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V

Raiskij nahm den Brief Weras in Empfang. Sie beklagte sich, daß sie sich dort langweile, und in der Tat schien aus einigen Sätzen ihres Briefes hervorzugehen, daß die Einsamkeit sie bedrücke.

Sie schrieb, daß sie ihn zu sehen wünsche, daß sie seiner bedürfe und in Zukunft seiner noch mehr bedürfen werde, daß sie »ohne ihn nicht leben könne«. Er wußte nicht recht, wie er diese Worte deuten sollte, und zuweilen glaubte er zwischen den Zeilen wieder das kritische, kitzelnde Nixenlachen zu vernehmen, das ihn immer in so peinliche Unruhe versetzte.

Trotz dieses Lachens jedoch stand Weras geheimnisvolle Gestalt sogleich wieder winkend und in phantastische Fernen lockend vor seiner Seele. Sie schwebte gleichsam in einem Nebelschleier vor ihm her, und er stürzte ihr nach und faßte nach ihrem Schleier, begierig, ihr Geheimnis aufzudecken und zu ergründen, was für eine rätselhafte Isis sich dahinter verberge.

Kaum aber berührte er den Schleier – entschlüpfte sie auch schon wieder und entfloh. So schwebte er, als Mensch wie als Künstler, ständig zwischen Freude und Qual und wußte selbst nicht, wo in ihm der eine begann und der andere aufhörte.

Wenn er diese seltenen, kurzen Briefe empfing, in deren freundschaftlichen Ton sich dieses spöttische Lachen über seine Leidenschaft, über sein Suchen nach dem Ideal und seine phantastische Verstiegenheit mischte, mußte er selbst herzlich mitlachen, um dann freilich fast in Tränen auszubrechen vor Schwermut und Gram darüber, daß er den Schlüssel zu seinem eigenen Wesen nicht zu finden vermochte.

›Sie begreift es nicht, die Ärmste‹, murrte er im stillen, ›was es heißt, einen Menschen seiner Phantasie wegen zu verspotten. Ist das nicht dasselbe, als wenn sie ihn um seines großen Schattens willen verspottete, der sich weithin auf die Felder legt und über die Häuser emporwächst? Und auch an die Leidenschaft glaubt sie nicht! Sie sollte nur sehen, wie diese unheimliche Riesenschlange sich, in Smaragd und Gold schimmernd, vor mir hinschlängelt, wie sie glänzt, wenn die Sonne sie wärmt und bestrahlt, und wie sie giftig züngelt und zischt und mit den scharfen Zähnen droht, sobald das Licht erlischt und sie, ihrer Farbenpracht bar, boshaft durchs Dunkel kriecht. Ich wünschte wohl, daß die sogenannten »Kenner des Menschenherzens«, die ihre Weisheit aus den französischen Theaterstücken der Residenzbühnen beziehen, einmal hierherkämen und sich ansähen, wie in Wirklichkeit diese »Schlange der Leidenschaft« aussieht! »Liebe verschwindet, wenn die Eigenliebe verletzt wird«, »Liebe heißt Egoismus zu zweien«, »Liebe vergeht, wenn sie nicht erwidert wird« – so lauten ihre billigen Sentenzen. Überzeugt euch einmal, wie sie in Wirklichkeit beschaffen ist, macht einen Versuch mit ihr! Ich werde gepufft und verlacht – und doch liebe ich, ach, und wie liebe ich! Nicht wie vierzigtausend Brüder – viel zu niedrig hat Shakespeare die Zahl gegriffen –, sondern wie alle Menschen zusammen! Alle Arten der Liebe sind in meiner Liebe enthalten. Ich liebe, wie Leontij seine Frau liebt, mit dieser schlichten, naiven Schäferliebe, liebe mit der finsteren Leidenschaftlichkeit dieses ernsten Sawelij, liebe wie Wikentjew mit seiner heitren, frischen Lebensfreudigkeit, liebe, wie vermutlich Tuschin liebt, voll Bewunderung und Verehrung, liebe, wie die Großtante ihre Wera liebt, wie noch nie, solange die Welt besteht, ein Mensch geliebt hat, liebe wie der Ozean, der das Festland umspült, mit jener gewaltigen Liebe, die der Schöpfer geschaffen.‹

