Paul Grabein
Der Ruf des Lebens
Paul Grabein

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Marr hatte beim Kuraten seine Rechnung beglichen und Abschied genommen, sein Koffer war gepackt, so war er denn bereit. Er sah nach der Uhr, jeden Augenblick mußte auch der Botensepp mit dem Muli kommen, wie sie verabredet hatten.

So konnte auch er selber sich immer fertigmachen zum Aufbruch. Aber während er zur Wand schritt, wo am Haken Hut und Mantel hingen, verlangsamten sich seine Schritte. Ja – sollte er wirklich so gehen, ohne jeden Abschied von Franz Hilgers? Er blieb stehen. Im Grunde hatten sie sich ja nichts mehr zu sagen, nach neulich. Aber immerhin, wenn man fast dreißig Jahre lang sich freundschaftlich nahegestanden hat! War da nicht vielleicht doch ein Wort –? Noch überlegte er, da klopfte es an seine Tür: der Botensepp.

»Nun, da sind Sie ja. Hier mein Gepäck, alles schon bereit.«

Jedoch der Alte drehte den Hut zwischen den Händen mit einem verlegenen Ausdruck in dem verwitterten, graustoppligen Gesicht.

»Nichts für ungut, Herr, aber es wird wohl halt nix werd'n heute mit dem Weg nach Halden.«

»Wie?« Marr runzelte die Stirn. »Es war doch fest abgemacht, und ich hatte mich darauf verlassen. Ich muß doch fort heut – was soll denn nun das?«

»Ja – es ist halt auch so eine besondere Sach', die keines nit vorher hat wissen können. Das Fräulein Gerboth ist doch heut in aller Fruah mit dem Birnbacher 'nauf zur Rotmoosalm, und da ist nun inzwischen das Wetter kimma. Schaun's nur droben auf die Berge, da ist alles weiß.«

Marr trat ans Fenster. In der Tat, ein flüchtiger Blick genügte, um ihn davon zu überzeugen. Aber was hatte das mit Hilde zu tun? Eine Unruhe ergriff ihn plötzlich, und er drängte den Mann.

»Nur zu – was weiter?«

»Der Weg droben zur Alm führt über den Planferner, und das ist eine schlimme Passage bei Neuschnee. Oder wenn eins wohl gar mitten 'neingerät in das Schneetreiben droben auf dem Ferner.«

Planferner? Marr zuckte zusammen. Ein Erinnern tauchte ihm auf – das war doch der Ferner, von dem ihm Hilde damals erzählte! Wo der Pfarrer verunglückt war, und der fremde Händler, in einer Gletscherspalte! Mit aufklopfendem Herzen hörte er den Mann vor ihm weiter sagen:

»Kurz, der Herr Gerboth ängstigt sich gar sehr um sein Madel und will sich selber auf den Weg machen, um nach ihr auszuschau'n, mit dem Herrn Hilgers. Und da möchten sie halt auch mi gern dabei hab'n – für alle Fäll' – denn es ist ja leider koa Mannsbild nit sonst hier im Dorf, z'wegen des Markts drunten in Halden. Nur lauter Weiberleut' und ein paar ganz Alte, die nimmer voran können mit ihren Füßen. Wann's der Herr also nit für ungu'et nehmen möcht'n – es wär' halt doch Christenpflicht, zumal wo es das Fräula ist, das immer so gu'et war zu uns allen hier.«

»Aber selbstverständlich! Was haben Sie mir das nur nicht gleich gesagt! Und auch ich geh' mit.«

Mit drei Schritten war Marr an der Wand, riß Mantel und Hut vom Kleiderriegel und griff nach seiner Taschenlampe und dem Bergstock.

