Paul Grabein
Der Ruf des Lebens
Paul Grabein

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Hilde stand am Fenster ihres Zimmers, noch immer wie sie gestanden, nachdem der Vater sie vorhin verlassen hatte. Unbeweglich, die Hände um den Fensterriegel geschlungen. So blickte sie hinaus ins schweigende Dunkel draußen über dem Dorf, wo nur vereinzelt hier und da ein winziges Lichtpünktchen aufglühte, das eine menschliche Herdstätte verriet. Von allem, was der Vater zu ihr gesprochen, klangen in Hilde immer nur die einzigen Worte nach: Bald wird Marr fort sein! Das hatte sich ihr ins Herz gegraben mit schneidendem Weh. Ihr war's dabei gewesen, als versänke etwas Leuchtendes, Sonnenstarkes und Frohes – als umfinge sie eine trostlose, kalte Finsternis mit ihren Schauern. Und die fühlte sie jetzt noch in sich – so bange.

Günter Marr fort – nun wußte sie mit einemmal erst, was er ihr geworden war in diesen wenigen Tagen und was er ihr hätte werden können! Aufgewacht war unter seiner Berührung alles, was in ihr geschlummert hatte. Wie mit einem Zauberschlag fühlte sie neue, nie geahnte Kräfte sich regen. Und noch einmal rief es in ihr, wenn sie an die Werbung Franz Hilgers' eben dachte: Nein – nie! Ein verzweifeltes, wildes Sichwehren und Fortstoßen.

Sie erschrak fast vor sich selber, vor der plötzlichen Leidenschaftlichkeit ihres Empfindens. Die Vorstellung, daß sie einmal Franz Hilgers' Frau werden könnte, hatte doch sonst nichts Furchtbares für sie gehabt. Wenn auch der Vater nie mit ihr darüber gesprochen hatte, so war ihr der Gedanke doch auch ohne das gekommen. Es konnte ja nicht ausbleiben. Franzens ganzes Verhalten gegen sie war bei aller Zurückhaltung doch ein ständiges, still ehrerbietiges Werben, und sie hatte dieser Werbung denn entgegengesehen als etwas Selbstverständlichem, das einmal kommen würde und mußte, wenn seine Zeit da war. Sie fühlte ja das geheime Einvernehmen in diesem Punkte zwischen dem Vater und Franz Hilgers heraus, und wie alles bisher in ihrem Leben, so hatte sie auch das hingenommen mit dem Gefühl, es war wohl gut und richtig so.

Freilich war ihr Herz stets völlig ruhig geblieben bei der Vorstellung, daß sie eines Tages Franz Hilgers' Frau sein sollte. Warum hätte es auch höher schlagen sollen? Es würde sich ja an ihrem Leben mit dieser Ehe im Grunde nichts ändern. Alles blieb wie es war – ein freundliches, harmonisches Zusammenleben in ihrem kleinen, stillen Kreise, wie bisher. Die Stimme des Weibes in ihr hatte noch nicht gesprochen, und was sie um sich her gesehen hatte, wenn es einmal eine Heirat gab hier in dem weltverlorenen Erdenwinkel zwischen zweien dieser ernsten, schwerblütigen Menschen – eine Notwendigkeit eben ohne irgendwelche seelischen Erregungen, ohne himmelanstürmende Seligkeiten und Hoffnungen – das hatte auch wohl in ihr selber kaum solch ein Erwarten erwecken können. Aber ebensowenig auch Widerstände. Im Gegenteil, es war ja alles so natürlich: Heiraten war nun einmal die Bestimmung der Frau, und der einzige Mann, der hier oben für sie in Frage kam, war doch nur Franz Hilgers.

Jetzt dagegen war das mit einem Schlage anders; nun, wo ihr Selbst geweckt war. Jetzt empfand sie plötzlich Franz Hilgers in seinem ganzen Wesen vollbewußt als ihr gerades Gegenstück – ja, als einen Teil jener sie bedrohenden, unterdrückenden Mächte, gegen die sie sich wehrte mit aller Kraft, wie eine Erstickende.

Aber mehr noch – auch das Weib in ihr war wach geworden, hellsehend, und es sah, verglich, urteilte und verurteilte. Es war ihr ja nun ein Maßstab in die Hand gelegt worden. An Marrs Persönlichkeit prüfte sie den anderen und befand ihn klein und schwach. Stärker noch, leidenschaftlich, ward da der Widerstand in ihr. Ihre eigene, junge, starke Kraft erhob sich. Sich führen und leiten lassen von einem, dem sie sich überlegen fühlte? Ihr Stolz bäumte sich auf dagegen – nimmermehr!

