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XIII

Raiskij saß wohl eine Stunde lang wie vernichtet oben am Rande der Schlucht im Gras, das Kinn auf die Knie gestützt und die Stirn mit den Händen bedeckend. Ein einziges Stöhnen war in seiner Brust. Er büßte seine großherzige Anwandlung mit bitterster Qual, er litt um Weras wie um seinetwillen und verfluchte sich selbst, weil er so nachgiebig gewesen war.

Diese Ungewißheit, diese zehrende Eifersucht, diese Trauer um entschwundene Hoffnungen – oh, wie nagten sie an seinem Herzen! Und auch in Zukunft würde die Leidenschaft nicht aufhören, ihn zu peinigen, würde ihm Tag und Nacht die Ruhe rauben und ihn nicht aufatmen lassen. Der Schlaf mied sein Lager, oder wenn er kam, so kam er wie eine Schildwache, die die Qualen des wachen Zustandes nur mit neuen Qualen ablöste.

Wenn er des Morgens die Augen öffnete, stand das Gespenst der Leidenschaft vor ihm, in Gestalt dieser unerbittlichen, bösen, eiskalten Wera. Sie lachte ihn aus, wenn er verlangte, daß sie ihm »den Namen, den Namen« nennen solle – das einzige, was seine Fieberglut kühlen, was sein Leiden zur rettenden Krisis und zur Genesung führen konnte.

›Doch – wo steckt sie nur? Warum kommt sie nicht?‹ fuhr es ihm plötzlich durch den Sinn, und er schaute um sich.

Er sah auf die Uhr. Sie war gegen neun fortgegangen, und nun war es bald elf! Sie hatte ihm gesagt, er solle warten, sie würde sogleich wieder zurück sein. Es dauerte etwas lange, dieses »sogleich«! ›Wo ist sie nur? Was treibt sie?‹ dachte er voll Unruhe.

Er kletterte bis zu der Bank empor, setzte sich und lauschte, ob sie nicht endlich komme. Doch kein Laut, kein Geräusch ließ sich vernehmen – bis auf das Rascheln der fallenden dürren Blätter.

»Sie sagte, ich solle hier warten – und nun hat sie mich vergessen! Und ich warte und warte hier!« sagte er, stand von der Bank auf, ging ein paar Schritte abwärts und blieb wieder lauschend stehen.

»Mein Gott – bleibt sie denn immer so spät, bis in die Nacht hinein, bei diesen Rendezvous? Wer ist sie eigentlich, was ist sie – diese meine Göttin, diese schöne, stolze Wera? Sie lacht dort vielleicht mit ihm zusammen über mich. Doch wer ist er? Ich will es wissen – wer ist er?« sprach er im Zorn halblaut vor sich hin. »Den Namen, den Namen will ich haben! Ich bin nur das Werkzeug, der ausgestellte Wächter, der gehorsame Diener ihrer Leidenschaft ... und welcher Leidenschaft?!«

Verzweiflung und Wut bemächtigten sich seiner. Fünf Monate lang hatte sie mit ihm Verstecken gespielt, hatte ihm bald gestattet, sie zu lieben, bald ihn zurückgestoßen und ihm ins Gesicht gelacht.

»Warum diese Folter? Ist das der Lohn für meine Zuneigung? Was hat sie aus mir gemacht? Sollte ich nicht, nach all diesen Streichen, die sie mir gespielt, ihr endlich dieses Geheimnis entreißen und den von ihr verschwiegenen Namen der Welt bekanntgeben?«

Er lief rasch den Abhang hinab, blieb vor den Büschen stehen und lauschte. Nichts war zu hören.

›Doch ... ist es nicht gemein, ihr Geheimnis zu stehlen? Ist es nicht feig und hinterlistig?‹ sagte er sich und zauderte unwillkürlich, ja, er ging sogar ein paar Schritte zurück.

»Stehlen! Was heißt stehlen?« flüsterte er, während er unentschlossen dastand und sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischte. »Und morgen beginnt dann wieder das Rätselraten, und die bösen Nixenaugen blicken mich wieder so spöttisch an, und hohnlachend sagt sie mir ins Gesicht: ›Ich liebe Sie!‹ Nein, ich mache der Qual ein Ende – ich will wissen, wer es ist!« entschied er und stürzte ins Dickicht.

Wie ein Dieb schlich er dahin, tastete links und rechts, verfluchte das trockene Reisig, das unter seinen Füßen knackte, fühlte nicht, wie die Zweige ihm ins Gesicht schlugen. Aufs Geratewohl kroch er vorwärts, ohne den Ort des Stelldicheins zu kennen. Und so erregt war er, daß er sich auf die Erde niedersetzen mußte, um Atem zu holen.

Gewissensbisse regten sich für einen Augenblick wieder in ihm und hielten ihn auf – doch er kroch weiter auf allen vieren, mit den Nägeln in dem trockenen Laub und der Erde scharrend.

Er kam an dem Grabhügel des Selbstmörders vorüber und wandte sich dann nach dem Pavillon, immer wieder spähend und lauschend, ob er nichts erblicke, nicht eine Stimme vernehme ...