»Voran denn!«

Schon auf halbem Wege trafen sie Gerboth und Hilgers. Es war ein ernstes Begrüßen, wenige Worte nur, und, selbstverständlich wie Marrs Angebot zur Mithilfe war, wurde es vor Hildes Vater angenommen mit einem stummen Blick des Danks. Hier schwieg jetzt alles andere. In Hilgers' Augen stand freilich offene Ablehnung – ja etwas wie eine heiß aufflackernde Feindseligkeit. Aber Marr achtete nicht darauf. Sein Denken war nur bei Hilde, und an die Seite Gerboths tretend, besprach er im Vorwärtsgehen alle Möglichkeiten, die es in diesem Fall gab. Des Meisters ganzes Hoffen war, daß Hilde das Unwetter noch rechtzeitig beobachtet und abgewartet haben möchte droben auf der Almhütte. Aber man mußte damit rechnen, es konnte auch anders sein. Vielleicht war sie halbwegs von dem Schneetreiben überrascht worden. Da war denn nur zu hoffen, daß sie vielleicht irgendwo einen Unterschlupf gefunden haben mochte und man noch rechtzeitig zu ihr kam, um ihr Hilfe zu bringen. Größte Eile war also geboten.

Ein schweigsames Wandern war's. Schwer lastete auf den Männern die Qual der Ungewißheit, während sie so bergan schritten, oft ankämpfend gegen den heftigen Sturm, der auch hier im Tal sein Wesen trieb, wenn freilich der Schneefall nicht bis hierher herunterreichte. Mehrmals mußte Franz Hilgers stehenbleiben, im Kampf mit dem Brausen des Sturms, sich umwenden und Atem schöpfen und dann den andern nacheilen mit verdoppelter Anstrengung. Es war für ihn kein leichtes Werk, Schritt zu halten mit den übrigen beim Vorwärtsstürmen. Aber er riß sich zusammen, er wollte sich nicht schwach zeigen vor Marr.

So kamen sie voran und waren nun endlich angelangt droben auf den Almhängen. Hier waren sie schon in der Zone des Schneefalls. Ueberall, weithin deckte die weiße Hülle den Boden, fußhoch und mehr noch. Dann waren sie an der Stelle, wo sich der Weg gabelte. Ein kurzer Halt und Ratschlag. Es war immerhin möglich, daß Hilde – gerade im Hinblick auf das Wetter – den sicheren Weg unten über den Gletscherbach gewählt hatte, und dort, erschöpft und hilfsbedürftig, irgendwo lag. Andererseits aber mußte man auch damit rechnen, daß sie doch vielleicht den gewohnten Weg über den Gletscher gewählt hatte. Also war denn eine Teilung geboten.

Karl Gerboth schickte sich an, mit dem Botensepp diesen letzteren Weg zu wählen, aber Marr trat ihm entschieden entgegen. Gerade die beiden, schon älteren Leuten diesen besonders anstrengenden und gefahrvollen Weg? Das durfte nicht sein. So drängte er denn:

»Nein – überlassen Sie das uns, den Jüngeren!«

»Aber Sie kennen den Weg nicht.«

»Franz Hilgers kennt ihn doch – nicht wahr?« Marr wandte sich zu ihm herum. »Du bist ihn doch gewiß schon öfter gegangen?«

»Allerdings –«

»Nun also – komm!«

Und schon wandte sich Marr, ohne eine weitere Entgegnung abzuwarten, der Richtung dieses Weges zu. Es blieb Hilgers nichts weiter übrig, als der Aufforderung zu folgen und den Führer zu machen, während die andern ins Tal zum Gletscherbach hinabstiegen.

Bald waren die beiden hier oben am Ferner angelangt. Etwas unterhalb sahen sie jetzt im Gletscherbett seinen Abbruch aus dem Nebel, den ein Windstoß für Augenblicke zerriß, auftauchen, und noch weiter drunten gurgelte es unter der wildzerrissenen Eiswand hervor mit wildem Brausen und Wirbeln: der Abfluß des Gletschers.

Unwillkürlich zog es Marrs Blicke dorthin, zu den jäh davonschießenden, schäumenden Wassern von einem kalten, frostigen Grau. Und wieder kam ihm jenes Erinnern – was Hilde ihm damals erzählt hatte, von dem Mann, der vor zwei Menschenaltern auf dem Ferner droben verunglückt war und dann vierzig Jahre später vom Gletscher wieder freigegeben wurde. Vielleicht gerade an der Stelle, wo jetzt sein Auge auf den wilden Wirbeln ruhte, kam damals der vom Eis erhaltene Körper des Unglücklichen wieder zum Vorschein, mitgeführt von dem langsam zu Tal rückenden Gletscher. Und wie in einer Vision sah er es plötzlich vor sich – einen jungen Frauenleib, starr, regungslos, ein marmorblasses Antlitz, von wirrem, dunklem Haar umrahmt, so schön selbst im Tode noch!

