Paul Grabein
Der Ruf des Lebens
Paul Grabein

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Franz Hilgers war da. Die erste Begrüßung – es war in seinem Zimmer beim Kuraten – lag hinter den Freunden, da sagte Marr:

»Du kommst eher, als du dachtest.«

»Es ist alles wider Erwarten glatt gegangen.«

»Doch wenigstens mal Glück! – Sonst hielt dich ja auch nichts weiter in München.«

»Im Gegenteil, es drängte mich, heimzukommen – so bald wie möglich. Es war ganz sonderbar: in mir war in diesen letzten Tagen eine solche Unruhe. Meine Gedanken waren immerfort hier, als könnte hier etwas passiert sein. – Es ist doch alles wohl bei Gerboths?«

»Alles wohlauf!« und Marr nickte. Aber sein Blick glitt an dem Freund vorüber zum Fenster hinaus.

Ein kleines Schweigen, Franz Hilgers schloß seinen Koffer auf und begann die Sachen wieder einzuräumen in Schrank und Schubladen. Dabei fragte er nun:

»Wie ist dir denn die Zeit vergangen? Warst du viel mit Gerboths zusammen?«

»Ein paarmal – ja.«

Unwillkürlich sah Hilgers von seiner Beschäftigung auf, zu dem Freunde hin. Marr war inzwischen an das offene Fenster getreten und blickte hinaus in die Weite.

»Du bist so sonderbar, Günter – hast du etwas?«

Wieder eine kurze Stille, dann wandte sich Marr entschlossen um.

»Ich habe etwas mit dir zu besprechen. Ich wollte dich allerdings nicht gleich so damit überfallen, wo du mich nun aber fragst – ich versteh' mich schlecht aufs Verstellen.«

»Ja, was hast du denn nur?« Franz Hilgers ließ von seinem Koffer ab und kam langsam zu dem Freunde heran, mit einem betroffenen Ausdruck. »Das klingt ja so sonderbar – fast feindselig. Hab' ich dir denn irgend etwas getan, unwissentlich? Bitte – sag' mir's doch!«

»Nicht doch – ich hab' nicht das mindeste gegen dich. Nur, was ich mit dir zu sprechen habe – es ist sehr ernst, es wird dir wehtun, Franz, und darum . . .«

Hilgers schrak zusammen. Sein Ahnen! Unsicher suchte sein Blick den Freund.

»Du ängstigst mich, so red' doch!«

»Noch einmal – es fällt mir nicht leicht. Ich hab' mir's auch hin und her überlegt, aber es hat ja alles keinen Sinn. Also muß es eben sein, und ich will nicht länger damit zurückhalten: Franz – ich liebe Hilde Gerboth, und ich glaube, es geht ihr nicht anders wie mir.«

»Wie?« Franz Hilgers' Mienen erstarrten.

»Es trifft dich hart – ich weiß wohl; glaub' mir's, Franz! Und es sieht häßlich aus – nach einem Mißbrauch deines Vertrauens. Aber trotzdem, es bedarf wohl nicht erst einer besonderen Versicherung: Ich habe deine Mitteilung neulich nicht etwa für mich ausgebeutet, es ist auch noch kein Wort gefallen zwischen Hilde und mir.«

»Ist das wahr?«

»Dein Zweifel ist beleidigend.«

Wie ein Aufatmen ging es durch Hilgers. Doch gleich wieder senkte sich die furchtbare Last auf ihn. Unsicher sah er den andern an.

»Und dennoch bist du deiner Sache so sicher?«

Als keine Antwort erfolgte, forschte er weiter.

»Wie kam das alles? – Falls du dich auch darüber noch auslassen willst.«

»Gewiß, Franz. Ich bin dir vollste Offenheit schuldig, und es gibt hier nichts zu verbergen. So einfach ist alles – so sehr einfach.«

Und er berichtete, wie es zugegangen war. Franz Hilgers hörte ihn an, ohne ihn zu unterbrechen. Ein Lauschen mit schmerzhaft gespannten Sinnen, mit einem geheimen Mißtrauen, als müßte er da vielleicht zwischen den Worten noch irgend etwas heraushören: Leisestes, Allergeheimstes, was der andere ihm vielleicht doch verbarg, trotz seiner Versicherung. Aber nichts davon, aus Marrs schlichten und ehrlichen Worten klang die vollste Wahrheit.

Es war Hilgers ein Trost. So blieb ihm doch wenigstens das Schlimmste, Entwürdigendste erspart, hintergangen zu sein von dem eigenen Freunde. Aber zugleich bohrte sich ihm der Schmerz noch tiefer ins Herz. Eine große Bitterkeit. Marr hatte recht: So einfach war das alles gewesen – so sehr einfach! In einem einzigen flüchtigen Augenblick war aufgeflammt zwischen den beiden, was ihm das Glück seines ganzen Lebens zu vernichten drohte. Und diese Bitterkeit machte sich nun Luft.

»Ich will dir ja keinen Vorwurf machen, ich glaube es dir, daß du das nicht gewollt hast, daß dieser Augenblick dich selber überrascht hat, aber konntest und mußtest du ihm nicht eigentlich aus dem Weg gehen?«

»Wie meinst du das?«

»Nun – auch wenn eure Aussprache nicht zu diesem Letzten geführt hätte, auf alle Fälle mußte sie Hilde in einen schweren Zwiespalt bringen, mit ihrem Vater und mit mir. Wäre es da nicht deine Pflicht gewesen, uns das zu ersparen? Gerade wo ich dich hierhergebracht habe in Gerboths Haus – mit freundschaftlichem Vertrauen?«

Marrs Stirn beschattete sich.

»Du machst mir einen schweren Vorwurf, aber ich will dir Antwort stehen, auch hier. Ja, Franz – ich habe mir das selber gesagt, und ich hatte daher auch vor, allem Weiteren vorzubeugen durch einen baldigen Aufbruch. Doch ich wollte – gerade, um dich nicht zu kränken – deine Rückkehr noch abwarten. Und dann kam es eben – ein Zufall war es, ich sage es nun wiederholt –, daß ich Hilde noch einmal allein traf, dort droben bei den Arven.«

»Du bist doch sonst nicht jemand, der sich von einem Zufall überrumpeln läßt – nimm mir's nicht übel – warum diesmal gerade?«

Es wetterleuchtete in Marrs Zügen.

»Du bist etwas hartnäckig, Franz. Solch Verhör bin ich nicht gewöhnt. Nun mußt du es dir gefallen lassen – Offenheit gegen Offenheit –: ich hatte schließlich doch auch keine Veranlassung, dieser Unterredung, wo sie sich einmal bot, so ängstlich aus dem Wege zu gehen – im Gegenteil!«

»Im Gegenteil –?«

»Jawohl. Denn vielleicht empfand ich sogar etwas wie einen Gewissenszwang, Hilde Gerboth nicht allein zu lassen in dieser Stunde der Entscheidung, wo es sich um das Glück ihres ganzen Lebens handelte?«

»Und um das meine – so nebenbei.«

»Gewiß auch um das. Aber mehr doch wohl noch um das ihre, und –«

Er brach kurz ab. Er konnte es Hilgers nicht wohl ins Gesicht sagen, was er doch denken mußte: Und sie ist die Wertvollere von euch beiden; weil die Stärkere und Lebensfähigere.

»Du hieltest es also für deine Pflicht –,« Hilgers vermochte nun doch nicht mehr die aufsteigende Erregung in seiner Stimme zu meistern – »Hilde aufzureden gegen den Willen ihres Vaters?«

»Du drückst das nicht ganz richtig aus. Von einem Aufreden kann man hier nicht wohl sprechen. Nur zur Klarheit über sich selber wollte ich ihr verhelfen in diesem Kampf mit sich – sah ich doch, wie sehr sie darunter litt.«

»Aber sie hätte sich durchgekämpft, auch wenn du nicht dazu gekommen wärst!«

»Zur Entsagung – so meinst du es doch wohl?« Lebhafter erhob sich jetzt auch Marrs Stimme. »Und dieses Opfer ihrer Persönlichkeit, des Besten in ihr, der hellen, starken Lebensfreude, für die ihr das müde Lächeln des Verzichts gütigst eintauschen wolltet – das wäre denn so nach eurem Sinn gewesen!«

Verletzt sah Hilgers auf.

