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XIV

Es war nur wenige Minuten nach diesem Gespräch, als oben am Rande der Schlucht, im tiefen, nächtlichen Dunkel, sich das Geräusch von Schritten zwischen den Sträuchern vernehmen ließ. Man hörte wieder das Knacken der Äste und das Rauschen der Zweige, gegen die irgend jemand heftig anstürmte – trockene Blätter fielen raschelnd zu Boden, und es war, als ob ein verwundetes oder jäh aufgeschrecktes Wild in großen, hastigen Sätzen emporstürmte.

Das Geräusch kam näher und näher, und endlich sprang der Dahereilende aus dem Dickicht auf den kleinen freien Platz oben am Rande der Schlucht. Es war Raiskij, der aus der Tiefe hervorbrach, in rasendem Ungestüm, ganz außer sich, mit wutverzerrten Zügen. Er warf sich auf die Bank, richtete sich gerade empor und saß wohl zwei Minuten lang unbeweglich da – dann schlug er die Hände zusammen und bedeckte mit ihnen sein Gesicht.

»War es ein Traum – oder war es Wirklichkeit?« flüsterte er wie geistesabwesend.

»Nein nein – es war eine Täuschung der Sinne, es kann ja nicht sein! Es kam mir nur so vor!«

Er stand auf, setzte sich aber sogleich wieder, als ob er auf etwas lauschte; dann legte er die Hände auf die Knie und brach in lautes, nervöses Lachen aus.

»Nun haben sie ein Ende, all die Zweifel, die Fragen, die Geheimnisse!« sagte er und lachte wieder hell auf, daß er sich förmlich schüttelte. »Das ist sie also – die Göttin, die Edle, Reine! Das Weib mit der schönen Seele! Wera, die Statue! Und er! Und der Paletot, den ich eigens beim Schneider für den armen Verbannten bestellt habe: der liegt vor dem Pavillon! Und das Geld ... die dreihundert Rubel ... die hat er einfach als Wettgewinn eingezogen. Die früheren achtzig Rubel hat er in Abzug gebracht, und zweihundertzwanzig sollte ich ihm schicken ... macht genau dreihundert! Oh, die ehrliche Seele ... Sekleteja Burdalachowa!«

Er lachte von neuem laut auf, doch klang es jetzt mehr wie ein Stöhnen. Dann schwieg er plötzlich und griff mit der Hand nach dem Herzen.

»Oh, wie das hier schmerzt!« stöhnte er. »Wera, die Katze ... Wera, das schwache, hinfällige Weibchen ... das in kläglicher Geilheit dem ersten besten stämmigen Rüpel zur Beute wird! Wohl – mag sie tun, was sie will, sie ist ja frei und Herrin über sich selbst; aber wie konnte sie es wagen, jemanden zu verhöhnen, der so unvorsichtig war, eine ehrliche Leidenschaft für sie zu fassen? ... ihren Freund obendrein, ihren Bruder?« Kochend vor Wut schleuderte er es heraus: »Oh, Rache, Rache!«

Er sprang auf und stand in schmerzlichem Brüten da.

Doch worin sollte seine Rache bestehen? Sollte er zur Großtante hinlaufen, sie bei der Hand nehmen und hierher führen, mit einer ganzen Menschenschar, mit Laternen, die die Schande beleuchteten? Sollte er ihr zurufen: »Das ist die Schlange, die Sie dreiundzwanzig Jahre lang an Ihrem Busen genährt haben!?«

Er wehrte ab: »Nein, nein, das geht nicht!«, und fuhr sich mit der Hand über die heiße Stirn.

»Das wäre eine Gemeinheit, Boris!« sprach er flüsternd zu sich selbst. »Das bringst du nie fertig! Das hieße, sich nicht an ihr, dieser Schlange, rächen, sondern an der Großtante, die dir stets eine zweite Mutter gewesen ist.«

Er ließ resigniert den Kopf hängen; dann warf er ihn plötzlich wieder in den Nacken und stürzte in einem Anfall von Raserei nach der Schlucht.

»Dort feiert nun die Leidenschaft der Gosse ihren Sieg – ja, ja! Diese dunkle Nacht birgt den geheimnisvollen Triumphgesang der Liebe!« spottete er mit verächtlichem Lächeln. »Der Liebe!« wiederholte er. »Und Mark ist der Sieger! Dieses Irrlicht, dieser Raufbold, dieser liberale Wirtshausschwätzer! Ach, Wera, Wera – wärst du doch bei dem einen Verehrer, dem hübschen, stämmigen Tuschin geblieben!« flüsterte er giftig. »Der besitzt doch wenigstens Wälder und Felder und Seen, und er kutschiert seine Pferde wie ein Rosselenker in Olympia. Aber dieser Vagabund!«

Der Atem wollte ihm versagen.