Sich hingeben, willig und anschmiegend, einem Starken, oh – es mußte etwas Schönes sein! Sie fühlte es plötzlich, und Marr stand da vor ihren Augen in all seiner frischen Kraft. Eine leise Seligkeit über schauerte sie, wie in jenem Augenblick, wo seine Hand sie berührt hatte. Und wieder mußte sie denken: Nicht einmal war ihr das geschehen bei Franz Hilgers! Ein Ahnen kam ihr da von den Geheimnissen der Weibesnatur, daß alles in ihr sich auflöste in einem weichen, verträumten Sehnen.

Aber dann überfiel sie unerwartet eine große Traurigkeit. Ob denn auch er wohl etwas davon empfand – auch nur ein ganz klein wenig so nach ihr verlangte? Sie grübelte nach, suchte sich jedes Wort von ihm, jeden Blick noch einmal in Erinnerung zu rufen. Aber da war nichts, was sie berechtigt hätte, das zu glauben. Nur das eine Mal, eben ganz zum Schluß, auf dem Arvenhügel, ehe er davonging. Oder hatte sie sich vielleicht getäuscht, auch in diesem Augenblick? Bloß ihr eigenes Empfinden ihm angedichtet? – Doch dann schüttelte sie still für sich ihr Haupt, und noch tiefer ward diese Traurigkeit. Es war auch ganz gleich, er ging ja – dann war alles aus, so oder so.

Und sie begann sich das Leben auszumalen, wie es dann sein würde, wenn er fort war. Wieder überfiel sie da diese dunkle Angst, nur noch quälender jetzt. Ein Grausen beschlich sie vor der Einsamkeit ihres Daseins in der Zukunft. Seine Worte fielen ihr ein: Selber erstarren muß, was hier oben haust, so nahe der Grenze des ewigen Eises. Und zum anderen Male bäumte es sich in Hilde Gerboth auf. Nein – nur das nicht! Hinaus ins Freie; den Weg, den er ihr gewiesen! Sie mußte und würde ihn gehen – und war der Kampf auch noch so schwer.

So stand Hilde noch, da hörte sie Tritte draußen vor ihrer Tür: der Vater, noch einmal. Sie wandte sich vom Fenster ab; beunruhigt, fast scheu. Was würde er diesmal bringen?

Sehr ernst blickte der Meister sie an.

»Eben war Marr bei mir.«

Hilde zuckte zusammen.

»Er wollte dich noch einmal sprechen, ehe er fortgeht.«

Eine lichte Röte schoß ihr in die eben noch blassen Wangen.

Schmerzlich furchte sich Gerboths Stirn, aber er sprach weiter:

»Ich habe es ihm nicht verweigern wollen – so mag er dir denn sagen, was er noch zu sagen hat. Leicht ist es mir freilich nicht geworden. Ich weiß – es wird morgen die Stunde der Entscheidung sein, wo ich mein Kind vielleicht verliere. – – Aber gleichviel, du sollst mir einmal keinen Vorwurf machen können, also mag es denn sein. Ich will trotz allem vertrauen, daß all das, was ich in dich hineingepflanzt und gepflegt habe in langen Mühen, doch nicht ganz umsonst war und auch diese schwerste Prüfung nun überstehen wird.«

»Lieber, guter Vater!«

Hilde schmiegte sich an ihn und legte ihm die Arme um den Hals; erregt drängte sich ihm ihre junge Brust entgegen.

Karl Gerboth fühlte es, zum anderen Male heute: Das war das Kind nicht mehr – ein zum Leben erwachtes junges Weib stand vor ihm. Da machte er sich von ihr los mit einer entschlossenen Bewegung und wiederholte nur noch einmal mit ernstestem Nachdruck:

»Wie gesagt – ich habe das Vertrauen zu dir, Hilde. Sieh zu, daß du es nicht enttäuschst. Und nun geh' zu Bett, Kind, es ist spät geworden heut – recht spät.«

Damit ging er, und Hilde war gehorsam. Sie suchte ihr Lager auf, aber der Schlaf kam nicht. So erregt schlug ihr das Herz, fieberten ihr alle Pulse. Sprechen wollte er sie noch einmal – was würde er ihr sagen?

Endlos war diese lange, dunkle Nacht, dann schließlich war sie doch herum, es kam der Morgen, der Vormittag, und nun stand Günter Marr vor ihr. Und wieder ging es ihr wie in den schlaflosen Nachtstunden. Das Herz schlug ihr bis in den Hals hinauf vor namenloser Erwartung.

Marr sah in ihr etwas blasses Antlitz, über dem ein fremder Hauch lag, ein ganz neuer Reiz – so weich und süß. Sehr schwer ward es ihm da, die Zurückhaltung zu üben, die zu beobachten er sich fest vorgenommen hatte. Vertrauen verpflichtet – er wußte, was er Karl Gerboth schuldig war. Seine Hand würde nicht mit Siegergriff das heimlich bebende Herz da an sich reißen. Nur der Verstand sollte heute sprechen zwischen ihnen – das, was zu sagen war in dieser Lage, und so begann er:

»Fräulein Gerboth – Sie wissen von Ihrem Vater, daß ich im Begriff stehe, fortzugehen!«

Sie bejahte stumm.