»Du sprichst ja wahrhaftig gerade, als ob wir Hilde ein schweres Unrecht zufügen wollten – ihr eigener Vater und ich!«

»Und ist es denn etwas anders?« Scharf blitzte es aus Marrs Augen zu dem anderen hin. »Nur daß ihr blind seid und in eurer Blindheit allen Ernstes wähnt, ihr noch eine Wohltat zu erweisen.«

Franz Hilgers schüttelte den Kopf.

»Ich verstehe dich wirklich nicht mehr.«

»Das wundert mich weiter nicht.« Wie ein leiser Spott fast klang es. »Aber wir wollen darüber lieber nicht streiten – es führte das doch zu keinem Ende.«

Und Marr wandte sich ab, schritt durch das Zimmer zum Fenster hin und sog tief die herbe, frische Luft von draußen ein.

Hilgers blickte ihm nach in trübem Sinnen, wie er so dastand, unbewußt voll aufgerichtet und die breite Brust weitgedehnt. Ein Bild stählerner Lebenskraft. Wie geheimer Neid schlich es da an ihm empor. Und abermals packte es nach ihm, ein grausamer Schmerz: Das was er sich mühsam gerettet hatte aus dem Schiffbruch seines Lebens, wofür er so dankbar, so glücklich gewesen war – nun kam der andere, die lachende Siegfriedsnatur, dem alles zufiel als eine leichte Beute. Er streckte bloß die Hand danach aus, wie im Spiel, und schon sollte auch das sein eigen sein!

Alles bäumte sich da auf in ihm, in höchster Qual und Bitterkeit. Nein – das durfte nicht sein! Doch gleich wieder kam das Gefühl seiner Schwäche über ihn. Was sollte er ausrichten gegen ihn, der immer der Stärkere gewesen war von ihnen beiden, solange er denken konnte? Er würde es auch hier wieder sein. Und diese Furcht preßte ihm jetzt Worte ab, ein letzter Versuch – vielleicht, daß es ihm gelang, das Mitleid des anderen zu wecken, sein Großmut, daß sie ihm dies Schwerste ersparte. So begann er denn nun in verändertem Tone, bittend, klagend fast, indem er näher zu Marr hintrat.

»Günter – verzeih mir, wenn ich scharf war eben und dich vielleicht verletzte. Nimm Rücksicht auf mein Empfinden. Du ahnst ja nicht, wie mich das trifft – was alles auf dem Spiel steht für mich!«

»Doch, Franz – ich weiß das wohl.« Marr drehte sich um und sah den Freund voll an, mit tiefem Ernst. »Nicht einmal, nein zehnmal wohl hab' ich es mir vorgehalten, gestern, als ich dann nachher allein in den Bergen herumlief: Er hat die älteren Rechte, er hat dich hierhergebracht, als Freund, im Vertrauen – sollst du ihm das antun? Noch ist ja kein Wort gefallen, das dich bindet, also pack' deinen Koffer – weg und vergiß!«

»Günter!« Wie ein Jubel klang es, und Hilgers' Hände streckten sich zu dem Freunde hin, in plötzlichem Hoffen.

Aber Marr schüttelte langsam den Kopf.

»Es wäre zwecklos – es ist schon zu spät.«

»Wie denn zu spät? Sagtest du nicht eben selber . . .

»Ja – mich könnte ich wohl noch hinwegschaffen. Aber du vergißt die Hauptperson – Hilde. Sie ist nun einmal erwacht, sie findet sich nicht wieder zurück zu euch.«

»O – das laß unsere Sorge sein!«

»Ich habe ihr Versprechen, und was Hilde Gerboth versprach, das hält sie – ich denke, das meinst du doch auch?!«

Franz Hilgers sank in sich zusammen. Aber dann hob er die Hände empor.

»Ich bitte dich, Günter: Geh, ohne sie noch einmal zu sehen, und vergiß sie – es gilt mein Glück!«

»Und das ihre! Uebersieh das doch nicht. Selbst wenn es dir wirklich gelänge, was ich nicht glauben kann, daß sie dich nähme – ich muß offen sprechen: aus Mitleid,« Franz Hilgers verfärbte sich, »könnte ich das je verantworten? Daß sie vielleicht, erschüttert durch dein Klagen und im Glauben, ich hätte nur ein Spiel mit ihr getrieben, daß sie da, müde von all diesen Kämpfen, in einem Augenblick des Ermattens dir das Wort gäbe und damit unglücklich würde für ihr ganzes Leben?«

»Günter!«

»Ja, trotz allem! Oder könntest du wirklich wähnen, du vermöchtest Hilde Gerboth ein Glück zu geben?«

»Siehst du denn nicht, wie du mich quälst? Wie kannst du nur so grausam sein?«

»Nicht grausam, Franz, aber hier kann nur rücksichtslose Offenheit helfen. Dir wie ihr. Denn auch für dich würde es kein Glück. Täusch' dich doch nicht. Was da jetzt in Hilde wach geworden ist – ich sag' es noch einmal – das könnte wohl schweigen, zurückgedrängt werden für eine Weile durch eine vorübergehende Seelenstimmung, aber es kann nie wieder ausgetilgt werden. Es lebt und wird stark sein in ihr. Immer wird nun ihr Sehnen hinausgehen nach dem Leben, keine Ruhe und Zufriedenheit wird sie mehr finden hier in der Enge. Wie im Gefängnis wird ihr fortab zumute sein bei euch. Sie wird anringen gegen diese Fesseln, sich wund reiben in diesem ewigen Ringen. Vielleicht – ich will diesen Fall einmal setzen – wird sie dann müde werden und es schließlich aufgeben; das wäre dann der von euch erhoffte ›gute‹ Ausgang. Aber was hättest du dir damit gewonnen? Eine elende, zerbrochene Frau, deren Anblick dir doch ein stetes Schuldbewußtsein bedeuten müßte – wenn anders du nicht ganz und gar verhärtet wärst in blinder Selbstsucht.«

Franz Hilgers erwiderte nichts. Den Blick zu Boden gewandt, stand er, das Antlitz tief gesenkt. Da fuhr Marr fort: »Aber es gäbe auch noch eine andere Möglichkeit in diesem Falle, und, wie ich Hilde kenne, ist diese die wahrscheinlichere: sie wird zunächst vielleicht versuchen, sich euren Wünschen zu fügen; aber ihre Natur wird stärker sein als aller gute Wille. Sie wird ringen mit sich bis zum letzten, und dann wird doch der Tag kommen, wo sie einsieht: Alles umsonst, ich kann so nicht weiter! Und dann wird sie in einem Aufbäumen ihres schon halb erdrosselten Ichs sich losreißen von allen Fesseln, von euch, von Vater, Mann und Kind vielleicht, und fortstürzen aus all dem Jammer – den Weg der Verzweiflung und des Unglücks, welchen sie auch wählen wird. Und so wird eintreten, unfehlbar, was ihr gerade verhindern wollt – durch eure Schuld!«

Unter der Wucht dieser Worte brach Franz Hilgers in sich zusammen. Lange verharrte er so, ohne sich zu rühren. Erst eine Bewegung Marrs entriß ihn seiner Hilflosigkeit. Verängstigt blickte er auf.

