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I

Nachdem Wera Raiskij verlassen hatte, blieb sie noch ein Weilchen stehen und lauschte, ob er ihr nicht folge, dann schlüpfte sie plötzlich seitwärts ins Gebüsch, bahnte sich mit dem Schirm einen Weg durchs Gezweig und huschte wie ein Schatten auf dem ihr bekannten schmalen Fußweg dahin.

Sie gelangte nach dem halb verfallenen Pavillon in dem Hain, der einstmals einen Teil des Parks gebildet hatte. Die Treppe war morsch, die Stufen klafften auseinander, der Boden im Innern hatte sich gesenkt, einige Bretter waren eingestürzt, andere gaben unter den Füßen nach. Nur der schiefstehende Tisch und die beiden ehedem grünen Bänke waren unter dem moosbedeckten Dach noch übriggeblieben.

In dem Pavillon saß Mark Wolochow, und vor ihm auf dem Tisch lag seine Büchse und seine Ledertasche.

Er reichte Wera die Hand und zog sie fast über die zerbrochenen Treppenstufen in den Pavillon hinein.

»Warum so spät?«

»Der Vetter hat mich aufgehalten«, sagte sie und blickte auf die Uhr. »Übrigens beträgt die Verspätung nur eine Viertelstunde. Nun, wie geht es? Ist nichts Neues vorgefallen?«

»Was soll vorgefallen sein?« fragte er. »Haben Sie etwas erwartet?«

»Hat man Sie nicht wieder auf die Hauptwache gebracht oder auf der Polizei eingesperrt? Ich erwarte es jeden Tag.«

»Nein, ich bin jetzt vorsichtiger geworden, seit Raiskij in einer Anwandlung von renommistischer Großmut die Geschichte mit den Büchern auf seine Kappe genommen hat.«

»Ich liebe das nicht an Ihnen, Mark ...«

»Was lieben Sie nicht?«

»Dieses trockene, höhnische Verhalten gegen alles, was nicht Ihre eigene Person betrifft. Der Vetter hat durchaus nicht renommiert, er hat mir nicht einmal ein Wort davon gesagt. Sie wollen den guten Dienst, den er Ihnen geleistet hat, nicht anerkennen.«

»Doch – aber ich tue es auf meine Weise.«

»Ja, wie der Wolf den guten Dienst des Kranichs anerkennt. Warum können Sie ihm nicht von Herzen, ganz schlicht und einfach, Dank sagen, wie er schlicht und einfach getan hat, was Sie verlangten? Ein richtiger Wolf sind Sie«, sagte sie, indem sie im Scherz mit dem Sonnenschirm nach ihm ausholte. »Alles verneinen, alles verlästern, alles scheel ansehen. Ist das Stolz, oder ...«

»Oder was?«

»Oder Renommage, eitle Pose – die neue Erziehungsmethode der ›kommenden Macht‹?«

»Ach, Sie Spötterin!« sagte er, sich dicht neben sie setzend. »Sie sind noch jung, haben noch nicht gelebt, noch nicht Zeit gefunden, Ihre Seele mit all den Giften der guten alten Zeit zu infizieren. Wann wird es mir endlich gelingen, Ihnen den Wert echt menschlicher Wahrheit begreiflich zu machen?«

»Und wann wird es mir gelingen, Sie von dem Unwert echt wölfischer Lüge zu überzeugen?«

»Um Worte sind Sie nicht verlegen; ein kluges Mädchen! Langeweile empfindet man in Ihrer Gesellschaft nicht. Wenn ich jetzt obendrein noch ...«

Er kratzte sich nachdenklich hinter dem Ohr.

»Ins Polizeigefängnis gesperrt würde ...« ergänzte sie den von ihm begonnenen Satz. »Ich glaube, das fehlt Ihnen noch zu Ihrem Glück!«

»Wenn Sie nicht wären, würde ich längst irgendwo hinter Schloß und Riegel sitzen. Sie hindern mich daran ...«

»Sie können nicht friedlich leben, Sie wollen immer Sturm haben! Und dabei haben Sie mir doch versprochen, ein anderes Leben zu beginnen, und was sonst noch alles. Ich war so glücklich, daß man sogar zu Hause meine Verzückung bemerkte. Und sie schlagen schon wieder die alte Tonart an!«

Er nahm ihre Hand in die seine.