Inzwischen ging oben in Tatjana Markownas Gemächern alles seinen regelrechten Gang. Das Abendessen war vorüber, und die Gäste saßen im Salon und gähnten schon ab und zu. Tit Nikonytsch floß über vor lauter Höflichkeit, erging sich bald Polina Karpowna und bald Wikentjews Mutter gegenüber in Komplimenten, machte seine Kratzfüße, versuchte sich in liebenswürdigen kleinen Scherzen und meinte, man müsse den Damen das Leben immer so angenehm wie möglich machen.

»Wo steckt denn eigentlich Monsieur Boris?« fragte Polina Karpowna wohl schon zum fünftenmal. Niemand hatte ihr Antwort gegeben, bis sie sich endlich mit ihrer Frage direkt an die Großtante wandte.

»Gott mag wissen, wo der sich herumtreibt!« versetzte Tatjana Markowna. »Er wird in die Stadt gegangen sein, irgendwohin zu Besuch. Und dabei hinterläßt er nie, wohin er geht, man weiß gar nicht, wohin man ihm den Wagen schicken soll. Der richtige Nomade!«

Jakow wußte mitzuteilen, daß Boris Pawlowitsch noch spät am Abend im Park »spazierengegangen sei«.

Von Wera hieß es, sie habe sagen lassen, daß sie zum Tee nicht erscheinen würde, man möchte ihr jedoch das Abendbrot verwahren, sie würde sagen lassen, wann sie es zu haben wünsche. Niemand außer Raiskij hatte sie fortgehen sehen.

»Hör mal, Jakow, sag doch Marina, sie möchte dem Fräulein den Braten warm machen, wenn sie Abendbrot verlangt. Und das Fruchteis soll sie in den Eiskeller stellen, damit es nicht zerfließt!« befahl die Großtante. »Und du, Jegorka, vergiß nicht, sobald Boris Pawlowitsch kommt, ihm zu sagen, daß das Abendbrot für ihn bereitsteht – er ist sonst imstande, hungrig zu Bett zu gehen!«

»Sehr wohl«, sagten die beiden Diener.

»Nachtwandler, richtige Nachtwandler sind das!« murmelte die Großtante ärgerlich und zugleich besorgt vor sich hin. »Sich um diese Stunde noch herumzutreiben, bei solcher Kälte.«

»Ich will einmal in den Garten gehen«, sagte Polina Karpowna, »vielleicht ist Monsieur Boris irgendwo in der Nähe. Er wird sich freuen, mich zu sehen. Ich glaube schon das letztemal bemerkt zu haben, daß er mir etwas zu sagen hat«, fügte sie geheimnisvoll hinzu. »Er weiß wahrscheinlich nicht, daß ich hier bin.«

»Natürlich wußte er's – darum ist er doch weggegangen«, flüsterte Marfinka Wikentjew ins Ohr.

»Ich habe eine Idee, Marfa Wassiljewna. Ich laufe voraus, verstecke mich im Gebüsch und mache ihr mit Boris Pawlowitschs Stimme eine Liebeserklärung!« schlug Wikentjew, gleichfalls im Flüsterton, ihr vor und wollte schon hinauseilen, um seinen Einfall zu verwirklichen.

»Nicht doch!« sagte Marfinka, ihn am Ärmel festhaltend, »Sie werden ihr einen Schreck einjagen, und wenn sie dann in Ohnmacht fällt, setzt es nur Schelte von Tantchen!«

»Ich bringe den Flüchtling zurück – gestatten Sie, ich bin gleich wieder da!« sagte Polina Karpowna abermals.

»Gehen Sie in Gottes Namen!« sagte Tatjana Markowna. »Aber geben Sie acht, daß Sie sich nicht die Augen ausstechen, es ist draußen so finster! Nehmen Sie lieber Jegorka mit, er wird Ihnen mit der Laterne leuchten.«

»Nein, ich gehe allein, es ist besser, daß wir ungestört bleiben!«

»Tun Sie es lieber nicht!« sprach Tit Nikonytsch in höflich warnendem Ton. »An diesen feuchten Abenden sollte man nach acht Uhr überhaupt nicht mehr ins Freie gehen.«

»Ich fürchte mich nicht!« sagte die Krizkaja und nahm bereits ihre Mantille um.

»Ich würde mir nicht herausnehmen, Sie zurückzuhalten, aber ein Arzt in Düsseldorf am Rhein ... ich habe seinen Namen vergessen – ich lese jetzt ein Buch, das er geschrieben hat, und kann es Ihnen leihen ..., der hat da ganz vortreffliche hygienische Vorschriften aufgestellt. Er rät ganz entschieden ...«

Er konnte seinen Satz nicht beenden, denn Polina Karpowna hatte sich bereits der Tür zugewandt. In aller Eile sagte sie ihm nur noch, er möchte auf sie warten und sie nach Hause bringen.

»Mit dem größten Vergnügen, mit dem größten Vergnügen!« antwortete er und machte hinter ihr her sein Kompliment, während sie bereits zur Tür hinaus und in den Garten lief.


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