Paul Grabein
Der Ruf des Lebens
Paul Grabein

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Zu Haus angekommen, ging Hilde Gerboth auf ihr Zimmer, um trockne Kleider anzulegen. Der Meister blieb unten allein. Ruhelos durchmaß er dort die Räume.

Tiefernst waren seine Gedanken. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, um ihm Gewißheit zu geben, der Blick, mit dem sich vorhin Hilde und Marr getrennt hatten, dieses vertraute, stumme Grüßen zweier Herzen, hatte ihm genug gesagt. Nun wußte er es: die Würfel waren gefallen über Hildes Geschick! Jetzt half kein Kämpfen mehr, jetzt hieß es sich nur noch abfinden mit dem Unabänderlichen. Schwer senkte sich ihm da das graue Haupt auf die Brust.

Ein stilles, trauriges Wandern war es für den einsamen Mann, so von Zimmer zu Zimmer, durch die Stätten, die all sein Glück gesehen hatten mit dem geliebten Kinde. Ein Wandern war es durch zwanzig lange Jahre, von der ersten Zeit an, wo ihre kleine Hand zum erstenmal vertrauensvoll und anschmiegend seine Rechte gesucht hatte, die ihr ja die Mutterhand ersetzen mußte. Zwei Jahrzehnte war er seinem Kinde Führer und Berater gewesen, hellen Sonnenschein hatte sie ihm dafür in sein verdüstertes Leben getragen. Nun sollte das alles vorbei sein – für immer.

Da wollte es bitter in Karl Gerboth aufquellen: War dazu all sein Mühen, Hegen und Hoffen, daß nun ein anderer kam, ein Wildfremder, und die Hand danach ausstreckte; gerade nun, wo die Zeit der Ernte kommen sollte? Einsam und mit leeren Händen stand er so am Schlusse seines Lebens.

Aber dies Empfinden war bald überwunden von der tiefer wurzelnden Güte und Einsicht, die ihm zuriefen: Nicht an sich selber denken! Nach rechter Erkenntnis hast du immer gerungen – wohlan, so lerne nun auch dies Letzte noch erkennen, ist es gleich das Schwerste: Das ist Menschenlos! Dazu ziehen wir Kinder groß, daß wir sie hergeben, sobald sie stark genug sind, ihre eigenen Schwingen zu regen. Fliegt nicht auch der Nestling vom elterlichen Horst, sobald er sich flügge fühlt? Was für alle Kreaturen gilt, der Mensch verlange nichts Besseres für sich. Er lerne sich selbstlos freuen der Jugend, die sich ihre eigenen Wege wählt, die wir doch nicht mehr lenken können mit allen Sorgen und Wünschen unseres Herzens. Machtvoller denn Menschenwille und ‑weisheit ist das uralte Gesetz der Schöpfung: Jeder muß dem Gebot seiner Natur folgen und sich erfüllen – sei es ihm nun zu Lust oder Leid!

So rang sich denn in dieser stillen Stunde Karl Gerboth durch zu den letzten und höchsten Weihen des Menschentums, die entsagende Liebe verleiht.

Dann vernahm er Schritte vor der Tür. Leichte Schritte, beflügelt von treibender Ungeduld, kaum die Erde berührend, wie sie nur junges Glück geht. Er kannte solche Schritte – in alten, langverklungenen Zeiten war er selber einmal so gegangen. Und nun trat Hilde bei ihm ein. Einen Augenblick machte sie halt vor der Tür, dann aber eilte sie ihm entgegen wie vorhin beim ersten Wiedersehen, und seine beiden Hände nehmend, seine Augen suchend, bekannte sie:

»Nun ist es doch gekommen: Günter Marr und ich – wir haben uns gefunden!«

Der Meister nickte nur schwer.

»Ich wußte es.«

Da bat sie zärtlich, leise.

»Sei doch nicht so traurig, lieber Vater. Es ist ja mein ganzes Glück!«

»Wollte Gott, es wäre so.«

»Traust du Günter denn gar so wenig, Vater?«

»Er ist mir ein Fremder – was weiß ich von ihm?«

»Aber du wirst ihn kennenlernen und dann wissen: In keine bessere Hand könntest du das Schicksal deines Kindes legen!«

Tief holte Karl Gerboth Atem, er sah die Tochter an mit einem Blick, durchzittert von stillem Leid und doch voll segnender Güte. Dann sprach er zu ihr:

»Nun ist denn die Stunde gekommen, wo ich dich von mir lassen muß. Anders, als ich es mir immer einmal gedacht habe – ganz anders. Aber sei es drum. Hilde – es drängt sich mir da vieles im Herzen. Aber was sind alle Worte? So möchte ich dir denn nur sagen, was der Dichter, der uns beiden so lieb ist vor allen anderen – der Dichter des stillen Firnenlichts, den wir zusammen lasen in so mancher unvergeßlich schönen Stunde – was er einst einer Braut zurief am großen Tage ihres Lebens. Mit tiefer Ergriffenheit hörten wir es jedesmal, nun gilt er von dir selber, mein geliebtes Kind, nun, wo du dem Mann deiner Wahl folgen willst – fort aus meiner Hand und Hut, dem Schicksal eueres Glücks entgegen – der Segensspruch eines wissenden Herzens: Geh und lieb und leide!«

Und langsam zog der Meister seine Tochter an sich.

Wie ein leises Erschauern strich es Hilde bei diesen Worten über die junge Seele. Aber bald erhob sich in ihr wieder zuversichtlich das Gefühl ihres Glückes und treibende Sehnsucht. So bat sie:

»Willst du ihn nun nicht zu uns bitten lassen? Er wird ja so warten!«

Der Meister nickte gütig.

»Ich wollte ohnehin hinüber, um nach Franz Hilgers zu sehen. Er gefiel mir gar nicht vorhin. Da werde ich denn auch bei Marr vorsprechen – und dann schicke ich ihn dir.«

Ein Umarmen, stumm, aber in überquellender Seligkeit, dankte ihm.



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