Eine dumpfe Angst befiel ihn da und peitschte ihn vorwärts, immer schneller noch. Vorüber eilte er an Hilgers, der bisher die Führung übernommen hatte. So riß er auch diesen mit sich, daß er wenigstens dicht hinter ihm blieb und von dort seine Weisungen gab wegen des Wegs.

Sie waren jetzt am Rand der Moräne angelangt und durchquerten diese. Das Schneegestöber hatte wohl aufgehört, wenigstens mit seiner vollen Gewalt, vereinzelt nur noch wehten ihnen die Flocken entgegen. Aber noch immer umheulte sie der Wind mit voller Gewalt. Er jagte die Nebelschwaden vor sich her über den Gletscher wie gehetztes Wild.

Marr ließ im eiligen Vorwärtsschreiten seinen Blick über das Schneefeld schweifen. Weithin dehnte sich die starre Oede in all ihrer Trostlosigkeit – ein Stück Polarnatur. Hatte er schon damals mitten im heiteren Sonnenglanz die schroffe Unnahbarkeit dieser Eiswelt empfunden, so fühlte er jetzt deren ganzes Grauen, ihre kalte Unbarmherzigkeit. Aber sie warf ihn nicht zu Boden in blasser Furcht, nein – ein wilder Trotz reckte sich in ihm auf. Ein unbändiger Haß gegen diese finstern Mächte der Vernichtung, die alles bedrohten, was Leben hieß und sich unter sie wagte. Eine grimme Lust zum Kampf, ein Herausfordern: Laß sehen, wer der Stärkere von uns ist! Ob Menschenwille und Menschenkraft euch nicht dennoch trotzt und eurem gierigen Rachen das Opfer entreißt, das ihr euch schon verfallen wähnt!

Und getrieben von diesem wilden Gefühl drängte Marr vorwärts, immer stürmischer und rücksichtsloser. Nur mit alleräußerster Anstrengung noch vermochte Franz Hilgers sich hinter ihm zu halten. Keuchend, mit schmerzender Brust, warf er düstere Blicke zu dem Voraneilenden, aufs heftigste gereizt. Was für eine Tollheit! Ahnte der da vorn denn gar nicht die Gefahr, die sie hier auf Schritt und Tritt umlauerte? Der Neuschnee, der in dem stundenlangen Gestöber mehr denn fußhoch gefallen war, hatte allenthalben Wächten gebildet, trügerische Brücken über die gähnenden Spalten im Gletscher, die hinabführten bis auf dessen Grund – hundert Fuß zur Tiefe und mehr vielleicht noch. Das geübte Auge des Bergkundigen freilich vermochte an allerlei Anzeichen die Stellen der Gefahr wohl zu erkennen, und mehrfach hatte Hilgers denn auch schon mit schnellem Zuruf Marr Halt geboten, wenn er geradeswegs auf eine solche Stelle zulaufen wollte.

Seltsame Gedanken zuckten dabei jedesmal in Hilgers auf. Eine ätzende Bitterkeit, mit finsterem, zersetzendem Hohn über sich selber. Eigentlich doch zum Lachen! Er, dem der andere da vorn kalten Herzens sein Glück zertreten, sein Leben vernichtet hatte, er wachte jetzt in voller Besorgtheit über dessen Sicherheit, lenkte vorsorglich seine Schritte vorbei an Gefahr und Tod. War es nicht im Grunde vollendete Narrheit? Offenen Kampf hatte ihm der da vorn doch angesagt. »Laß sehen, für wen das Glück sich entscheidet!« so hatte er ihm zugerufen mit eigenen Worten. Wie – wenn nun auch er nach diesem Grundsatz handelte? Galt es nicht für beide den gleichen Einsatz – Glück und Leben? Was zwang ihn also, den getreuen Ekkehard zu spielen, die schützende Hand zu halten über den da vorn, der sein geschworener Feind war? Er selber hatte das Glück herausgefordert zum Schiedsrichter über ihrer beider Geschick, so mochte es sich denn entscheiden – für oder wider ihn!

