Ding der Unmöglichkeit sein, ihr Leben dauernd hier oben zu verbringen. Da ich mir aber nichts Besseres wünschen könnte, als stets mit diesen beiden mir so lieben und wertvollen Menschen in engster Gemeinschaft zu leben, ohne Bedürfnis nach der Welt dort draußen, so löste sich in diesem Falle die Frage ganz von selbst.«

Marr nickte vor sich hin. Dann stand er auf und kam heran.

»Ja, mein guter Franz, da wärst du denn, also wirklich am Ziel deiner Wünsche, in jeder Beziehung. Das freut mich aufrichtig; denn – wie du nun einmal bist – war es für dich wirklich nicht ganz leicht, an dies Ziel zu kommen. Von Herzen also alles Glück dazu!«

Ein kräftiger Händedruck besiegelte die Worte. Doch nun sagte Marr:

»Jetzt wollen wir aber endlich Licht machen. Mir war's auch eben, als ob ich drunten Huftritte und Stimmen gehört hätte – mein Gepäck wird wohl angekommen sein.«



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