›Und wenn ich schließlich alles in ein Wort fassen sollte‹, sagte er sich, plötzlich für einen Augenblick ernüchtert, ›dann müßte es lauten: Ich liebe, wie ein Künstler liebt, das heißt mit aller Macht einer zügellosen – oder dem Zügel entschlüpften – Phantasie!‹

Er gab sich wieder seiner Schriftstellerei hin, diesem Prozeß unbewußten Schaffens, in dem vor seinen Augen in bunter Reihe die eigenen Gedanken, Empfindungen und die Bilder seiner Vorstellung ihren Niederschlag fanden. Diese Blätter, die er da beschrieb, hinderten ihn freilich an seinem aufrichtigen Bemühen, Wera zu vergessen, und gaben seiner Leidenschaft – das heißt seiner Phantasie – immer neue Nahrung.

›Und dabei wird sie das, was ich hier niederschreibe, gar nicht zu würdigen wissen‹, dachte er betrübt, ›und wird diese Phantasieprodukte, zu denen sie mich begeistert hat, und die ihr geweiht sind, für verliebtes Gefasel erklären! Sollte sie mich wirklich nicht verstehen, mit ihrem Frauenhirn? Dabei hat sie doch so kluge kleine Ohren.

Ist sie denn überhaupt klug? Wir bezeichnen oft, namentlich bei den Frauen, als Klugheit schlechthin, was im Grunde genommen nur eine ganz niedrige Abart der Klugheit, nämlich Schlauheit ist, die freilich in sehr scharf ausgebildeter Form vorhanden sein kann. Die Frauen bilden sich ja etwas darauf ein, daß sie diese »feine geistige Waffe«, diesen Verstand der Katze, des Fuchses und gewisser Insekten, besitzen. Es ist dies ein gewisser passiver Verstand; es ist die Fähigkeit, sich zu verstecken, der Gefahr zu entschlüpfen, sich vor Gewalt und Unterdrückung zu schützen.

Diese pfiffige Art von Klugheit hat unter anderem, unter der Einwirkung einer jahrhundertelangen Unterdrückung, das in aller Welt verstreute und geschwächte Volk der Juden in sich ausgebildet, das gleichsam heimlich durch die Masse der Menschheit hinschlich und mittels dieser Schlauheit sein Leben, sein Hab und Gut und sein Existenzrecht verteidigte.

Diese pfiffige kleine Klugheit vermag wohl im alltäglichen Leben ihre guten Dienste zu leisten, wenn es sich darum handelt, kleine Geschäfte abzuschließen, kleine Sünden zu verbergen und so weiter. Sind jedoch den Frauen erst einmal ihre Rechte wiedergegeben, dann wird diese Schlauheit, die in kleinen Fragen nützlich sein mag, in großen, wichtigen Dingen jedoch fast immer schädlich wirkt, der elementaren menschlichen Kraft, dem wirklichen Verstande, ihren Platz einräumen müssen.‹

Sobald er sich einmal von seinem Tagebuch losriß und einen oder zwei Tage sich ernüchterte, stand Wera wieder vorwurfsfrei vor seiner Seele. Sie zu verdächtigen und zu kränken, lag im Grunde genommen seinem Wesen – wie auch der gutherzigen, ehrlichen Natur Othellos – fern. Wenn er trotzdem sich zu Verdächtigungen und Ungerechtigkeiten hinreißen ließ, so waren dies nur spontane Produkte der Leidenschaft und Ungewißheit, die ihn alles in falschen, düsteren Farben sehen ließ.

In einem ihrer Briefe fand sich, nach den üblichen freundschaftlichen, mit liebenswürdigem Spott durchsetzten Ausführungen, unter den Worten »Ihre Wera« noch ein längeres Postskriptum, in dem es hieß:

 