Mit dämonischer Macht setzte sich dieser Gedanke fester und fester in Hilger's Hirn, verstrickte ihn so in seinen Bann, daß er wie in einem wilden Fieberglühen weiterschritt und nicht mehr achthatte auf den anderen. Nur vor sich hin hatte er den düstern Blick geheftet, für sich den sicheren Tritt suchend, in Schnee und Eis. Doch plötzlich trieb ihn ein starker Zwang, dunkel, aber unwiderstehlich, den Blick wieder nach vorn zu schicken, zu dem andern hin, und wie er so hinblickte, stockte ihm plötzlich das Herz in einem jähen Entsetzen: Dort, keine drei Schritt vor Marrs Füßen zog sich quer über den Weg, wie ein leichter Schatten, eine kleine muldenförmige Senkung, für ein ungeübtes Auge kaum erkennbar, ihm selber aber sofort klar: eine Wächte war's, die den Gletscherspalt darunter nur lose verklebte. Drei Schritte weiter – und Marr war ein verlorener Mann!

Noch einmal reckte sich da der Dämon in ihm auf, wie ein zischelndes Raunen hörte er es in seinem Ohr, oder war es nur das fiebernde Brausen seines Blutes? Laß ihn doch – wer zwingt dich, ihn zu warnen? Ueberlaß ihn seinem Schicksal! Und schon sah er Marr den Fuß heben zu dem todbringenden Schritt. Aber da, im letzten Augenblick klang es zu ihm hin:

»Um Gottes willen – halt!«

So schrill war der Ruf, daß Marr zusammenzuckte und herumfuhr. Er meinte nicht anders, als es sei Hilgers etwas zugestoßen. Doch dieser stand unversehrt, nur eine Totenblässe im Antlitz, mit ganz verzerrten Zügen, die Augen weit aufgerissen. Und als er Marrs stummes Verwundern gewahrte, deutete er nun mit zitternder Hand auf die leichte Senkung im Schnee unmittelbar vor Marr.

»Eine Gletscherspalte – gerade vor dir!«

Günter Marr sah zu der Stelle vor sich am Boden, dann wandte er das Auge noch einmal zu dem andern, und als er diesen immer noch so sah, wie geschüttelt von einem geheimen Grauen, kam es plötzlich über ihn – ein Verstehen. Einen eisigen, schneidenden Blick sandte er da nur zu dem einstigen Freund hinüber; der sagte genug. Das Zittern Hilger's verstärkte sich noch unter diesem furchtbaren Schweigen. Doch jetzt sagte Marr kurz und scharf:

»Es ist wohl besser, du übernimmst die Führung.«

Hilgers nickte mit einer nervösen Erregtheit und schritt voraus. Aber Marr sah es ihm an, kaum vermochte er sich noch auf den Füßen zu halten. Fast schwankend war sein Gang: Die körperliche Anstrengung des ganzen Weges hierher und jetzt die seelische Erschütterung dieser Augenblicke, die ihm wohl den Rest gegeben hatte. Ein Stück zwar schleppte er sich noch vorwärts, ein letztes Aufbäumen all seines Stolzes und seiner Willenskraft, aber dann blieb er stehen.

»Ich kann nicht mehr!«

Aechzend rief er es aus und preßte sich die Hände aufs Herz, das wie in einem rasenden Wirbel schlug. Marr trat zu ihm, ein kurzes Ueberlegen, ein Vorausblicken. Sie waren über den eigentlichen Gletscher schon hinüber, wenige Schritte vor ihnen tauchten mit schmutzigem Grau aus der Schneehülle Schutt und Trümmer auf, die jenseitige Moräne. Da legte er kurz entschlossen den Arm um Hilgers.

»Komm!«

Ein kurzer Widerstand, dann ging es durch Hilgers' Körper wie ein hilfloses Zusammenklappen, der Kopf sank ihm zur Brust und Tränen standen ihm in den Augen, so ließ er sich wortlos von dem anderen fortführen, halb getragen fast – ein körperlich und seelisch völlig Gebrochener. Von ihm, dem Starken, dem Sieger, auch hier wieder! Ließ sich dort hinschaffen zu den ersten größeren Blöcken. – Dort suchte Marr ein Fleckchen, das einigermaßen Schutz gegen den Wind bot, und ließ da den Leidenden niedersinken auf einem Felsstück.