»Was gedenkst du nun zu tun? Du wirst mit Hilde sprechen – oder mit ihrem Vater?«

»Ja, Franz – es ist mein Entschluß: Nun, wo du alles weißt, nun werde ich zu Gerboth gehen und ihn um Hildes Hand bitten.«

»Aber er wird sie dir nie geben! Glaub' doch das nicht!«

»Gut – geht es nicht mit ihm, dann wider ihn.«

»Und ich?« Wie Hilgers den anderen so unbekümmert hinwegschreiten sah über alles, was ihm heilig war, da trieb es ihn doch wieder empor. Ein Aufflackern eines letzten, verzweifelten Widerstandes. »Schließlich bin ich doch auch noch da! Und hiermit erkläre ich dir: Ich gebe Hilde nicht auf! Das Anrecht, das mir ihr Vater eingeräumt, von dem ich bisher nur aus Rücksicht nie Gebrauch gemacht – ich mache es nun geltend!«

»Tu's. Es ist dir unverwehrt. Aber ich erkläre dir ebenso offen: Ich fühle mich auch dir gegenüber nicht mehr gebunden durch irgendwelche Rücksicht.«

»Also offener Kampf zwischen dir und mir!«

Ein Achselzucken, und Marr wandte sich langsam ab, als wollte er zur Tür.

Die Erregung in Hilgers' Mienen wich einem Ausdruck der Bitterkeit und Trauer.

»Das ist denn nun das Ende mit uns!«

Marr hielt im Gehen an und wandte sich noch einmal zurück.

»Auch ich empfinde das Schmerzliche dieser Stunde. Aber mit Sentimentalität ist hier nichts getan. Lieber Franz –,« er trat näher zu dem einstigen Freunde, und seine Rechte streckte sich ihm entgegen, wärmer ward sein Ton – »wenn ich dir jetzt auch weh tun muß, glaub' mir, ich mein' es gut mit dir, nach wie vor, und ich wünschte –«

»Gib dir keine Mühe!« Hilgers wehrte ab, mit einer gereizten Gebärde. »Auf billige Worte verzichte ich. Ich weiß ja nun, was ich von deiner Freundschaft zu halten habe.«

»Wie du willst –,« und Marr verließ das Zimmer.

Es war, als ob nun, wo der andere fort war, der lähmende Bann von Hilgers wich, der ihn in seiner Anwesenheit befallen hatte. Sein Hoffen wagte sich wieder hervor. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren! Er klammerte sich wieder an das, was ihm Marr ganz zu Anfang ihrer Unterredung gesagt hatte: Noch war kein Wort gesprochen zwischen Hilde und ihm, wer wußte also, ob sie überhaupt sein Empfinden erwiderte? Vielleicht war das auch nur so eine Annahme Marrs, wie alles übrige, das er eben vorgetragen hatte mit der ihm eigenen Bestimmtheit – als könne es gar nicht anders sein! Da kam es über Franz Hilgers, eine neue Zuversicht und ein Entschluß. Zu Karl Gerboth wollte er, sofort – der würde Rat wissen und Hilfe. An ihm hatte er ja einen starken Bundesgenossen, laß sehen, ob es nicht gelang, mit seinem Beistand, die Siegeszuversicht des anderen zuschanden zu machen!

Ohne Verzug ging Hilgers denn hinüber in Gerboths Haus. Er fand den Meister allein vor. Hilde war auf ihrem Zimmer, wo sie sich schon den ganzen Tag über zumeist aufgehalten hatte, wie er auf sein Befragen von dem öffnenden Mädchen erfuhr. Auch das schien ihm ein gutes Zeichen. Es deutete auf Seelenkämpfe bei Hilde hin – also war sie wohl noch keineswegs entschlossen, wie Marr behauptet hatte.

Nun trat Hilgers bei Gerboth ein. Dieser saß lesend in der Nische der Diele, schon beim Lampenlicht. Jetzt erkannte er den Eintretenden und legte das Buch aus der Hand.

»Nun, wieder zurück, Franz? Und alles so gut gegangen in München – das ist ja schön.«

Mit herzlichem Handschlag bewillkommnete er den Heimkehrenden, dann fragte er:

»Weiß Hilde schon, daß Sie wieder da sind?«

Er machte eine Bewegung zur Tür, doch Hilgers trat ihm in den Weg.

»Nein, Meister, und ich möchte auch bitten, sie noch nicht zu rufen. Ich hätte zuvor gern mit Ihnen unter vier Augen gesprochen.«

»Gern, Franz . . .« Gerboth ließ sich wieder auf seiner Bank in der Nische nieder und lud Hilgers ein, ihm gegenüber an der anderen Seite des kleinen Tisches Platz zu nehmen. »Was haben Sie denn?«

»Es ist eine ernste Angelegenheit, die sowohl Hilde wie mich angeht, Meister, und es wundert mich eigentlich, daß Sie anscheinend noch gar nichts davon wissen.«

Gerboth lächelte verstehend.

»Doch – ich weiß schon: Sie meinen sicherlich eben dieselbe Sache, über die ich letzthin mit Hilde eine Aussprache hatte und von der Sie nun wohl durch Marr erfahren haben. Er ist übrigens ein etwas unruhiger Gast, dieser Herr Marr – hat mir das Kind doch wirklich ein paar Tage ganz durcheinandergebracht. Aber nun ist ja alles wieder in Ordnung.«

»Sind Sie dessen so sicher, Meister?«

»Aber gewiß, lieber Franz. Hilde hat sich, nachdem ich ihr alles in richtiger Weise klargemacht, schließlich belehren lassen und wird mir nun nicht mehr mit dieser Sache kommen, wie ich sie kenne.«

»Ich glaube, da irren Sie doch, Meister!«

Eine fragende Gebärde Gerboths, und ein stummes Auffordern, mehr zu sagen. Da fuhr Hilgers fort:

»Ich habe eben eine Aussprache mit Marr gehabt, in derselben Sache, und er versicherte mir, Hilde dächte keineswegs daran, sich zu fügen. Im Gegenteil – sie würde mit aller Entschiedenheit auf ihrem Gedanken neulich bestehen, sie hätte es ihm fest versprochen.«

»Das sagt Ihr Freund?«

»Wörtlich so.«

»Aber wie kommt er denn dazu?« Betroffen blickte Gerboth sein Gegenüber an. »Hat er denn Hilde überhaupt noch einmal gesprochen seitdem?«

»Ja – wissen Sie denn davon nichts, Meister?« Verwundert blickte jetzt Franz Hilgers den anderen an. »Marr traf Hilde doch gestern auf dem Arvenbühl.«

»Davon hat sie mir allerdings kein Wort gesagt.«

Gerboth schwieg, ernsten Kummer in den Mienen. Das war das erstemal in seinem Leben, daß ihm sein Kind etwas verheimlichte. Aber auch Hilgers war stark beunruhigt durch diese Tatsache. Was hatte das zu bedeuten? Seine Zuversicht schwand plötzlich wieder ganz dahin. Eine Weile saßen beide Männer so, dann hob Gerboth den Kopf.

»Sie sehen mich schmerzlich berührt, Franz, ich mache kein Hehl daraus, daß ich von dritter Seite eine Mitteilung erhalten muß, die ich doch wohl von meiner Tochter selber hätte bekommen sollen. Ihnen brauche ich es ja nicht zu sagen: Das bin ich nie gewöhnt gewesen bei Hilde, das ist mir noch nie widerfahren bisher. Hier ist ganz offenbar ein fremder Einfluß am Werk; nehmen Sie es mir nicht übel, Franz – Ihr Freund ist kein guter Umgang für Hilde.«

»Das weiß ich selber am besten, seit unserer Unterredung heute! Und keiner kann mehr beklagen als ich, daß ich Marr hierherrief. Damit Sie das voll verstehen, Meister, lassen Sie mich Ihnen noch mehr sagen – obwohl ich Ihnen damit noch tiefere Sorge bereiten muß: Es ist nicht allein das, daß Marr Hilde aufredet gegen ihren väterlichen Rat, er – er liebt sie auch und glaubt, ebenso ihrer Liebe sicher sein zu dürfen.«

»Franz!« Gerboth beugte sich vor und legte dem anderen die Rechte auf den Arm. »Es ist da nicht etwa ein Mißverständnis möglich? Das hätte Marr Ihnen gesagt – so, mit diesen Worten?«

»Ganz so und es mir zum Ueberfluß noch bestätigt durch unsere dann folgende Unterhaltung. Denn Sie können sich wohl denken, wie mich diese Eröffnung betraf, daß ich mich aufs nachdrücklichste dagegen verwehrte, sowohl in Ihrem wie in meinem eigensten Interesse.«

Immer noch wie ungläubig blickte Gerboth Franz Hilgers an. Da erhob er sich mit einem Kopfschütteln.