»Lieber Freund und Bruder, Sie haben mich lieben und leiden gelehrt. Sie haben mir etwas von der Kraft Ihrer Seele mitgeteilt, ja, wie es scheint, Ihre eigne milde und liebende Seele in mich übertragen. Und eben diese Mildherzigkeit, die ich nun auch in mir fühle, ermutigt mich, Sie zu bitten, an einem guten Werk teilzunehmen. Es befindet sich hier ein aus der Heimat vertriebener, unglücklicher Verbannter. Auf ihm ruht der Verdacht der Regierung. Er weiß nicht, wohin er sein Haupt legen soll, alle haben sich von ihm zurückgezogen, die einen aus Gleichgültigkeit, die andern aus Furcht. Sie aber lieben Ihren Nächsten und kennen sicherlich weder Gleichgültigkeit noch Furcht, wenn es sich um ein gutes, reines, heiliges Werk handelt. Er besitzt keinen Groschen Geld, hat nichts anzuziehen, und draußen wird es Herbst. Ich füge nichts weiter hinzu. Jedes Wort ist hier Wahrheit – Ihre Wera wird Sie nicht belügen. Wenn Ihr Herz, woran ich nicht zweifle, Ihnen sagen wird, was hier zu tun ist, dann richten Sie etwaige Sendungen an die Küstersfrau Sekleteja Burdalachowa, es wird bestimmt ankommen, ich werde mich selbst darum kümmern. Richten Sie es jedoch so ein, daß weder Tantchen noch sonst jemand im Hause etwas merkt.

Sie werden, was ganz natürlich ist, wissen wollen, wie groß die Summe sein soll, die der Betreffende braucht. Dreihundert Rubel, oder vielleicht auch zweihundertundzwanzig, würden genügen, um ihn ein ganzes Jahr über Wasser zu halten. Und wenn Sie ihm dazu noch einen Paletot und eine gestrickte Wollweste schicken, dann würden Sie den armen Menschen auch vor der Kälte bewahren. Sie sehen, wie sehr ich auf Ihre Mildherzigkeit im allgemeinen und Ihre Liebe zu mir im besonderen baue. Ich lege sogar die Maße bei, die der Dorfschneider hier von ihm genommen hat!

Um eine warme Bettdecke zu bitten, wage ich schon gar nicht – das hieße Ihre Güte und Ihre Schwäche für mich mißbrauchen. Davon ein andermal. Im Winter wird der arme Verbannte wahrscheinlich aus dieser Gegend hier wegkommen, er wird Sie dann segnen, und von diesem Segen wird vielleicht auch auf mich ein wenig abfallen. Ich würde Sie nicht belästigen, aber Sie wissen, daß Tantchen all mein Geld in Verwahrung hat, und ihr kann ich nichts von dieser Sache sagen.«

»Was ist das? Was ist das?« schrie Raiskij beinahe laut, als er dieses Postskriptum zu Ende gelesen hatte, und während er mit rollenden Augen umherschaute, suchte er in Gedanken nach dem Schlüssel zu diesem neuen Rätsel.

»Wie seltsam, wie seltsam! Ist das wirklich Wera? Oder wer sonst steckt dahinter?« sprach er laut vor sich hin und warf sich plötzlich in einem Anfall hysterischen Lachens auf das Sofa. Es war in Tatjana Markownas Kabinett, und Wikentjew und Marfinka waren gleichfalls da. Sein Lachen steckte die beiden an, und sie akkompagnierten ihm freundschaftlich, indem sie herzlich mitlachten. Doch hörten sie plötzlich, durch die seltsame Art seines Lachens beunruhigt, selbst auf zu lachen. Ganz besonders hatte er Tatjana Markowna erschreckt – sie lief eiligst nach der Hausapotheke, entnahm ihr irgendwelche Tropfen und goß einen Teelöffel voll. Er konnte sich kaum wieder fassen.

»Hier, nimm die Tropfen, Borjuschka!«

»Ach nein, Tantchen – ich brauche keine Tropfen, sondern Geld ... dreihundert Rubel.«

Und er platzte wieder mit einem lauten Lachen heraus. Die Großtante weigerte sich natürlich, ihm etwas zu geben.

»Wozu denn, für wen? Etwa wieder für Markuschka? Laß dir erst die achtzig Rubel zurückgeben!«

Zu einer andern Zeit hätte er sich mit einem harmlosen Witz über die Sparsamkeit und den Geiz der Großtante begnügt, diesmal jedoch brannte das Feuer seiner Ungeduld, die durch das wachsende Interesse an der offenbar dahintersteckenden Komödie noch erhöht wurde, gar zu heftig.

Er geriet geradezu in Streit mit ihr und erreichte es erst nach einem verzweifelten, über eine Stunde währenden Kampf, daß sie mit zweihundertundzwanzig Rubeln herausrückte. Um eher zu Ende zu kommen, hatte er nicht auf den dreihundert bestanden.