»Eine reizende Hand«, sagte er, küßte sie mehrmals und versuchte dann, sie auf die Wange zu küssen, doch rückte sie von ihm ab.

»Wieder nicht! Wann wird diese Zurückhaltung ein Ende nehmen? Sie halten wohl jetzt, um Mariä Himmelfahrt, die Fasten? Oder sparen Sie Ihre Zärtlichkeiten so lange auf ...«

»Ich liebe es nicht, wenn Sie darüber scherzen!« sagte sie, ihm ihre Hand entziehend. »Sie wissen das ganz genau.«

»Der ›Ton‹ gefällt Ihnen nicht?«

»Nein, er ist mir unangenehm. Sie müssen sich ihn abgewöhnen, wie überhaupt diese Wolfsmanieren! Das wird der erste Schritt zur menschlichen Wahrheit sein.«

»Ach, seht doch das gnädige Fräulein, das kleine Pensionsmädchen! Sie buchstabieren ja noch kaum – vom Ton zu sprechen, und von Manieren! Es geht verdammt langsam mit Ihrer Entwicklung zum Weibe! Vor Ihnen liegt die Freiheit, das Leben, die Liebe, das Glück – und Sie reden vom Ton und von Manieren! Wo bleibt da der Mensch, wo das Weib in Ihnen? Von was für einer Wahrheit kann da die Rede sein?«

»Jetzt sprechen Sie ganz wie Raiskij.«

»Ja, Raiskij – was macht er denn? Hat ihn noch immer die Leidenschaft in ihren Krallen?«

»Schlimmer denn je. Ich weiß wirklich nicht, was ich mit ihm machen soll.«

»Was Sie mit ihm machen sollen? Zum Narren müssen Sie ihn haben, nasführen müssen Sie ihn.«

»Das ist so häßlich, so peinlich und beschämend«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich verstehe mich nicht darauf, es liegt mir nicht.«

»Wessen sollten Sie sich denn schämen? Meinen Sie nicht, daß auch er Sie nasführt?«

Sie schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Nein, er scheint wirklich verliebt.«

»Um so schlimmer; er wirbt um Sie wie um seine Leibeigene. Diese Verse, die Sie mir zeigten, die Bruchstücke Ihrer Unterhaltung mit ihm – alles das zeigt deutlich, daß er nur einen Zeitvertreib sucht. Man muß ihm eine Lektion erteilen.«

»Richtiger ist's jedenfalls, ihm alles zu sagen – dann reist er ab. Er sagt, diese Heimlichkeit errege ihn – sobald er alles wisse, werde er sich beruhigen und abreisen.«

»Glauben Sie ihm nicht, er lügt, er sucht Ausflüchte. Sobald Sie ihm die Wahrheit sagen, wird er Sie hassen, oder er wird Ihnen Moral predigen, wenn er es nicht gar der Großtante sagt.«

»Das verhüte Gott!« unterbrach ihn Wera erschrocken – »niemand anders darf es ihr sagen, als nur wir selbst. Ach, könnten wir es doch recht bald tun! Soll ich vielleicht für einige Zeit verreisen?«

»Wohin wollen Sie reisen? Für längere Zeit könnten Sie nicht fort, wohin sollten Sie gehen? Und wenn Sie nur für kurze Zeit verschwinden, reizt ihn das nur wieder. Sie waren doch schon fort – und was hat es geholfen? Nein, es gibt nur ein Mittel – ihm nicht die Wahrheit zu sagen, sondern ihn hinzuhalten. Lassen Sie ihn den Kopf verlieren, Verse deklamieren, den Mond anschauen ... er ist doch ein unheilbarer Romantiker. Er wird schließlich nüchtern werden und abreisen.«

Ein Seufzer entstieg ihrer Brust.