»Das hätte ich, offen gestanden, Ihrem Freunde doch nicht zugetraut!«

»Ich auch nicht. Es war wohl die schlimmste Enttäuschung von den vielen, die ich schon in meinem Leben erfahren mußte.«

Sehr bitter sagte es Hilgers und stützte den Kopf in die Hand.

Eine Weile stand Gerboth, von seinen Gedanken überkommen, dann trat er wieder zu Hilgers heran.

»Sie sagten eben, Sie hätten Marr mit allem Nachdruck erwidert; haben Sie ihm auch angedeutet, daß Sie selber ein Recht haben, auf Hildes Hand zu hoffen?«

»Ich habe es ihm offen gesagt.«

»Und er?«

»Er hat mir ebenso offen erklärt, daß ihn das in keiner Weise abhalten könnte.«

»Das ist doch stark – sehr stark! Ich glaubte, Marr wäre Ihr Freund?«

»Das wähnte ich bisher auch; doch nun bin ich eines anderen belehrt. Ich habe Marr ja freilich immer als einen kühlen Verstandesmenschen gekannt, doch dachte ich, daß er mit mir eine Ausnahme machte. Jetzt freilich weiß ich es besser. Für Marr ist jedes Freundschaftsgefühl eine lächerliche Sentimentalität – er sprach es heute ja offen aus. Er ist der rücksichtsloseste Egoist, den man sich denken kann.«

»Das scheint allerdings so. – Er will also allen Ernstes seine Werbung um Hilde aufrechterhalten? Vielleicht selbst gegen meinen Willen, wenn es dahin kommen sollte?«

»Das hat er mir sogar bereits angekündigt.«

»So – von der Art ist dieser Herr Marr! Allerdings, dann war es ein recht verhängnisvoller Schritt, als Sie sich gerade ihn herholten, mein lieber Franz.«

In Hilgers' Miene trat eine leise Röte.

»Ich hatte doch keine Ahnung, Meister; sonst, ganz selbstverständlich –«

Gerboth nickte begütigend.

»Ich meinte das auch nicht so. Jetzt kommt ja alles darauf an, daß wir weiteres Unheil verhüten – wenn das noch möglich ist.« Sein Antlitz wurde wieder sehr ernst. »Marr erklärte Ihnen also, daß er seine Neigung von Hilde erwidert glaubt?«

»So sagte er.«

»Hat er Ihnen das vielleicht belegt durch irgendwelche Tatsache?«

»Das nicht – im Gegenteil, er sagte, noch wäre kein Wort gefallen zwischen ihnen beiden, das sie bände. Das ist ja auch mein einziger Trost!«

»Gewiß, nur . . .« Gerboths Blick richtete sich unwillkürlich hin zur Treppe, die von der Diele hinaufführte zum oberen Stock, zum Zimmer Hildes. »Daß sie so schweigen konnte! Und jetzt fällt es mir auch auf: Sie war so seltsam – gestern abend und heute – so still versonnen, verträumt. Franz – mir scheint: Auch ohne dies bindende Wort, Marr hat nur zu recht, Hilde empfindet etwas für ihn.«

»Meister – glauben Sie wirklich?«

Ganz erschrocken starrte Hilgers Karl Gerboth an. Ein langes Schweigen trat ein. Verstört klammerte sich Hilgers' Blick an die Mienen des älteren Mannes. Wenn auch dieser sich keinen Rat mehr wußte, dann freilich war wohl alles Hoffen verloren. Doch nun machte Gerboth eine Bewegung, in einem Entschluß.

»Ich muß sprechen mit Hilde – sogleich.«

Hilgers nickte erregt.

»Ja, Meister, und – nicht wahr? Ich darf hoffen – Sie werden mein Anwalt, mein Fürsprech sein bei ihr? Sie wissen es ja, wie ich Hilde verehre, wie ich nichts Höheres kenne, als sie glücklich zu machen – und wie ich mich nach ihr sehne! Wie mich nur das Ihnen gegebene Wort gehindert hat, ihr das alles schon längst zu sagen. Jetzt aber – so denken doch auch Sie? – jetzt entbinden Sie mich wohl von diesem Versprechen? Jetzt darf ich reden und hoffen, dann auch bald des Glückes mit ihr teilhaftig zu werden?«

Gerboth trat dicht vor Franz Hilgers hin.

»Mein lieber Franz – das sollen Sie! Es war ja nur gut gemeint, daß ich Sie bat, so lange zu schweigen, es war aber nun doch verkehrt; wie so oft all unsere Vorsorge zuschanden wird durch das Leben. Was jetzt in meinen Kräften steht, das soll geschehen. Auch ich halte nun eine möglichst baldige Heirat für das beste; damit werdet ihr beide am ersten zur Ruhe kommen. Denn ich will ja vertrauen: Hildes Neigung zu Marr, die im Augenblick zwar lebhaft sein mag, ist trotzdem nicht so ernst zu nehmen. Es ist wohl mehr das, was jede Frau einmal durchmacht, wenn ihr der Mann entgegentritt, der ihr das Ideal zu sein scheint. Marr hat ja in seiner ganzen Art unleugbar etwas, das mit fortreißt – namentlich für junge, lebhafte Naturen. So ist es denn eben gekommen. Aber nehmen wir es nicht allzu tragisch« – er legte Hilgers die Hand auf die Schulter – »wir alle beide. Ich ihr Verschweigen, das sich wohl in solcher Seelenverfassung erklärt, und Sie mit dieser Aufwallung ihres Empfindens, die sicherlich nichts Ernstes bedeutet. Je länger ich es mir überlege, desto wahrscheinlicher wird es mir. Und ich denke, es wird mir schon gelingen, den richtigen Weg bei Hilde zu finden, auch diesmal. Um es zu erleichtern, wäre es aber vielleicht richtig, ihr doch auch ein Zugeständnis zu machen. Sie hat nun einmal den Wunsch, hinauszukommen – gut, lassen wir sie sich einmal ein bißchen in der Welt umsehen. Erschrecken Sie nur nicht, ich weiß schon was ich tue! Nur an eine Reise von einigen Wochen denk' ich, und zwar an eine ganz besonderer Art und in Ihrer Begleitung, mein lieber Franz – an eure Hochzeitsreise! Ich meine, unter solchen Umständen wird die Welt draußen einen nicht gar übermäßigen Eindruck auf sie machen,« leise lächelte der Meister vor sich hin, »und damit ist dann viel gewonnen – vielleicht alles. Am stärksten lockt ja immer das Unbekannte. Kennen wir die Dinge erst, so verlieren sie viel von ihrem Nimbus. Darauf lassen Sie uns bauen, auch in diesem Falle. Also guten Muts denn – ich denke, Herr Marr soll sich doch vielleicht verrechnet haben!«

Wortlos, aber mit tiefbewegtem Blick erwiderte Franz Hilgers den Händedruck des Meisters, ganz verehrende Dankbarkeit. Dann wollte er sich verabschieden, indessen Gerboth hielt ihn zurück.