Er versiegelte das Geld und schickte es am nächsten Tage ab. Dann suchte er einen Schneider auf und gab ihm den Winterpaletot und die Weste in Bestellung. Auch eine Bettdecke kaufte er – und alles zusammen sandte er am fünften Tage nach Ankunft des Briefes unter der angegebenen Adresse ab.

»Nicht mit der Feder nur, sondern mit Tränen und tiefgerührtem Herzen danke ich Ihnen, lieber, lieber Vetter«, lautete die Antwort von jenseits des Stroms. »Nicht ich kann Sie dafür belohnen; der Himmel wird es statt meiner tun! Mein Dank besteht in einem warmen Händedruck und einem tiefen, tiefen Blick voll Erkenntlichkeit. Wie beglückt war der arme Verbannte durch Ihre Geschenke! Er lacht vor lauter Freude und trägt die neuen Sachen schon. Von dem Geld hat er seiner Wirtin gleich das rückständige Kostgeld für drei Monate erlegt und noch einen Monat im voraus bezahlt. Für drei Rubel hat er sich Zigarren gekauft, die er leidenschaftlich gern raucht und schon sehr lange entbehren mußte ...«

›Ich will ihm morgen ein Kistchen von meinen eigenen schicken‹, dachte Raiskij und sandte in der Tat ein Kistchen ab. ›Reich scheint er nicht zu sein‹, sagte er sich, ›er würde sonst nicht darum bitten.‹

Plötzlich bekam er den Einfall, den pfiffigen Jegorka auf Kundschaft auszusenden, um zu erfahren, wer eigentlich die Briefe bei dem Fischer abhole, und wer diese Sekleteja Burdalachowa sei. Er hatte bereits geklingelt, als jedoch Jegorka erschien, fand er keine Worte, sah, über seine Absicht errötend, Jegorka verlegen an und bedeutete ihm durch einen Wink, er solle wieder hinausgehen.

»Ich kann nicht, ich kann nicht!« flüsterte er mit einem unbestimmten Gefühl des Abscheus. »Ich werde sie selbst fragen – ich bin neugierig, was sie mir antwortet. Und wenn sie lügt – dann adieu, Wera, und mit ihr aller Glaube an die Frauen!«

Er beobachtete die Entwicklung seiner eigenen Leidenschaft, wie ein Arzt den Gang der Krankheit beobachtet, ja, er photographierte sie geradezu in all ihren einzelnen Stadien. Zuweilen sagte ihm wohl sein gesunder Menschenverstand, daß diese Leidenschaft eine Lüge, eine Luftspiegelung sei, die er verscheuchen und zerstreuen müsse. »Aber wie soll das geschehen? Was soll ich tun, um von ihr loszukommen?« fragte er und richtete den Blick abwechselnd zum bewölkten Himmel und zur Erde. »Was erfordert die sittliche Pflicht? Gib mir Antwort, schlummernde Vernunft, erleuchte mir den Weg, laß mich hinüberspringen über das sengende Feuer!«

»Laß alles im Stich und entflieh!« antwortete ruhig die Vernunft.

›Jaja – ich will alles liegenlassen und will fliehen, ich warte nicht erst, bis sie zurückkommt!‹ sagte er sich, und bemerkte jetzt erst ein kleines Blatt Papier, das dem Brief beilag, und auf dem Wera schrieb:

»Schreiben Sie nicht mehr, ich werde am Donnerstag selbst wieder zu Hause sein, der Forstmeister bringt mich heim.«

Er war aufs höchste erfreut.

›Ah, das soll der Prüfstein werden!‹ sagte er sich. »Das Schicksal selbst, von dem Tantchen immer spricht, hat sich eingemischt und verlangt, daß ich mich aufraffe, daß ich ein Opfer bringe. Und ich will es bringen. In drei Tagen soll ich sie hier wiedersehen – oh, welch lockende Aussicht! Wie hell wird die Sonne wieder über Malinowka aufgehen! Doch nein, ich will dem entfliehen! Niemand weiß es, was mich das kosten wird. Und ob mir, zum Lohn dafür, wohl der verlorene Friede wieder zuteil wird? Nur rasch, rasch fort!« sagte er entschlossen und befahl Jegor, den Reisekoffer zu holen.