»Er ist kein Romantiker, sondern ein Poet, ein Künstler«, sagte sie. »Ich beginne an ihn zu glauben. Es steckt viel echte Empfindung, viel Wahrheit in ihm. Ich würde ihm nichts verheimlichen, wenn er selbst nicht von dieser ... Leidenschaft, wie er es nennt, beherrscht wäre. Nur um ihn ein wenig abzukühlen, spiele ich diese törichte Doppelrolle. Ist dieser Rausch erst bei ihm verflogen, dann zögere ich nicht, ihm alles zu sagen, aus eigenem Antrieb ... und wir werden Freunde sein.«

»Lassen wir ihn schon!« sagte Mark und ergriff wieder ihre Hand. »Wir sind doch nicht zusammengekommen, um uns über ihn zu unterhalten!«

Er küßte schweigend ihre Hand. Sie überließ sie ihm mit nachdenklicher Miene.

»Nun, was gibt es sonst zu erzählen?« sagte sie, ihre trüben Gedanken mit Gewalt verscheuchend.

»Was soll es geben?«

»Was haben Sie in diesen Tagen getrieben, wen haben Sie gesprochen? Haben Sie sich nicht wieder irgendwo verschnappt, von der kommenden Macht, von der künftigen Morgenröte, den jungen Hoffnungen gesprochen? Ich erwarte es jeden Tag; oft weiß ich nicht, was tun vor Angst und Unruhe.«

»Nein, nein«, sagte Mark lachend, »haben Sie keine Angst, ich lasse sie laufen, diese Idioten. Es lohnt sich nicht, sich mit ihnen abzugeben.«

»Ach, wenn's doch der Fall wäre; das wäre sehr vernünftig! Sie sind auf Ihre Art schlimmer als Raiskij, Sie verdienen eine Lektion weit eher als er. Er ist ein Künstler, er zeichnet, schreibt Geschichten. Seinetwegen kann ich ruhig sein – um Sie aber muß ich mich ewig ängstigen. Neulich war wieder bei den Losgins solch eine Geschichte – der jüngere Sohn des Hauses, Wolodja, ein vierzehnjähriger Junge, erklärte plötzlich seiner Mutter, er würde nicht mehr zur Messe gehen.«

»Nun – und was weiter?«

»Er bekam eine Tracht Prügel, und man nahm ihn ins Gebet, wie er auf solche Einfälle komme. Da sagte er, er habe das von seinem älteren Bruder. Dieser wiederum hatte in der Mägdestube einen ganzen Abend Propaganda getrieben – es sei ein Unsinn, zu fasten, es gebe keinen Gott, und die Ehe sei der größte Blödsinn.«

»Ach!« rief Mark erschrocken – »in der Mägdestube? Ist das wahr? Und ich habe ihn für einen so verständigen Menschen gehalten, habe stundenlang mit ihm geredet und ihm Bücher gegeben.«

»Mit denen ging er zum Buchhändler und sagte: ›Seht her, solche Bücher müßt ihr feilhalten!‹ Wenn er nun Ihren Namen nennt, Mark?« sagte Wera im Tone ernsten, zärtlichen Vorwurfs. »Jedesmal, wenn Sie Abschied nahmen und mich um ein neues Stelldichein baten, haben Sie mir versprochen, das zu lassen.«

»Ich habe es auch nicht mehr getan, seit ich es Ihnen versprochen habe. Ich habe jede Verbindung mit ihnen abgebrochen. Schelten Sie mich nicht, Wera!« sagte Mark düster.

Er versank in tiefes Brüten.

»Wenn Sie nicht wären«, sagte er, von neuem ihre Hand ergreifend, »würde ich morgen von hier entfliehen.«

»Wohin? Überall ist dasselbe – überall gibt es junge Bürschchen, die sich danach sehnen, daß ihnen der Schnurrbart recht bald wachsen möchte, und überall gibt es auch Mägdestuben. Erwachsene Leute hören doch auf so etwas nicht! Schämen Sie sich nicht der Rolle, die Sie spielen?« sagte sie nach einem Weilchen und kraulte ihm, während er sich über ihre Hand beugte, das Haar. »Glauben Sie wirklich daran, halten Sie sich wirklich im Ernst für einen Berufenen?«

Er warf den Kopf in den Nacken.