»Nicht doch, bleiben Sie und warten Sie getrost das Ergebnis meiner Unterredung mit Hilde ab. Ich will hinauf zu ihr, da sind wir ungestörter. Ich denke aber, Sie werden nicht allzulange zu warten brauchen, dann kommen wir wieder herunter, alle beide, und dann – feiern wir Verlobung heute abend mitsammen.«

Er nickte Franz Hilgers noch einmal mit einem gütigen Lächeln zu. Da blieb dieser, angesteckt von der zuversichtlichen Stimmung des Meisters, in einer ungeduldigen, frohen Erwartung.

Karl Gerboth trat in das Zimmer der Tochter ein. Er fand es zu seiner Ueberraschung noch dunkel.

»Hilde?«

Ein leises Geräusch antwortete von dem kleinen Korbsessel hinten am Fenster her, ihrem Lieblingsplatz, wo sie ihr Nähtischchen zu stehen hatte und auch gern mit einem Buch saß.

»Noch so ohne Licht?«

»Ich mache gleich welches, Vater.«

Er hörte eine eilige Bewegung, nun flammte das Zündholz auf, ihre Hände hoben Glas und Zylinder von der kleinen Lampe, die auf den Tischchen stand. Ein leises Klirren klang dabei herüber.

»Kind . . .,« mit all seiner Güte trat Karl Gerboth zu der Tochter hin, die jetzt mit etwas hastigen Bewegungen den Behang des seidenen Schirms an der Lampe glattstrich, und er legte den Arm um ihre Schulter – »was ist denn nur mit dir?«

»Ach . . .«, doch ihre Lippen schlossen sich gleich wieder fest zusammen.

»Hilde!« Seine Rechte griff nach ihrem Kinn und kehrte sich ihr Antlitz mit sanfter Gewalt zu. »Warum bist du nicht mehr offen gegen mich? Hast du denn alles Vertrauen zu mir verloren?«

»Vater – nicht doch! Nein, das mußt du nicht glauben!« Ein voller Blick traf ihn, wieder ganz jene Klarheit und Offenheit, die er immer so an seinem Kind geliebt hatte. »Du sollst ja alles wissen, nur – es war da noch etwas in mir, das mich so beschäftigte, das . . .«, und in einer leisen Scheu, als wäre es etwas Allerzartestes, das sie nicht einmal vor sich selber aussprechen mochte, senkten sich ihr die Wimpern langsam über die Augen.

Karl Gerboth betrachtete sie eine Weile, wie sie vor ihm stand, umwoben von einem Reiz weicher Weiblichkeit, den er noch nie an ihr wahrgenommen hatte. Und wieder wollte die Sorge an ihm emporschleichen. Da fragte er entschlossen:

»Was war es denn, das dich so beschäftigte?«

Ein feiner, rosiger Schein hauchte über ihre Wangen. Doch das meinte der Vater ja nicht. Wonach er forschte, was ihm Sorge schuf – das waren jene anderen, ernsten Dinge, deren Austrag sie immer noch zurückgestellt hatte, in ihrer seltsamen, versonnenen Stimmung. Nicht, daß sie etwa noch einmal schwankend geworden wäre. Nein – klar lag ihr Weg vor ihr. Aber sowie sie den ersten Schritt zu ihm hin tat, dann begann der Kampf – dann zerriß und verwehte, was sie jetzt so leis und süß einspann, was sie sich gern noch erhalten hätte, wenn auch nur für eine kurze Weile noch. Solch Zauber, nie geahnt, lag ja darüber! Aber nun mußte es doch vorbei sein, ach, schon war der holde Bann zerstört – hier stand der Vater vor ihr, von quälender Unsicherheit getrieben, Gewißheit zum wenigsten verlangend. Und die war sie ihm schuldig. Also denn mutig und rückhaltlos bekannt, was sie zu sagen hatte! Die Stunde des Kampfes tat eben ihren ersten harten Schlag – sie sollte keine Zaghafte antreffen. Tief holte sie noch einmal Atem, dann aber kam es fest von ihren Lippen:

»Ich habe alles noch einmal mit mir durchdacht, was wir neulich zusammen besprachen.«

»Bloß mit dir, Hilde?«

»Nein, auch mit Herrn Marr – wir trafen uns gestern zufällig droben auf dem Arvenbühl – und bei dieser Gelegenheit kam es zu einer Aussprache darüber. Da verhalf er mir zur vollen Klarheit mit mir selber. Freilich nicht so schnell und leicht, Vater. Ich habe gekämpft, auch mit ihm – das mußt du mir glauben – aber dann hat er mich doch überzeugt, und eine innere Stimme hat es mir bestätigt, so laut und stark: er hatte recht, und ich selber, mit dem, was sich mir immer wieder aufdrängte mit solcher Gewalt. Also laß es mir dir denn noch einmal beteuern, lieber guter Vater: es ist keine Stimmung, keine Laune. Wie eine Gefangene komm' ich mir hier vor. Du mußt meiner Bitte Gehör schenken, mit mir hinauszugehen, für Zeiten wenigstens – dorthin, wo Menschen sind, wo das Leben ist! Ich kann so nicht mehr weiter. Darum bitte ich dich nun, lieber Vater, trotz allem, was du mir neulich gesagt hast, noch einmal: Tu' mir diese Liebe und hab' das Vertrauen, es wird mir zum besten sein – ganz, ganz gewiß!«

Karl Gerboth antwortete nicht gleich. Es war, wie wenn er jedes Wort zuvor fürsorglich erwog. Aber nun sprach er:

»Mein liebes Kind, alles was ich dir zu erwidern hätte, ich habe es ja neulich schon gesagt, und meine Meinung hat sich seitdem nicht geändert. Darum will ich uns die Wiederholung ersparen. Dennoch wird sich dein Wunsch in der Hauptsache vielleicht erfüllen lassen – auch ich bin mit mir zu Rate gegangen inzwischen. Es ist dir nun einmal so sehr daran gelegen, hinauszukommen, dich draußen umzusehen – wohlan, es ließe sich darüber reden.«

»Vater –,« wie ein Jubel brach es aus ihr bei diesen unerhofften Worten – »wirklich? Du wolltest . . .«

»Wenn auch nicht ich selber, aber vielleicht fände sich ein anderer Begleiter auf dieser deiner ersten Fahrt ins Leben, die du so ersehnst. Und dieser Begleiter wäre – dein eigener Mann, auf eurer Hochzeitsreise.«

Hilde Gerboths eben noch strahlendes Antlitz verfärbte sich.

»Wie kommst du darauf, Vater? Hat etwa . . .

»Ja, Hilde, Franz Hilgers hat soeben bei mir um dich geworben, um die Erlaubnis gebeten, sich dir erklären zu dürfen, nachdem er dich ja schon lange liebt – und er wartet nun drunten und harrt auf deine Entscheidung.«

»O mein Gott . . .

Gequält kam es von ihren Lippen. Tiefste Niedergeschlagenheit malte sich in ihren Zügen. Da sah Gerboth sie ernst an.

»Kommt dir dieser Antrag denn so überraschend? Ich hatte immer gemeint, du wüßtest, wie es um Franz stand.«

Sie blickte vor sich hin, die Augen am Boden in schwerster Bedrücktheit.

Da drang er weiter in sie.