»Halt' dich hier ganz ruhig, in kurzem bin ich wieder zurück.«

Aus den Nebeln, die der Wind zerriß, stieg ja bereits dicht vor seinen Blicken der Hang der Rotmoosalm auf. Und Marr nahm die Richtung dorthin, aber wie er so das letzte Stück des Trümmergewirrs der Moräne durchquerte, stutzte er plötzlich. War das nicht wie Hundegebell?

Er lauschte. Nein – doch wohl nur eine Täuschung, und er wollte weitergehen. Aber da, zum anderen Male, und lauter diesmal: ganz deutlich, ein langgezogenes, klagendes Heulen aus tiefer Brust, wie von einem großen Hunde. Da durchfuhr es ihn – Rolf, der Bernhardiner, ganz in seiner Nähe! Und wo er war, mußte auch Hilde sein. Aber wie würde er sie finden? Das Heulen klang so klagend.

Freude und Schrecken zugleich brachen über ihn herein, trieben ihn vorwärts, immer dem Schall nach. Ein Laufen, ein Vorwärtsstürmen durch das Trümmergewirr, bis es endlich aus den vorüberjagenden Nebelschwaden dunkel auftauchte – einige mächtige Blöcke, übereinandergeschichtet, und darunter eine dunkle Oeffnung, wie ein Eingang zu einer Höhle. Aus diesem Dunkel löste es sich jetzt und kam ihm entgegen: eine weißleuchtende Brust, ein mächtiger Kopf und nun das ganze Tier. Wirklich der Hund, der ihn jetzt erkannte und ein erneutes Heulen ausstieß. Im Uebermaß seiner Freude und ausgestandenen Angst kam er mit langen Sätzen heran und sprang ungestüm an Marr empor. Dann aber lief er sofort wieder zurück, wobei er sich jedoch immer wieder umblickte, ob der Retter ihm auch folgte. Kein Zweifel mehr: Dort drinnen war Hilde! Aber sie kam nicht selber, nicht einmal rufen konnte sie – von neuem packte Marr da die Angst ans Herz.

Nach ein paar Schritten mit fliegendem Fuß war er drinnen im Dunkel der Höhlung, das Licht seiner elektrischen Taschenlampe flammte auf, und – dort lag sie, ganz hinten, zusammengesunken am Boden. Nun kniete er neben ihr und erkannte mit erleichtertem Aufatmen: Keine Verletzung, offenbar nur eine Ohnmacht, eine Froststarre! Da riß er sich den Mantel von den Schultern und hüllte sie darin ein. So mühte er sich nun um sie, rieb ihre Hände und Pulse und machte Bewegungen mit ihrem erstarrten Körper. Und endlich – eine unsagbare Freude durchströmte ihn – ging ein Regen durch ihre Züge, sie schlug die Augen auf.

Eine Rückkehr war es, langsam, dämmerhaft, aus einer dunklen, schreckensvollen Ferne, wieder hin zum Licht, zum Leben. Und nun erkannte sie ihn. Mit einem Zweifeln und Verwundern erst. War es nicht bloß ein Traum, ein Wiederanknüpfen an die nebelhaften Vorstellungen vorhin, ehe ihr die Sinne geschwunden waren? Er, nach dem ihr letztes klares Denken gerufen hatte, voll innersten Sehnens – da war er nun im wirren Spiel ihrer Phantasie und hielt sie in seinen Armen! Ungläubig blickte sie auf ihn wie auf eine Erscheinung, die wieder zerfließen mußte in ein Nichts im nächsten Augenblick! Aber da tönte es an ihr Ohr:

»Hilde!«

Wirklich also! Er war da, leibhaftig – und mit ihm die Rettung, das Leben!

Da riß es sie hinweg über alle Schranken im Aufjubeln ihres Herzens, in das das Blut wieder zurückströmte mit all der treibenden Kraft der Jugend. Kein Laut kam von ihren Lippen, aber ihre Arme schlangen sich ihm um den Hals, der sie noch immer an seiner Brust barg, als lasse er sie nun und nimmer wieder.

So hielten sie sich lange, wortlos – in einem seligen Wiederfinden und Vereinigtsein, und strahlendes Licht war über ihnen hier in dem engen dunklen Verlies der unwirtlichen Bergöde.