»Sie reden von einer Rolle – es handelt sich darum, die Geister mit einem Strahl lebendigen Wassers zu beleben!«

»Sind Sie überzeugt, daß es ›lebendiges Wasser‹ ist?«

»Hören Sie, Wera – ich bin nicht Raiskij«, fuhr er, sich von der Bank erhebend, fort. »Sie sind ein Weib, oder vielleicht noch nicht einmal ein Weib, sondern eine Knospe, die sich erst noch entwickeln, erst zum Weibe werden soll. Erst wenn Sie zum Weibe geworden, werden Sie viele Geheimnisse begreifen, die sich ein Mädchenkopf nicht einmal träumen läßt, die sich nicht mit Worten erklären lassen, sondern nur auf dem Wege der Erfahrung erfaßt werden können. Ich zeige Ihnen den Weg der Erfahrung, zeige Ihnen, wo das Leben ist, und worin es besteht – und Sie machen auf der Schwelle halt und sträuben sich, weiterzugehen! Sie haben so viel versprochen – und schreiten doch so langsam vorwärts! Und dabei wollen Sie mich noch belehren! Vor allem aber, Sie glauben nicht!«

»Seien Sie mir nicht böse«, sagte sie aufrichtig, in herzlichem Ton, »ich stimme mit Ihnen in dem überein, was mir als recht und wahr erscheint. Und wenn ich mich nicht entschieden genug zu diesem Leben, diesen Erfahrungen, von denen Sie reden, zu entschließen scheine, so geschieht es deshalb, weil ich selbst sehen und wissen will, wohin ich gehe.«

»Mit anderen Worten, Sie räsonieren, erwägen.«

»Ja – wollen Sie denn, daß ich nicht erwäge?«

»Hören Sie, Wera«, sagte er, »erstens liebe ich Sie und verlange eine volle, klare Antwort – und dann bitte ich Sie, mir Glauben zu schenken und auf mich zu hören. Ist in mir vielleicht weniger Glut, weniger Leidenschaft als in Ihrem Raiskij mit all seiner Poesie? Ich weiß nur von meiner Leidenschaft nicht so poetisch zu reden und halte das auch für überflüssig. Die echte Leidenschaft schwatzt nicht. Aber leider glauben Sie mir nicht, hören nicht auf mich und wollen mich nicht hören.«

»Überlegen Sie doch, Mark, was Sie von mir verlangen; ich soll durchaus dümmer sein, als ich es wirklich bin! Sie haben mir selbst die Freiheit gepredigt, und nun wollen Sie den Herrn spielen und stampfen mit dem Fuß auf, weil ich Ihnen nicht sklavisch gehorchen will.«

»Wenn Sie kein Vertrauen zu mir haben, wenn Sie an mir zweifeln – dann lassen wir lieber voneinander«, sagte er, »dann ist es besser, wir sehen uns nicht mehr.«

»Ja, es ist wirklich besser«, sagte auch sie in bestimmtem Ton, »ich will jedenfalls niemandem blindlings glauben! Ich will es nicht. Sie weichen jeder offenen Erklärung aus, während ich verlange, daß kein Nebel, keine Zweideutigkeit, kein Mißverständnis zwischen uns bestehe, daß wir einander kennenlernen und uns gegenseitig vertrauen. Ich kenne Sie nicht ... und kann Ihnen nicht vertrauen!«

»Ach, Wera!« sagte er unwillig, »Sie flüchten sich noch immer unter die Röcke Ihrer Großtante, wie ein Hühnchen unter die Fittiche der Henne. Sie haben ganz dieselben sittlichen Vorstellungen wie die! Sie putzen die Leidenschaft mit irgendeinem phantastischen Kostüm aus, genau wie Raiskij, statt einfach bei der Erfahrung die Wahrheit zu suchen ... und dann zu glauben, zu vertrauen ...«, sagte er und blickte dabei zur Seite. »Lassen wir alle andern Fragen aus dem Spiel – ich will sie jetzt nicht berühren. Es liegt doch alles so einfach, so klar zwischen uns. Wir lieben einander ... ja oder nein?«

»Was folgern Sie daraus, Mark?«

»Wohlan, wenn Sie mir nicht glauben wollen, dann schauen Sie einmal ringsum. Von klein auf leben Sie in Feld und Wald und sehen diese Erfahrungen nicht ... blicken Sie hierhin, dahin ...«

Er zeigte nach einer Taubenschar, die, sich auf und nieder schwingend, durch die Lüfte schwebte, und dann nach einem Schwalbenpaar, das, einander jagend, in raschem Fluge vorüberschoß. »Lernen Sie von ihnen, die räsonieren und klügeln nicht!«

»Ja«, sagte sie, »aber lernen auch Sie von ihnen. Sehen Sie, wie sie um das Nest kreisen?«

Er wandte sich ab.