»Hast du denn wirklich nie an diese Möglichkeit gedacht?«

»Doch – bisweilen wohl. Aber, ich weiß nicht – ich sehe das jetzt so ganz anders. Und ich glaube – wenn ich mich recht prüfe – ich habe in Franz doch wohl immer eigentlich bloß einen brüderlichen Freund gesehen. Und nun das . . .!« In erneuter Pein trübte sich ihr Antlitz. Dann aber hob sie in plötzlichem Entschluß den Kopf: »Nein, Vater – ich kann Franz Hilgers nicht heiraten!«

»Warum nicht, Hilde?«

»Ich liebe ihn nicht, und –«

»Sprich weiter, rückhaltlos.«

»Ich kann auch nicht so zu ihm aufsehen, wie man es doch zu seinem Mann muß.«

»Wie kannst du das sagen? Ist er nicht ein lauterer und reiner Mensch – zuverlässig wie kein zweiter?«

»Das alles ja – aber so ohne Kraft und Willen. Ich kann wohl gut zu ihm sein, Freundschaft mit ihm halten – aber ihn lieben? Nein!«

Karl Gerboth sann eine Weile nach, dann sagte er milde:

»Mein gutes Kind, das sind auch so verhängnisvolle Irrtümer der Jugend, falsche Ideale, die schon viel Leid angerichtet haben. Als ob es immer die große Liebe sein müßte! Glaub' mir's, der ich doch das Leben kenne – gerade die Ehen, die mit himmelstürmender Liebe geschlossen werden, sie enden meist kläglich im Staube des Alltags. Man fliegt eben nicht ungestraft zur Sonne empor. Der Sturz mit zerbrochenen Schwingen ist die unausbleibliche Folge. Gerade solche Naturen, die sich anziehen mit leidenschaftlicher Gewalt, prallen nachher aufeinander in um so härterem Kampf. Eine Ehe dagegen, die sich aus einer ruhigen Freundschaft entwickelt, hat weitaus mehr die Anwartschaft auf das wahre Glück, jenes stille, schöne Miteinander, das der Seele den Frieden bringt.«

»Ach, Vater –,« und es legte sich schwer auf ihre junge Brust – »diese Stille, ist sie nicht wie die des Friedhofs? Nein, nein, und könnte es nicht anders sein, wäre das Glück, wie ich es mir denke, wirklich nur zu erringen mit Schmerz und Wunden, dann doch lieber so, hundertmal lieber – aber man weiß doch, daß man lebt!«

Karl Gerboth sah die Tochter an, mit einem geheimen Erschrecken. So leidenschaftlich hatte er sie noch nie gesehen. War das sein ruhiges, verständiges Kind?

»Hilde, was spricht da aus dir? Das bist nicht du. Etwas Fremdes ist in dir. Marr höre ich. Das ist Geist von seinem Geist – Hilde, du liebst diesen Mann!«

Sie verfärbte sich, so jäh, daß im Augenblick alles Blut aus ihrem Antlitz wich. Ihr war, als zerrisse bei diesem Wort plötzlich drinnen bei ihr ein Vorhang, der ihr selber bisher noch das Letzte verhüllt hatte. Mit einemmal begriff sie: darum diese quälende und doch so süße Unruhe in ihr, diese Aufstörung ihres Innersten – wie ein stetes Nachzittern jenes wonnesamen Erschauerns, als seine Hand sie berührt hatte. Nun verstand sie das alles. Ja – sie liebte Marr! Der eigene Vater war es, der ihr diese Gewißheit gab. Da hob sie den Blick zu ihm auf, klar und offen, wie sie ihn stets angeblickt hatte ihr ganzes Leben lang. Doch ein Etwas stand darin, das Karl Gerboth nun zum erstenmal sah – etwas, das sie wunderbar verschönte. Ein Leuchten so stark und hell und von heiliger Reinheit, während sie nun sprach – ganz eigen, wie in einem großen Wachwerden:

»Ja, Vater – es muß wohl so sein, wie du sagst. Ich liebe Günter Marr. Nur daß ich es selber nicht wußte bis zu dieser Stunde.«

Es ergriff Karl Gerboth seltsam, trotzdem er doch diese Erklärung eigentlich längst erwartet hatte. Ein heftiger Schmerz, Selbstvorwürfe, Angst und Sorge drangen auf ihn ein, und doch – immer wieder sah er nun dies verklärte Leuchten in ihrem Antlitz. Ueber ihre Kindesseele war die Hoheit des liebenden Weibes gekommen. Das uralte, urewige Wunder, vor dem auch er nun wieder stand in einem ehrfürchtigen Schweigen, wie bitter auch in seinem Herzen all die Narben noch einmal aufbrannten.

So verharrte er eine Weile wortlos; dann aber griff er nach ihren Händen.

»Mein liebes gutes Kind – du glaubst ihn zu lieben. Und ich verstehe das auch. Aber du täuschst dich wohl über die Tiefe und Dauer dieses Gefühls. Es ist ein Schwärmen – und es wird vorübergehen. Bald wird Marr fort sein, und dann, wenn du nicht mehr unter seinem Bann stehst, dann wirst du wieder alles anders sehen, die Dinge hier, uns alle und auch Franz Hilgers. Wirst ihn betrachten, wie du ihn doch zwei Jahre lang gesehen hast, mit einer herzlich warmen Zuneigung, nenne sie getrost vorerst Freundschaft, sie wird schon zur Liebe reifen – es ist mir nicht bange drum, keinen Augenblick – reifen zu dem wahren Glück der Ehe, wenn ihr erst beide Mann und Frau seid.«

Seine Frau – es zu denken in diesem Augenblick, wo ihre Seele ausgefüllt war, so ganz von einem anderen! Wie ein Entweihen war es, und alles an ihr empörte sich dawider. Erregt rief sie aus:

»Quält mich nicht – ich kann nie Franz Hilgers' Frau werden!«

Gerboth erkannte: er durfte jetzt nicht weiter in sie dringen, wollte er nicht alles verderben. Das saß doch tiefer, als er gedacht hatte. Da hieß es denn Geduld haben, mit der Zeit rechnen, die würde das Ihre dazu tun. Begütigend sagte er denn nun:

»Kind, wer will dich quälen? Kennst du mich so wenig? Nie würde ich dich doch zwingen zu einem solchen Schritt. Ueberzeugen möchte ich dich freilich wohl, zu deinem eigenen Besten. Aber da es dich erregt –, gut, so seh' ich auch davon ab. Obgleich es mir schwer wird. Dort unten wartet Franz Hilgers voll freudiger Erwartung, die ich selber ihm erweckte – und nun muß ich ihn so enttäuschen.«

»Ich kann ihm nicht helfen – wie leid er mir auch tut.«

»Ja, da bleibt denn natürlich nichts anderes: ich muß ihm offen zeigen, wie es steht.«

»Bitte, tu das, Vater. Und sag ihm: meine Freundschaft, meine schwesterliche Zuneigung, sie ist ihm sicher nach wie vor.«

Gerboth nickte nur.

»Damit wird er allerdings wohl nicht viel anzufangen wissen,« und mit einem starken Unbehagen trat er seinen peinlichen Gang an.

Drunten durchmaß Hilgers die Diele mit steigender Unruhe. Wie lange das dauerte! So beschämend war dies Warten – wie ein Bittsteller im Vorzimmer –, und alles vielleicht nur, um schließlich doch abgewiesen zu werden.

Aber dann klammerte sich sein Hoffen wieder an Gerboths Person: dessen väterlicher Einfluß würde seine Sache schon zum Guten wenden. Und nun endlich hörte er eine Tür gehen. Rasch fuhr er herum – der Meister, doch allein!

Noch größer war aber die Enttäuschung, als er Gerboths Mienen sah. Nur zu deutlich stand ihm ja die Verlegenheit im Antlitz. Da wußte er alles. Es hätte nicht erst der schonenden Worte bedurft, mit denen ihm Gerboth nun das Ergebnis der Unterredung mitteilte.

In sich zusammengesunken stand Franz Hilgers. Vorbei also sein Hoffen, sein Lebensglück vernichtet! Dann raffte er sich mit einer müden Bewegung auf. So bot er Gerboth die Hand.