»Das sind nun unsere Männer der Tat!« flüsterte er. »Gegen den Polizeimeister die Faust in der Tasche ballen, den Stubenmädchen und Küstersfrauen die Torheit der Ehe demonstrieren, mit Hilfe von Feuerbachschen Argumenten und unter Vorspiegelung einer unbezwinglichen Leidenschaft für die Ergründung der Naturgesetze sich in das Vertrauen der Weiber einschleichen, um dann solche schwachnervige, kleine Räsoneurinnen zu verführen – das ist ihr Programm! Oh, bleib nur dort auf dem Grunde der Schlucht, du erbärmliches, geiles Weibchen, geh dort zugrunde wie jener arme Selbstmörder! Das ist mein Abschiedsgruß an dich!«

Er wollte in der Richtung der Schlucht ausspucken – und stand plötzlich wie erstarrt! Wider seinen Willen, aller Wut und Verachtung zum Trotz, erhob sich langsam in seiner Vorstellung vom Grunde der Schlucht Weras Bild und stand in so bezaubernder Schönheit vor ihm, wie er es nie gesehen.

Ihre Augen glühten in Leidenschaft, so hell wie zwei Sterne. Nichts Böses oder Kaltes lag in ihnen, keine Unruhe, keine Trauer; nichts als Glück sprach aus ihrem hellen Glanz. Ihre Brust, ihre Arme, ihre Schultern, kurz die ganze Gestalt war durchströmt von vollem Leben und gesunder Kraft.

Sie blickte versöhnt auf die ganze Welt. Sie stand auf ihrem Piedestal, doch nicht als bleiche Marmorgestalt, sondern als lebendiges, einen unwiderstehlichen Zauber ausstrahlendes Weib, als poetische Vision, wie sie ihm einstmals vorgeschwebt, als er unter dem frischen Eindruck von Sofjas Schönheit nach Hause ging; zuerst eine kalte, anscheinend leblose Statue, hatte sie sich allmählich in ein lebendes Wesen verwandelt, um das herum plötzlich alles zum Leben erwachte, die Bäume zu grünen und zu blühen und ein warmer, daseinsfroher Pulsschlag sich zu regen begannen.

Und nun stand sie vor ihm, diese lebendige Gestalt – das Weib. Vor seinen Augen vollzog sich das Erwachen Weras, die bisher eine Statue gewesen, aus jungfräulichem Schlaf. Es war ihm, als würde seine Brust zugleich von kaltem Eis erfüllt und von heißen Flammen durchlodert; er empfand die schmerzlichsten Qualen und konnte doch die Augen von diesem stolzen Bild der Schönheit nicht abwenden, das voll Liebe auf die ganze Welt schaute und auch ihm mit freundschaftlichem Lächeln die Hand reichte.

»Ich bin glücklich!« hörte er sie flüstern.

Zu ihren Füßen lag Mark, einem Löwen gleichend, der der Ruhe pflegte, mit dem Ausdruck schweigenden Triumphes im Gesicht; ihr Fuß ruhte auf seinem Kopf. Raiskij zuckte zusammen, und er suchte mit aller Gewalt zur Besinnung zu kommen.

Das Entsetzen über den Fehltritt seiner Kusine, dieser Schönheit, dieser niedergemähten Blume, trieb ihn hinweg – die Eifersucht aber, die Wut und vor allem der Reiz dieser neuen, unwiderstehlichen Schönheit der zum Leben erweckten Wera zogen ihn wieder zurück zur Schlucht, zu diesem Siegesfest der Liebe, dieser hehren Feier, welche die ganze Welt, die Natur mit zu begehen schien.

Es war ihm, als höre er Stimmen, als dringe der Gesang und der Flügelschlag von Vögeln an sein Ohr, als vernehme er zärtliches Liebesgeflüster und leidenschaftliche Seufzer, die den ganzen Garten anzufüllen und bis zur Wolga hinüberzutönen schienen.