»Da fliegt eine irgendwohin – jedenfalls holt sie Futter.«

»Und zum Winter fliegen sie alle auf und davon!« warf er achtlos, immer noch zur Seite blickend, hin.

»Doch zum Frühjahr kehren sie zum selben Nest zurück«, bemerkte sie.

»Ich höre auf Sie und glaube Ihnen, wenn ich sehe, daß Sie vernünftig reden«, sagte er. »Meine schroffe Art gefiel Ihnen nicht – und ich habe sie gemildert. Ich habe mich wieder in die alten Manieren hineingefunden und werde bald der reine Tit Nikonytsch sein, werde Kratzfüße machen und Komplimente schneiden und süßlich lächeln. Ich schimpfe nicht, ich zanke nicht, man hört mich kaum noch. Wie lange dauert es noch, und ich gehe alle Tage in die Frühmesse. Was wollen Sie noch mehr?«

»Alles das sind nichtssagende Dinge, nicht das ist's, was ich wollte!« sagte sie mit einem Seufzer.

»Was wollten Sie denn sonst?«

»Alles wollte ich! Oder wenn nicht alles, so doch vieles! Und bisher habe ich noch nicht einmal erreicht, daß Sie sich selbst schonen ... wenn auch nur für mich ... daß Sie aufhören, die ›Geister zu beleben‹, und sich so benehmen, wie andere Menschen.«

»Wenn ich aber aus Überzeugung handle?«

»Was wollen Sie denn erreichen? Was erhoffen Sie?«

»Die Dummen will ich belehren.«

»Was wollen Sie lehren? Sind Sie denn selbst Ihres Wissens so sicher? Wollen Sie sie zu alledem bekehren, worüber wir uns hier schon seit einem Jahre streiten? Es ist doch unmöglich, so auf Ihre Art zu leben. Das ist ja alles sehr kühn, sehr neu, sehr interessant.«

»Ach, nun sind wir wieder bei dem alten Thema! Es weht wieder so modrig dort vom Berg herunter!« fiel Mark ihr ins Wort.

»Das ist immer Ihre Antwort, Mark!« sagte sie kurz. »Alles muß umgestürzt werden, alles ist Lüge – was aber Wahrheit ist, wissen Sie selbst nicht. Darum bin ich auch so mißtrauisch.«

»Der reflektierende Verstand ist bei Ihnen stärker als Natur und Leidenschaft es sind«, sagte er. »Sie sind nichts weiter als ein junges Mädchen, das heiraten will. Das ist nicht Liebe! Das ist Langeweile! Ich will Liebe, Glück ...«, sagte er mit Nachdruck.

»Wenn ich ein Mädchen wäre, dem es nur aufs Heiraten ankommt, dann würde ich sicher eine andere Wahl treffen, Mark!« sagte sie verletzt und erhob sich von ihrem Platz.

»Verzeihung – ich bin grob gewesen«, sagte er, sich entschuldigend, und küßte ihr die Hand. »Aber Sie unterdrücken Ihr Gefühl, Sie zögern, Sie suchen und fragen, statt zu genießen.«

»Ich suche und frage, wer und was Sie sind, weil ich mit meinem Gefühl keinen Scherz treibe. Sie aber sehen alles nur als eine Zerstreuung, einen Zeitvertreib an.«

»Nein, sondern als eine Notwendigkeit, ein Bedürfnis. Mir ist wahrhaftig nicht scherzhaft zumute, ich verbringe meine Nächte ebenso schlaflos wie Raiskij. Das ist eine Folterqual! Ich hätte nie gedacht, daß die Aufregung einen solchen Grad erreichen könnte.«

Es war Zorn, ja fast Bosheit, was aus seinen Worten sprach.

»Sie sagen, daß Sie mich lieben. Sie sehen, daß auch ich Sie liebe. Ich rufe Sie zum Glück und Sie fürchten sich davor!«

»Nein – sondern ich will von einem Glück nichts wissen, das nur einen Monat, nur ein halbes Jahr währt.«

»Sie wollen ein Glück für das ganze Leben, womöglich über das Grab hinaus?« meinte er spöttisch.