»Haben Sie Dank, Meister, für Ihre Fürsprache, wenn sie auch vergeblich war – Dank für alles. Mir werden diese Jahre hier oben ewig unvergeßlich sein.«

»Franz – das klingt ja wie ein Abschied!«

»Was bleibt mir sonst? Ich kann doch nun nicht länger mehr hier oben sein. Schon aus Rücksicht auf Hilde nicht.«

»Nicht doch!« Und Gerboth führte Hilgers trotz allen Widerstrebens wieder zurück in den Raum. »Sie sehen, das alles viel zu schwarz, jetzt im ersten Augenblick. Hilde selber wünscht und bat mich, Ihnen dies ausdrücklich zu versichern, daß alles bleiben möchte wie bisher – daß Sie ihr weiter Freund und Bruder sein möchten.«

»So? Ist ihr doch daran wenigstens gelegen?« Schmerzlich sagte es Hilgers.

»Mein lieber guter Franz«, ermutigend drückte ihm Gerboth die Hand. »Ich gebe es noch nicht auf. Ich glaube, Hilde hat ihr letztes Wort noch nicht gesprochen. Nur Zeit muß man ihr lassen, bis die Krise wieder vorüber ist, und das Seine dazu tun. Geschehen muß jetzt etwas. Also, wenn wir trotz allem festhielten an dem Gedanken einer Reise, und ich mich doch selber entschlösse, mit Ihr hinauszugehen? Ein paar Monate in diesem Winter in München – es ist schließlich immer noch das kleinere Uebel und wird sie vielleicht am ehesten über diese ganze unglückliche Geschichte hinwegbringen. Und später, wenn Marr erst einmal vergessen ist über all den vielen neuen Eindrücken, die draußen auf sie einstürmen werden, dann hoffe ich zuversichtlich, mein lieber Franz, wird sie anders denken auch in diesem Punkt. Es kommt also jetzt bloß darauf an, daß Marrs Einfluß sich nicht noch mehr festsetzt. Er muß weg von hier, sobald wie möglich – sofort! Könnte man denn das nicht wenigstens erreichen von ihm? Eigentlich geböte es ihm nach allem doch schon sein Taktgefühl.«

Hilgers schüttelte trüb den Kopf.

»Bauen Sie nicht zu viel darauf, Meister.«

Gerboth blickte vor sich hin. Der, von dem sie sprachen, stand vor seinen Augen, und prüfend abwägend durchdrang er seine Züge. Nun sah er wieder auf.

»Franz – wenn man ganz offen mit ihm spräche? Trotz allem, ich halte diesen Marr nicht für eine niedere Natur. Wenn man nun appellierte an seine Gesinnung, seinen Anstand?«

Hilgers zuckte die Achseln, bitter erwiderte er:

»Wohl ein vergebliches Unterfangen.«

»Ich weiß nicht – zum mindesten sollte man es doch versuchen. Es ist immer mein Grundsatz gewesen, zunächst in Güte mit jedem auszukommen. Zum anderen ist ja nachher noch Zeit genug. Wirklich, ich möchte sprechen mit Marr. Und das ohne Verzug – noch heute abend, gleich. Würden Sie ihm das wohl sagen? Er ist doch gewiß drüben beim Kuraten?«

»Aller Voraussicht nach wohl . . .«, aber es klang zögernd, und ein Widerstreben malte sich auch in Hilgers' Zügen. Daß er dem anderen überhaupt noch einmal gegenübertreten sollte! Aber dann hatte er sich überwunden.

»Da Sie es wünschen, Meister, werde ich ihm Ihren Auftrag ausrichten.«

»Tun Sie es, Franz, und ich vertraue, es wird zu Ihrem eigenen Besten sein.«

Hilgers ging hierauf. Er traf, wie vermutet, Marr beim Kuraten an; unten im Gastzimmer. Der geistliche Herr saß auch dabei, so zwang denn schon die äußere Rücksicht, daß Hilgers sich in seinem Wesen nichts anmerken ließ, sondern nach gewohntem Gruß Marr seine Bestellung übermittelte, auch möglichst unauffällig im Ton.

»Ich komme eben von Gerboths – der Meister fragt nach dir. Er hätte dich gern einmal gesprochen – wenn möglich heute noch.«

»Heut noch?« – Ein kurzes Ueberlegen – »dann will ich doch gleich einmal hinüber«, und Marr erhob sich.

Wenige Minuten später stand er drüben vor dem Meister.

»Sie wünschten mich zu sprechen, Herr Gerboth.«

»Ja« – eine Handbewegung lud den Gast zum Sitzen ein –, »und ich danke Ihnen, daß Sie diesem Wunsch so schnell entsprochen haben.«

»Die Unterredung lag in meiner eigensten Absicht. Hätten Sie mich nicht rufen lassen, wäre ich morgen von selber gekommen.«

»Und was hatten Sie mir sagen wollen?«

»Es wird Sie überraschen, Herr Gerboth, aber ich möchte es Ihnen doch ohne Umschweife bekennen: ich wollte kommen, Sie um die Hand Ihrer Tochter zu bitten.«

»Das ist allerdings recht überraschend und – Sie müssen es mir schon gestatten – nicht auch ein wenig übereilt? Sie kennen ja meine Tochter kaum, und diese ebensowenig Sie.«

»Bedarf es wirklich immer einer langen Zeit, um sich kennenzulernen? Können zwei Menschen nicht fühlen, in einem einzigen Augenblick, daß sie füreinander bestimmt sind?«

»Mag sein, aber – nehmen Sie es mir nicht übel, Herr Marr – ich verlange denn doch eine etwas zuverlässigere Grundlage für das Glück meines einzigen Kindes.«

»Ich kann Ihren Standpunkt verstehen. Gut denn, so geben Sie uns die Gelegenheit, uns kennenzulernen. Ich verspreche Ihnen, ich werde mich in dieser Zeit jeder Bewerbung enthalten.«

»Mein bester Herr Marr –«

»Trauen Sie meinem Wort nicht?«

»O – nicht doch!«

»Warum wollen Sie mir dann ein Recht verweigern, das Sie Franz Hilgers doch zugebilligt haben? Bin ich weniger wert?«

»Nichts von alledem – Sie übersehen nur ganz das eine: Sie stehen hier doch schon Tatsachen gegenüber, vor denen Sie eigentlich hätten haltmachen müssen.«

»Darf ich bitten – inwiefern?«

»Nun – Sie wußten doch durch Ihren Freund, aus seinem eigenen Munde, daß er bereits seinerseits ein gewisses Anrecht auf Hildes Hand hatte.«

»Verzeihen Sie, Herr Gerboth, das kann ich eben nicht anerkennen. Dazu fehlt doch die Hauptsache, die Zustimmung Ihrer Tochter selber. Läge diese vor, so – es bedarf wohl keines Wortes – hätte ich selbstverständlich diese Tatsache geachtet. Aber da das nicht der Fall ist . . .«, er hob nur die Schultern.

»Und die Rücksicht auf Ihren Freund, auf sein Empfinden – bedeutet Ihnen auch das kein Hemmnis?«

»Darüber habe ich mich bereits zu ihm selber ausgesprochen; aber ich bin wohl auch Ihnen ein Wort darüber schuldig. So wiederhole ich es denn hier noch einmal: da Franz Hilgers in seiner Person keineswegs die Gewähr bietet, Hilde glücklich zu machen und damit in dieser Ehe auch für sich das Glück zu finden, so wäre eine solche Rücksicht doch ganz sinnlos.«

Eine kurze Pause. Dann sagte Gerboth:

»Es kommt immer wieder auf dasselbe hinaus: Sie gehen von Voraussetzungen aus, die ich durchaus nicht gelten lassen kann – so werden wir uns denn hierüber wohl leider nie verständigen.«

»Muß ich diese Erklärung so auffassen, daß Sie meine Werbung kurzerhand ablehnen?«

»Nicht kurzerhand, Herr Marr, vielmehr auf Grund sorgfältiger, jahrelanger Erwägungen und anderweitiger Pläne.«

»Ich nehme das zur Kenntnis,« Marr verbeugte sich knapp, »aber es kann auch an meinem Entschluß nichts ändern, und der geht dahin, ich sage es Ihnen offen und ehrlich, mir Hilde zu erringen. Kann es nicht mit Ihnen sein – dann gegen Sie.«

Gerboths Augen erweiterten sich.