Der Bernhardiner war's, der sie zurückrief von dem Sonnenflug ihrer Seelen. In seiner Freude, die geliebte Herrin wieder zu sehen, nicht mehr in der todesähnlichen Starre, die ihn so geängstigt hatte, drängte er nun seinen Kopf zwischen die beiden, die sich so selbstvergessen hielten, und mahnte, daß er auch noch da war. Da wandten sie sich zu ihm mit all der Güte überreichen, jungen Glückes, das so gern abgibt auch an andere, und streichelten ihn beide mit liebkosender Hand. Ja, Hilde legte ihm jetzt den Arm um den mächtigen Hals und preßte ihn an sich voller Dankbarkeit, indem ihr Auge dabei den geliebten Mann suchte.

»Wenn er nicht gewesen wäre, ich glaube, die Rettung wäre doch zu spät gekommen. Aber er hielt mich so warm mit seinem Fell, der Treue!«

Dann erzählte ihr Marr, wie das Rettungswerk zustande gekommen, und berichtete so, daß auch ihr Vater mit dem Botensepp unterwegs sei, aber auf dem andern Weg über den Gletscherbachsteg.

Der Vater!

Und all die Sorge, die er um sie tragen mochte noch in eben diesem Augenblick, kam Hilde zum Bewußtsein. Da sprang sie auf. Nicht länger sollte er sich grämen um sie.

So traten sie hinaus ins Freie. Marr betrachtete sie erst noch mit Sorge, aber sie lächelte, indem sie es gewahrte; schon wieder ganz strahlende Frische. Das große Wunder erfüllter Liebe hatte ihr alle Kraft wiedergegeben. Keine Hilfe, keine Stütze brauchte sie. Mit leichten Schritten ging sie einher und wandte sich nun der Rotmoosalm zu. Aber da traf sie Marrs Zuruf.

»Franz Hilgers! Ich muß erst nach ihm sehen, ihn herschaffen.«

Ein Gefühl großer Beschämung kam über Hilde. Daß sie an ihn im Augenblick nicht gedacht hatte. Günter hatte ihr ja auch von seiner Teilnahme an ihrer Rettung erzählt, und ein warmes Regen stieg in ihr auf, Rührung und Dankbarkeit. Auch er hatte doch versucht, ihr Hilfe zu bringen, sein Bestes dazu getan – was konnte er für seine Schwäche? Da erklärte sie schnell:

»Ich will mit. Wo ist er?«

Gemeinsam gingen sie zu ihm und fanden ihn auch noch dort, wo Günter Marr ihn verlassen hatte. In recht angegriffenem Zustand zwar immer noch, aber das Ausruhen für geraume Zeit hatte ihm doch gut getan. Er fühlte sich wieder fähig für den weiteren Weg, war doch nun auch die Gefahr vorüber und vor allem – Hilde gerettet.

Er gab seiner Freude darüber Ausdruck, und sie dankte ihm sein Rettungswerk mit herzlicher Wärme; aber dennoch war diese Begrüßung ernst und traurig. Es stach Franz Hilgers ins Herz, wie er die beiden so herankommen sah, einander zugesellt, als ob sie zusammengehörten. Noch einmal überkam ihn da mit tiefster Bitterkeit das Gefühl seiner eigenen Schwäche und Unterlegenheit. Dem anderen war es geglückt, das Werk der Rettung, bei dem er selber zusammengebrochen war kurz vorm Ziel. Und auch dort würde jener ans Ziel kommen – wenn es nicht etwa schon geschehen war. In den Augen Hildes, über ihrem ganzen Antlitz war etwas so Eigenes, Verklärtes, sein Ahnen sagte ihm: Es war wohl bereits eingetreten, was er befürchtete zu seiner Qual!

Da war es denn schwer, dabei zu sein als Dritter, im Grunde Ueberflüssiger. Ein Leidensweg war für Franz Hilgers dieser Weg über die Alm und wieder hinab, dem Bett des Gletscherbaches zu, den sie nun zurücklegten. Schweigend zumeist, nur zuweilen trafen sich Hildes und Marrs Blicke, in einem stummen Sichsuchen und Verstehen. Dann wandte Franz Hilgers jedesmal den Kopf zur Seite mit schmerzlich zusammengepreßtem Mund. Er sah wirklich elend aus, und mühsam schleppte er sich nur weiter.