Voll Angst, wie versteinert, stand er da am Rande der Schlucht und vertiefte sich in Gedanken ganz in den Anblick dieser neuen, zum Leben erwachten Wera, um im nächsten Augenblick wieder von unmenschlichem Schmerz ergriffen zu werden und erbleichend zu flüstern:

»Rache, Rache!«

Ringsum aber, und dort in der Tiefe, war es still und dunkel. Da plötzlich sah er zehn Schritt weit entfernt die Silhouette einer menschlichen Gestalt, die sich vom Hause her ihm näherte. Er blickte voll Überraschung hin.

»Wer ist da?« fragte er grimmig.

»Ich bin es ... ich ...«

»Wer denn?« wiederholte er noch grimmiger.

»Ich bin es, Monsieur Boris ... Polina ...«

»Sie!? Was wollen Sie hier?«

»Ich bin gekommen ... ich weiß ... ich sehe ... Sie haben schon lange etwas auf dem Herzen, das Sie mir sagen wollen«, flüsterte Polina Karpowna geheimnisvoll. »Aber Sie getrauen sich nicht ... Du courage! Mut! Hier hört und sieht uns niemand ... espérez tout. erhoffen Sie alles«

»Was will ich Ihnen sagen? Reden Sie!«

»Que vous m'aimez Daß Sie mich lieben – oh, ich habe es längst bemerkt! N'est-ce pas? Sie suchten vor mir zu fliehen ... aber die Leidenschaft hat Sie immer wieder zurückgetrieben!«

Er faßte ihre Hand und zog sie zur Schlucht.

»Ah! De grâce! Aber nicht so brüsk. Was tun Sie denn? Lassen Sie mich los!« schrie sie voll Angst – sie war allen Ernstes erschrocken.

Doch er hielt ihre Hand fest umklammert und zog sie bis dicht an den Rand der Schlucht.

»Ich lechze nach Liebe!« rief er wie in rasender Leidenschaft. »Ich lechze nach Liebe! Heute ist die Nacht der Liebe – hören Sie? Hören Sie die Seufzer ... die Küsse? Das ist die Leidenschaft, die heute triumphiert – ja, die Leidenschaft, die Leidenschaft!«

»Lassen Sie mich los, lassen Sie mich los!« kreischte sie in jähem Schreck. »Ich falle hin, mir wird so übel!«

Er ließ sie los; seine Arme sanken herab, und er atmete tief auf. Dann sah er sie durchdringend an, als ob er sie eben erst bemerkte.

»Fort von hier! Fort, nur fort!« rief er aus, und wie ein Wilder stürzte er, sie vor der Schlucht stehenlassend, davon, lief durch den Park und den Blumengarten und gelangte auf den Hof.

Auf dem Hof blieb er stehen, holte tief Atem und sah sich um. Er hörte, wie jemand am Brunnen im Wasser plätscherte, es schien Jegorka zu sein, der sich zur Nacht Gesicht und Hände wusch.

»Hol meinen Reisekoffer herunter!« rief er ihm zu. »Morgen fahre ich nach Petersburg!«

Und er goß sich aus der Brunnenrinne selbst Wasser auf die Hände, befeuchtete damit die Augen und den Kopf und ging mit raschem Schritt ins Haus.

Von Zeit zu Zeit lief er hinaus auf die Terrasse, schritt im bloßen Rock auf dem Hof hin und her, sah zu Weras Fenster hinauf und ging wieder in sein Zimmer, um ihre Rückkehr zu erwarten. In dem Nachtdunkel jedoch konnte er keine zehn Schritte weit sehen, und so verlegte er seinen Beobachtungsposten nach der Akazienlaube. Doch hier packte ihn von neuem die Wut – das Laub war schon fast ganz abgefallen, so daß er nicht sicher war, in seinem Versteck ungesehen zu bleiben.

Dennoch blieb er bis zum Einbruch der Morgendämmerung in der Laube. Er saß wie auf Kohlen – nicht aus Leidenschaft, denn seine Leidenschaft war wie durch Zauberkraft verschwunden. Welche Leidenschaft hätte auch angesichts eines solchen Hindernisses standgehalten? Nein, er empfand nur den unwiderstehlichen Wunsch, der neuen Wera in die Augen zu sehen und dem geilen Weibchen mit einem verachtungsvollen Blick die Schmach zu vergelten, die sie ihm, der Großtante, dem ganzen Hause, der ganzen Gesellschaft, kurz, dem gesamten Menschentum, dem gesamten weiblichen Geschlecht angetan hatte.