»Ihre Erklärung läßt an Offenheit allerdings nichts zu wünschen übrig. Ja – wenn Sie diesen Standpunkt einnehmen, dann freilich wird wohl jede weitere Unterhaltung zwecklos.«

»Ohne Zweifel« – Marr erhob sich –, »nur eine Frage noch, die mir die Rücksicht auf meine bisherige Stellung zu Ihrem Hause auferlegt. Ich möchte gern alles Peinliche wenigstens nach Möglichkeit vermeiden, – also würden Sie mir Ihre Einwilligung und die Gelegenheit geben, ehe ich hier fortgehe, Ihre Tochter noch einmal zu sprechen?«

»Nachdem Sie mir eben in aller Form den Krieg erklärt haben?« Der Meister stand nun auch auf. »Ich muß gestehen, diese Zumutung ist doch wohl etwas außergewöhnlich.«

»Ganz gewiß ist sie das, aber sie ist auch an jemanden gerichtet, an den ich einen außergewöhnlichen Maßstab legen zu sollen glaubte.«

Karl Gerboth sandte einen durchdringenden Blick hinüber zu dem anderen. Ueberlegend senkte er nach seiner Art das graue Haupt, aber nun hob er es wieder mit einer entschiedenen Bewegung.

»Nein – ich bedauere.«

»Das bedauere auch ich. So werde ich diese Unterredung leider herbeiführen müssen ohne Ihre Zustimmung.«

»Versuchen Sie es – ich glaube, meine Tochter weiß, was sie mir schuldig ist.«

»Sicherlich – doch sie weiß jetzt auch, was sie sich selber schuldig ist!«

»Durch Ihre neuen Lehren – nicht wahr?« Es blitzte auf in Gerboths Augen.

Marr nickte; in unveränderter Ruhe.

»Ganz recht, und ich hoffe, daß sie sich wirksam zeigen werden auch in diesem Fall.«

»Herr –!« Eine düstere Lohe brach aus Gerboths Blick.

Fest hielten ihm des Gegners Augen stand. So sagte er:

»Verstehen Sie mich nicht falsch – jede Herausforderung liegt mir fern. Ich sprach so, weil es hier um höchste Werte für Ihre Tochter geht. Glauben Sie mir: es ist mir außerordentlich bedauerlich, daß unsere Unterredung diese Wendung genommen hat. Ihretwegen, aber noch mehr um Hildes willen. Ich hätte es ihr gern erspart, sie in diesen Zwist mit dem eigenen Vater zu bringen.«

»Wenn das nicht nur leere Worte sind – nun gut, so tun Sie, was Ihnen die Pflicht in solchem Fall gebietet.«

»Und das wäre?«

»Reisen Sie ab mit der nächsten Gelegenheit und versuchen Sie auch vorher nicht noch einmal den Frieden eines Hauses zu stören, das Sie aufgenommen hat im Vertrauen auf die Empfehlung Ihres Freundes – im Vertrauen auf Ihre Gesinnung!«

Marrs Miene wurde sehr ernst.

»Herr Gerboth, Sie sagen mir da Dinge, die einen schweren Vorwurf gegen mich enthalten. Aber ich weiß mich frei von Schuld. Ich habe mich auch darüber zu Franz Hilgers eingehend ausgesprochen. So beschränke ich mich denn darauf, Ihnen jetzt zu sagen: es tut mir leid, aber ich kann diesem Erwarten nicht entsprechen. Hier stehen zu wichtige Dinge auf dem Spiel – nicht zuletzt, ich betone das noch einmal, gerade für Ihre Tochter. So komme denn, was da muß. Ich kann ihr diesen Konflikt nicht ersparen, aber ich habe das feste Vertrauen, Hilde denkt nun wie ich und wird diesen Kampf durchfechten, wie sehr es sie auch schmerzt, weil er notwendig ist.«

»Wir wollen es darauf ankommen lassen!« Noch immer gereizt rief es Gerboth. »Sie wollen den Kampf – gut, so sollen Sie ihn haben. Doch wähnen Sie nicht, daß ich die Hände in den Schoß legen und ruhig zusehen werde, wie Sie mir mein Kind aus den Händen entwinden wollen. Ich werde Mittel und Wege finden, Ihr Vorhaben zunichte zu machen!«

»Was können Sie tun gegen mich?« Fest ruhte Marrs Blick auf dem Antlitz des Gegners. »Sie denken vielleicht daran – ich nehme an, eben nur in der Erregung dieses Augenblicks –, Hilde im Haus festzuhalten, solange ich hier bin, und meine Briefe zu beschlagnahmen, jetzt und auch später noch. Wäre aber ein solches Vorgehen, eine solche Gefangenschaft Ihrer Tochter würdig? Und Ihrer selber? Glauben Sie wirklich, daß Sie damit den Sinn Hildes umstimmen könnten zu Ihren Gunsten?«

Gerboth antwortete nicht, nur seine Hand streckte sich in schroffer Abwehr zu dem anderen hin. Dieser jedoch fuhr unbeirrt fort:

»Nein, Herr Gerboth, das werden Sie doch gewiß nicht glauben wollen, sobald Sie ruhig denken. Damit fördern Sie nur meine Sache und verscherzen sich vielleicht auf immer die Liebe und Achtung Ihres Kindes. Und zudem – in nicht mehr Jahresfrist hat Ihre Macht ein Ende. Dann ist Ihre Tochter mündig, und dann, Herr Gerboth, wenn Sie es denn nicht anders wollen« – nun brach es auch aus Marrs Blick mit einer langgehemmten Gewalt –, »dann werde ich den Kampf führen, zu dem Sie mich zwingen, rücksichtslos und mit allen Mitteln, die mir zu Gebote stehen. Darauf auch mein Wort!«

Und Marr wandte sich zur Tür.

Ein heftiger Widerstreit spiegelte sich in Gerboths Zügen, wie er dem Davongehenden mit düsterer Miene nachsah. Schon lag dessen Hand auf der Klinke, da traf ihn der Anruf:

»Herr Marr! Ich war erregt eben – ich gebe es zu – und es ist wohl auch zu verstehen in meiner Lage; aber ich will doch nicht in dieser Erregung eines Augenblicks den Ueberzeugungen eines ganzen Lebens untreu werden. Es ist noch nie meine Art gewesen, mit Gewalt zu siegen, sondern stets nur mit dem Gewicht meiner guten Gründe. Und gerade bei Hilde habe ich diesen Grundsatz stets betätigt. So will ich ihn denn auch jetzt nicht verleugnen, selbst in dieser schwersten Stunde nicht, die mir nun durch Sie bereitet wird. Wohlan« – und seine Rechte machte eine Bewegung des Gewährens –, »reden Sie denn mit meiner Tochter! Ich werde Ihnen die gewünschte Gelegenheit geben. Heute ist die Stunde ja schon zu spät, aber kommen Sie wieder, morgen vormittag – ich werde Ihnen nichts in den Weg legen.«

Marr blieb an der Tür.

»Ich danke Ihnen, Herr Gerboth. Ich weiß diesen Entschluß voll zu würdigen.«

Gerboth nickte kurz. Doch nun hob er noch einmal die Hand.

»Eine Bedingung freilich knüpfe ich daran: Sobald Sie diese Unterredung gehabt haben, werden Sie abreisen – mit nächster Gelegenheit!«

»Das kann ich versprechen, denn es war ohnehin meine Absicht.«

»Gut – ich habe Ihr Wort!«

Ein letztes stummes Grüßen, Auge in Auge, mit schwerem Ernst, dann trennten sich die beiden Männer.



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