So gingen sie talab geraume Weile, die letzten versprengten Nebelfetzen lagen schon hinter ihnen, da erblickten sie drunten auf dem Pfad zwei Männer, die ihnen entgegenkamen: Karl Gerboth und der Sepp.

Nun hielt es Hilde nicht länger.

»Vater!«

Hell drang ihr Ruf zu ihm, ein glückseliges Grüßen und Winken mit hocherhobener Hand, dann lief sie ihm entgegen, warf sich in seine Arme.

Eine Bergeslast ward dem Meister von der Seele gewälzt, als er den Zuruf hörte. Nun preßte er, selber ganz Glück, die Tochter an sich. Aber wie er sie so hielt und auf sie niederschaute, während sie ihm ihre Rettung durch Marr schilderte, trat in sein Auge langsam ein Zweifel und Forschen. War das alles wirklich nur Kindesliebe? Das Glück des Wiedersehens mit ihm nach der Todesgefahr? Oder verriet sich nicht da aus diesem Jubel noch etwas anderes? Und sein Blick wandte sich vom Antlitz der Tochter, die er noch an seiner Brust hielt, fort zu dem Manne hin, der nun auch herannahte mit seinem Begleiter, und dem er dieses Wiedersehen dankte. Zögernd erst, aber dann mit festem Willen streckte sich ihm Gerboths Rechte entgegen. Ein stummer Dank – aber mehr noch vielleicht. So eigen streifte sein tiefernster Blick den anderen, der da vor ihm stand, aufrecht und stark, und ihm offen ins Antlitz sah. Dann wandte sich dieser Blick dem Dritten zu, wie in einem tiefen Mitleid, und nun gewahrte er auch Hilgers' Aussehen.

»Franz – was ist Ihnen?«

»O nichts weiter – ich habe mich wohl nur etwas übernommen.«

Und Hilgers wandte sich ab. Eine Röte wollte ihm auf der Stirn aufflammen unter dem forschenden Blick des Meisters. Wenn er, der Hochgesinnte, Strenge, Zeuge gewesen wäre jenes Augenblicks, vorhin auf dem Gletscher, wo ihm ein finsterer Dämon den Sinn verwirrt hatte!

Der Gedanke ließ Hilgers nicht mehr, und wie sie alle zu Tal stiegen, Franz Hilgers als letzter, ganz allein hinter den übrigen, da rang es sich in ihm durch. Ein großer Entschluß: Beichten wollte er dem verehrten Manne alles, er sollte sein Richter sein, und wenn es ihm selbst, wie wohl nicht anders möglich, das Schwerste eintrug, den Verlust seiner Achtung und Freundschaft. Er wollte es auf sich nehmen ohne Murren, als eine gerechte Sühne.

So kamen sie hinunter nach Glurns. Bei der Kirche trennten sie sich, und die beiden, die sich einst Freunde waren, gingen nebeneinander her ihrer gemeinsamen Behausung zu – zum letzten Male. Aber kein Wort ward zwischen ihnen gewechselt.

Auch Marr hing seinen Gedanken nach. In seinem Glück, das dem anderen doch Vernichtung seiner Lebenshoffnungen bedeutete, regte es sich in ihm. Warm, großmütig. Vergessen war das vorhin, jener Augenblick auf dem Gletscher, nur noch Mitleid empfand er mit dem anderen. Und wie sie jetzt drinnen im Kuratenhaus vor Franz Hilger's Zimmer standen und sein Blick diesen noch einmal streifte und gewahrte, wie elend er war, da sagte er mit aufrichtiger Teilnahme:

»Du leidest offenbar mehr, als du zugibst. Ich will doch gleich den Kuraten heraufholen, daß er nach dir sieht, und kann ich etwa sonst noch –?«

Franz Hilgers schüttelte den Kopf, ohne herzusehen. Fest biß er die Zähne aufeinander, aber sie klapperten leise zusammen, als schüttele ihn der Frost.

»Danke – es wird schon von selbst werden.«

Und schnell trat er bei sich ein.



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