»Ja, für das ganze Leben! Ich will sein Ende nicht sehen – und Sie sehen schon jetzt sein Ende und sagen es voraus! Ich glaube nicht an solch ein Glück, und ich vermag es nicht! Es ist nicht echt, nicht zuverlässig.«

»Wann habe ich etwas vorausgesagt?«

»Schon oft – vielleicht nicht ausdrücklich, nicht in bestimmten Worten, aber doch dem Sinne nach, der mir nicht entgangen ist. ›Wozu in die Ferne schauen?‹ sagten Sie. Dann sprachen Sie von einem Philistertum, das sich sein Glück nach Ellen und Pfunden zumessen lasse. Ich habe mir alle diese Sprüche wohl gemerkt! ›Im Fluge muß man vom Becher des Glückes trinken und dann, nach zwei, drei Schlucken, fliehen und ein neues Glück suchen, damit einem der Überdruß nicht ankommt.‹ – ›Laß den Apfel nicht erst vom Baume fallen, pflücke ihn rasch, und pflücke dir morgen einen anderen.‹ – ›Bleib nicht an einem Ort sitzen, wie eine Schnecke, und kleb nicht an der Scholle.‹ – ›Man bleibt beieinander, solange es eben dauert – und trennt sich dann.‹ – Das alles sind Äußerungen, die Sie getan haben, und die doch sicher Ihren Überzeugungen entsprechen.«

»Nun, und wenn sie ihnen entsprechen – was dann? – Sie sehen, daß ich nicht heuchle, daß Sie mir glauben können – warum tun Sie es also nicht?«

»Weil ich an etwas anderes, Besseres, Zuverlässigeres glaube, und weil ich Sie ...«

»Zu diesem besseren Glauben bekehren will.«

»Ja!« sagte sie, »das will ich, und das ist die eine und einzige Vorbedingung meines Glücks; ein anderes Glück kenne und wünsche ich nicht.«

»Leben Sie wohl, Wera, Sie lieben mich nicht. Sie spähen hinter mir her wie ein Spion, Sie klauben an meinen Worten herum, ziehen allerhand Schlüsse. Sooft wir zusammen sind, streiten Sie mit mir, unterwerfen mich einem peinlichen Verhör – im Punkte des Glücks aber halten wir noch immer dort, wo wir vor einem Jahre hielten. Lieben Sie doch Ihren Raiskij. Aus dem können Sie, wie aus einer Puppe, machen, was Sie wollen ... können ihn mit allen möglichen bunten Lappen aus der Schneiderstube der Großtante ausputzen, können jeden Tag einen neuen Romanhelden aus ihm formen, bis ins Unendliche. Ich habe dafür keine Zeit, ich habe ernstere Dinge vor.«

»Ach, sehen Sie – ernstere Dinge! Und die Liebe, das Glück – das ist nur Zeitvertreib?«

»Sie möchten wohl so recht nach alter Manier die Liebe zum ganzen Lebensinhalt machen, möchten sich ein Nest bauen, wie es die Schwalben da haben, möchten darin sitzen und immer nur ausfliegen, wenn Futter nötig ist? Das ist so das Leben, wie Sie es sich vorstellen!«

»Und Sie möchten für einen Augenblick in ein fremdes Nest hineinflattern und dann wieder fortfliegen und es vergessen ... aus den Augen, aus dem Sinn ...«

»Ja – sobald es mir aus dem Sinn entschwindet! Und ist dies nicht der Fall – dann kehre ich eben zurück. Oder wollen Sie, daß ich mir Zwang antue und auf jeden Fall zurückkehren soll, auch wenn ich keine Lust dazu verspüre? Ist das vielleicht Freiheit? Wie denken Sie darüber?«

»Ich verstehe das nicht ... diese Vogelsitten«, sagte sie. »Sie meinten es vorhin doch nicht im Ernst, als Sie auf die Natur, auf die Tiere hinwiesen.«

»Und Sie – sind Sie kein Tier? Sie sind wohl ein Geist, ein Engel, ein unsterbliches Wesen? Leben Sie wohl, Wera, wir haben uns ineinander getäuscht. Ich bedarf keiner Schülerin, sondern eines Kameraden.«

»Ja, Mark, eines Kameraden!« fiel sie ihm leidenschaftlich ins Wort, »eines Kameraden, der ebenso stark wäre wie Sie, der Ihnen gleichstände! Nicht Ihre Schülerin will ich sein, sondern Ihr Kamerad fürs Leben! Ist's nicht recht so?«

Er antwortete nicht auf Ihre Frage, als hätte er sie gar nicht gehört.