»Es ist heute somit der letzte Tag, der mir in Glurns vergönnt ist. Morgen schon reise ich ab. Aber ich konnte nicht gehen, ohne Sie noch einmal gesprochen zu haben. Die Gewährung dieser Unterredung bedeutet nach allem, was gestern vorgefallen ist, ein großes Zugeständnis Ihres Vaters. Das legt mir eine Verpflichtung auf, wie Sie begreifen werden. Ich kann nicht so sprechen – wie ich wohl möchte. Glauben Sie mir das, Fräulein Gerboth!«

Er hielt inne, und sein Auge suchte das ihre, sie hielt den Blick vor sich hin gesenkt. Da fuhr er fort:

»Es fällt mir nicht leicht, zu gehen – von Ihnen. Weiß ich doch, Sie stehen an einem Scheidewege Ihres Lebens, an den ich selber Sie geführt. Nun soll es sich zeigen, ob Sie die Kraft haben, den rechten Weg zu finden – auch allein.«

Es ging durch sie hin, ihr Blick hob sich und traf ihn, als sie nun sagte, wie in einem Geloben:

»Seien Sie ohne Sorge, ich habe die Kraft!«

»Und den festen Willen auch?«

»Auch den!«

Ein Schweigen, dann trat er einen halben Schritt auf sie zu.

»So kann ich Ihnen denn nur noch wünschen, daß Sie dieser Weg auch ans rechte Ziel führen möge – zum Glück.«

Sie erwiderte nichts, aber ihre Wangen färbten sich um einen Schein höher. Sein Auge hielt sie fest, in diesem Bilde scheuer Lieblichkeit.

»Fräulein Gerboth, so viel möchte ich Ihnen sagen, so viel! Aber Sie wissen –. Lassen Sie mich eins nur noch aussprechen, ein Hoffen: Daß Sie mir auf diesem Wege, wohin er Sie auch führen wird, nicht ganz aus den Augen schwinden möchten, daß es mir vielmehr vergönnt sein wird, Sie wiederzufinden – dann, wenn ich meine Aufgabe drüben gelöst, wird es Zeit sein, auch einmal an mich zu denken. Dann möchte auch ich an ein Aufbauen denken, für meine eigene Zukunft, und wieder vor Sie hintreten. Fräulein Gerboth – darf ich das?«

Sie antwortete auch diesmal nicht, aber über ihr liebes Antlitz flog es nun ungehindert hin. Ein rosiges Erglühen, wie er es droben geschaut auf den reinen Firnen der Berge. Und er bat leise, drängender:

»Fräulein Hilde – sprechen Sie doch dies eine, einzige Wort, das mich so froh machen, das mir draußen in der weiten Welt sein würde wie ein Stückchen Heimat – sagen Sie mir doch dies Wort!«

Da brach ein Leuchten aus ihren Augen, voll tiefster Innigkeit, Kind und Weib war sie in einem, wie sie so sprach mit heimlichem Sehnen und gläubigem Vertrauen:

»Kommen Sie! Ich will auf diese Stunde warten – allezeit.«

»Ich danke Ihnen!« Aus befreitem Herzen kam es ihm. Dann aber ward sein Blick wieder ernst. »So bleibt mir denn bloß noch ein allerletztes: das Lebewohl. Ein trauriges Wort – aber dahinter folgt ein anderes: auf Wiedersehen! Und nur das wollen wir hören, Fräulein Hilde – alle beide, nicht wahr? – wenn wir nun so weit voneinander getrennt sein werden.«

Er streckte ihr seine Hände entgegen, und sie legte die ihren hinein. Wortlos preßte er sie ein paar Augenblicke, in innerster Bewegung, dann trat er zurück.

»Also, auf Wiedersehen!«

Sie gab ihm das Wort zurück und fügte hinzu mit leis erbebenden Lippen:

»Und Gott sei mit Ihnen – in jeder Stunde und Gefahr!«

Er nickte nur stumm und wandte sich dann ab. Schnell verließ er das Zimmer.

Hilde stand und lauschte, bis die festen Mannestritte verhallt waren auf der Diele und draußen die Haustür sich wieder schloß. Da trat sie ans Fenster und sah ihm nach, wie er dahinschritt über den Rasenplatz zwischen den Lärchen. Und die enteilende Gestalt verschwand vor ihrem umflorten Auge, das ihn segnete mit all der Inbrunst eines jungen Frauenherzens.



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