›Liebe offen und ehrlich, stiehl niemandes Vertrauen, schwelge in deinem Glück und bring ihm Opfer, treib mit der Achtung der Menschen, mit der Liebe der Deinigen kein frevelhaftes Spiel, lüge nicht so schändlich und erniedrige das Weib nicht in dir!‹ perorierte er im stillen. ›Ja, einen Blick noch will ich ihr zuwerfen – darin soll sie ihre Strafe, ihre Verurteilung lesen, und dann will ich für immer abreisen.‹

Er bebte in fieberhafter Ungeduld und Erwartung, wann sie wohl zurückkehren werde. Wie ein Panther wollte er sie aus dem Hinterhalt anfallen, wollte ihr den Weg versperren, ihr jenen Blick zuwerfen, ihr ein Wort – nur ein einziges! – entgegenschleudern ... Wie lautete es doch, dieses Wort?

Er saß in einem Winkel der Laube, fuhr sich mit den Händen durch das stark gelichtete Haar, betastete sein Gesicht, rang die Hände und krümmte sich wie in heftigen Krämpfen. Plötzlich sprang er auf und warf den Plaid zur Seite, in den er sich gehüllt hatte; sein Gesicht erglänzte in boshafter Schadenfreude, die ein plötzlich auftauchender Gedanke in ihm hervorrief.

›Das Schicksal selbst hat mir das zugeflüstert!‹ ging's ihm durch den Kopf, und er lief rasch aus der Laube, dem Tor zu.

Das Tor war noch geschlossen; er blickte um sich und bemerkte in Sawelijs Fenster den matten Schimmer einer Lampe.

Er klopfte ans Fenster, und als Sawelij es öffnete, hieß er ihn den Schlüssel zum Pförtchen herausbringen – er habe einen Gang vor, und das Pförtchen solle offen bleiben. Vorher jedoch lief er noch einmal in sein Zimmer, um den goldenen Buketthalter zu holen, den Wera für Marfinka bestimmt hatte. Dann ging er spornstreichs zum Gärtner, nach der Orangerie. Eine ganze Weile mußte Raiskij klopfen, bis der Gärtner endlich erwachte, worauf dann beide sich ins Gewächshaus begaben.

Der Tag brach an. Raiskij ließ seinen Blick über die Stauden und Bäume des Gewächshauses gleiten, und ein boshaftes Lächeln huschte über sein Gesicht. Er wies den Gärtner an, welche Blumen er in das für Marfinka bestimmte Bukett hineinnehmen solle. Alles, was noch irgend an hübschen Blüten vorhanden war, kam hinein, und es wurde ein prächtiger Strauß.

»Ich brauche noch ein zweites Bukett!« sagte Raiskij mit unsicherer Stimme.

»Was für eins?«

»Eins aus Orangenblüten«, flüsterte er und fühlte, wie er selbst bei seinen Worten erblaßte.

»Ein Brautbukett also? Die eine Ihrer jungen Damen macht ja wohl Hochzeit?« meinte der Gärtner.

»Kann ich nicht ein Glas Wasser bekommen?« fragte Raiskij, ohne auf die Frage des Gärtners zu antworten.

Er trank gierig das Glas Wasser aus und trieb den Gärtner an, sich mit dem Bukett zu beeilen. Endlich war es fertig. Raiskij knauserte nicht beim Bezahlen, ließ sich beide Sträuße in einen Bogen Papier einwickeln und trug sie vorsichtig nach Hause.

Er mußte zunächst erkunden, ob Wera nicht inzwischen in seiner Abwesenheit heimgekehrt war. Er ließ Marina wecken, hieß sie auf sein Zimmer kommen und befahl ihr, nachzusehen, ob das gnädige Fräulein noch zu Hause oder bereits ausgegangen sei.

Marina berichtete, das Fräulein sei schon fort, worauf er ihr befahl, das für Marfinka bestimmte Bukett in Weras Zimmer auf den Tisch zu stellen und das Fenster in ihrem Zimmer zu öffnen – sie habe ihn selbst am Abend gebeten, für das Öffnen des Fensters zu sorgen. Dann schickte er sie fort, begab sich wieder auf seinen Posten in der Laube und wartete in einem seltsam beklemmenden Gefühl, in dem die langsam schwindende Leidenschaft, mit Eifersucht und auch wohl ein wenig Mitleid gemischt, zum Ausdruck kam.

Vorderhand jedoch drängte das Bewußtsein der erlittenen Kränkung und der schon allzulange ertragenen Qual alles stärkere menschliche Empfinden in ihm noch zurück. Sein Zorn brachte die Stimme des Mitgefühls in ihm zum Schweigen. Der Geist des Guten in ihm verhielt sich stumm und traurig, seine langsame, stille Arbeit war gewaltsam gehemmt, und alle bösen Geister zerrten an Raiskijs Seele.