»Ich dachte«, fuhr er fort, »wir würden bald eins werden und uns dann trennen – das hängt eben von den Organismen, den Temperamenten, den Umständen ab. Freiheit auf beiden Seiten – und was dann weiter kommt, muß eben ertragen werden. Freude, Lust und Glück für beide Teile oder Freude und Ruhe für den einen, Qual und Kummer für den andern Teil. Das ist dann schon nicht mehr unsere Sache, darüber würde das Leben selbst entscheiden, und wir hätten uns blindlings seiner Entscheidung zu fügen und sein Gesetz zu erfüllen. Sie aber grübeln über alle möglichen Folgen, gehen der Erfahrung aus dem Wege und lassen wie eine alte Jungfer Ihr Urteil kreuz und quer laufen. Sie gehören noch ganz zum Heerbann der Großtante, sind diesen Provinzgecken, Offizieren und stumpfsinnigen Gutsbesitzern ebenbürtig. Wo Wahrheit und Licht ist – davon haben Sie keine Ahnung, Wera! Ich habe mich in Ihnen getäuscht. Schlaf, mein Kindchen! Adieu! Es ist schon am besten, wir gehen einander aus dem Wege.«

»Ja, Mark, es wird wohl das beste sein!« versetzte sie düster. »Wir können miteinander nicht glücklich werden. Sollten wir es wirklich nicht werden können?« sagte sie dann plötzlich, die Hände zusammenschlagend. »Was steht dem eigentlich entgegen? Hören Sie ...«, sagte sie, ihn bei der Hand nehmend, und hielt ihn zurück, »sprechen wir uns doch ganz offen aus ... sehen wir zu, ob wir nicht doch eines Sinnes werden können!«

Sie schwieg und verfiel in tiefes, düsteres Nachdenken.

Er antwortete ihr nicht, sondern warf die Büchse über die Schulter, verließ den Pavillon und schritt durch die Büsche davon. Sie blieb unbeweglich, wie von tiefem Schlaf befangen, zurück. Dann erwachte sie plötzlich aus ihrem Sinnen, sah traurig und erstaunt zugleich hinter ihm her und wollte es nicht glauben, daß er wirklich gehen würde.

›Es heißt: wer nicht glaubt, der liebt nicht‹, dachte sie.

›Ich glaube ihm nicht – also müßte ich ... ihn auch nicht lieben? Doch warum ist mir dann so schmerzlich, so traurig zumute, sobald er von mir geht? Ich könnte niedersinken und sterben ... hier an dieser Stelle!‹

»Mark!« rief sie leise.

Er sah sich nicht um.

»Mark!« wiederholte sie lauter.

Er ging weiter.

»Mark!« rief sie ganz laut und lauschte atemlos.

Mark ging rasch den Berg hinunter. Ihr Gesicht verzerrte sich. Fünf Minuten wohl stand sie da, dann band sie mechanisch ihr Tuch um den Kopf, nahm den Sonnenschirm und ging langsam, in tiefen Gedanken, den Berghang hinauf.

»Wahrheit und Licht«, sprach sie zu sich selbst, während sie dahinschritt, »wo seid ihr? Dort, wo er sagt, daß ihr seid, und wohin ... mein Herz mich zieht? Ist es wirklich mein Herz? Bin ich eine Räsoneurin, wie er sagt? Oder ist die Wahrheit – hier?!« sagte sie, aufs Feld hinaustretend und sich der Kapelle nähernd.

Schweigend, mit tiefem, suchendem Blick sah sie in das sinnende Antlitz des Heiligenbildes, das sie anzuschauen schien.

»Wird er das niemals begreifen, wird er nie zurückkehren ... zu dieser ewigen Wahrheit ... noch zu mir, zur Wahrheit meiner Liebe?« flüsterten ihre Lippen. »Niemals! Welch ein schreckliches Wort!«


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