Das Gesicht auf die Hand gestützt, saß er da, ließ den Blick umherschweifen und sah doch nichts als den Gartenweg, der nach dem alten Hause führte, fühlte nichts als das ätzende Gift ihrer Lüge, ihres Betruges.

»Ich will diesen Hund, diesen Mark, über den Haufen schießen ... oder mir selbst eine Kugel durch den Kopf jagen; eins von beiden muß geschehen ... vorher jedoch ... will ich noch das hier zur Ausführung bringen«, flüsterte er.

Er hielt den Orangenblütenstrauß mit beiden Händen fest, wie ein kostbares Heiligtum, und betrachtete es voll Entzücken, voll innerer Genugtuung; zwischendurch spähte er immer wieder durch den Blumengarten nach der dunklen Allee, ob sie nicht endlich komme.

Es war bereits taghell. Ein feiner Regen fiel, die Wege wurden schlüpfrig.

›Soll man ihnen nicht ein paar Regenschirme schicken?‹ dachte er, höhnisch lächelnd, während er mit der Hand zärtlich über das Bukett strich und daran roch.

Plötzlich erblickte er Wera in der Ferne – eine solche Verwirrung und Schwäche, ein solcher Schreck befiel ihn, daß er nicht nur nicht imstande war, sie wie ein Panther aus dem Hinterhalt anzufallen und ihr den Weg zu verlegen, sondern sich selbst an der Bank festhalten mußte, damit er nicht hinfiele. Sein Herz schlug heftig, seine Knie zitterten; er heftete seinen Blick auf Wera, die näher und näher kam – und konnte ihn nicht losreißen; er wollte sich erheben – und vermochte es gleichfalls nicht; selbst das Atmen bereitete ihm Schmerzen.

Sie kam daher, den Kopf auf die Brust gesenkt und ganz in die schwarze Mantille gehüllt. Man sah nur die weißen Hände, die die Mantille auf der Brust festhielten. Sie ging ohne Hast, ohne den Kopf zur Seite zu wenden, umschritt vorsichtig die kleinen Regenlachen, die sich gebildet hatten, betrat langsam die Treppe vor dem alten Hause und verschwand im Flur.

Es war Raiskij zumute, als hätte man ihm schwere Eisenfesseln abgenommen. Er sprang, bleich, aus dem Hinterhalt hervor und versteckte sich unter ihrem Fenster.

Sie aber betrat wie schlafwandelnd ihr Zimmer; sie bemerkte nicht, daß ihre Kleider, die sie beim Fortgehen achtlos auf den Boden geworfen hatte, bereits wieder weggeräumt waren, sah weder das Bukett auf dem Tisch noch das geöffnete Fenster.

Mechanisch warf sie die beiden Mantillen auf das Sofa, zog die schmutzigen Schuhe aus, holte mit dem Fuß ihre Atlaspantoffeln unter dem Bett hervor und zog sie an. Dann nahm sie, den Blick irgendwohin in die Ferne richtend, auf dem Sofa Platz, schloß wie in tiefer Ermattung die Augen, lehnte sich mit Rücken und Kopf gegen das Sofakissen und versank in einen schlafähnlichen Zustand. Kaum eine Minute mochte sie in dieser Haltung dagesessen haben, als ein dumpfes Geräusch sie weckte; es war, als sei etwas auf den Fußboden gefallen. Sie öffnete die Augen, richtete sich rasch in die Höhe und blickte um sich.

Auf dem Boden lag ein großer Strauß von Orangenblüten, der von draußen durchs Fenster geworfen worden war.

Sie warf einen flüchtigen Blick darauf, wurde bleich wie der Tod und ging, ohne den Strauß aufzuheben, rasch zum Fenster. Sie sah Raiskij, der sich eben entfernte, und war einen Augenblick starr vor Bestürzung. Er wandte sich um, und ihre Blicke trafen sich.

»Der großmütige Freund ... der Ritter ...«, flüsterte sie und holte mühsam Atem, als empfinde sie einen tiefen Schmerz. Jetzt erst bemerkte sie das zweite Bukett auf dem Tisch, das sie selbst für Marfinka bestellt hatte. Sie nahm es und führte es mechanisch an ihr Gesicht, doch es entglitt ihren Händen, und sie fiel bewußtlos neben dem Strauß auf den Teppich nieder.

 


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