Er hätte nun sogleich aufbrechen und Wera vergessen sollen. Und zum Teil brachte er dieses Programm auch zur Ausführung. Er begab sich nach der Stadt, um dies und das für die Reise einzukaufen. Auf der Straße begegnete er dem Gouverneur. Dieser machte ihm Vorwürfe darüber, daß er sich bei ihm so lange nicht habe sehen lassen. Raiskij entschuldigte sich mit Krankheit und sagte, er wolle in den nächsten Tagen abreisen.

»Wohin?« fragte jener.

»Das ist mir gleich«, antwortete Raiskij düster. »Hier bin ich müde geworden, ich möchte mich zerstreuen. Ich fahre jetzt zunächst nach Petersburg, dann vielleicht auf mein Gut im Gouvernement R. und von dort möglicherweise ins Ausland.«

»Ich wundere mich nicht, daß die Langeweile Sie hier plagt«, versetzte der Gouverneur. »Es ist nichts, so immer auf einem Fleck zu sitzen und sich von aller Gesellschaft fernzuhalten. Sie brauchen Zerstreuung – wollen wir nicht zusammen eine kleine Tour machen? Ich trete übermorgen eine Inspektionsreise durch das Gouvernement an.«

›Übermorgen ist Mittwoch‹, ging es Raiskij durch den Kopf, ›und sie will am Donnerstag zurückkommen. Jaja – das Schicksal zieht mich bei den Haaren von hier fort. Oder soll ich nicht doch gleich weiterfahren, um alles ganz von mir abzuschütteln, um vollends den Sieg über mich zu erringen?‹

»Sehen Sie sich einmal unsere Gegend an«, fuhr der Gouverneur fort. »Es gibt hier Örtlichkeiten von großem Reiz. Sie sind ein Poet, Sie werden frische Eindrücke empfangen. Auch eine Wolgafahrt von hundertfünfzig Werst steht uns bevor. Nehmen Sie Ihr Skizzenbuch mit, Sie werden da hübsche Motive finden.«

›Soll ich den Vorschlag nicht doch annehmen?‹ sagte sich Raiskij, und neben der Absicht, seine Leidenschaft völlig niederzukämpfen, keimte schon wieder der hoffnungsvolle Gedanke auf, daß er doch nicht ganz von den Stätten Abschied nehme, an denen sie verweilte – seine unvergleichliche Schöne, die ihm solche Qualen bereitete.

»Einverstanden – ich begleite Sie«, entschied er endgültig.

Der Gouverneur schüttelte ihm freundschaftlich die Hand und nahm ihn dann nach seiner Wohnung mit. Er zeigte ihm die bequeme, behagliche Reiseequipage und sagte ihm, daß auch ein Küchenwagen mitgehen würde. Auch Spielkarten wollte er mitnehmen.

»Wir wollen uns gelegentlich im Pikett messen«, fügte er hinzu. »Ich verspreche mir viel von der Fahrt – für mich wird's jedenfalls angenehmer sein, als wenn ich nur in Gesellschaft des Sekretärs reise, der ohnedies viel zu tun hat.«

Schon die bloße Aussicht, einmal in andere Umgebung zu kommen, brachte Raiskij eine Erleichterung. Es trat doch einmal etwas anderes, das nichts mit Wera zu tun hatte, gleich einer Wolke zwischen ihn und sie. Das hätte schon längst eintreten sollen – dann hätte dieser törichte Zustand bereits ein Ende genommen.

›Nun sind sie auf einmal fast ganz verschwunden, diese kleinen Teufel, die mich quälten!‹ sagte er sich, als er nach Hause zurückkehrte.

Er befahl Jegorka, Kleider und Wäsche für ihn bereit zu halten; er wollte mit dem Gouverneur zusammen verreisen.

Sein Vorsatz, der Leidenschaft, die ihn peinigte, endlich Herr zu werden, war durchaus ernst und aufrichtig, und er dachte schon daran, überhaupt nicht zurückzukehren, sondern nach Beendigung der Fahrt mit dem Gouverneur seine Sachen nachkommen zu lassen und abzureisen, ohne daß er Wera nochmals gesehen.

Diesen Entschluß hätte er nun auch zur Ausführung bringen sollen – eine Trennung von Malinowka, sei es für immer, oder sei es auch nur für längere Zeit, jedenfalls aber eine völlige Trennung, hätte alles das, was jetzt in seiner Seele lebte, unter dem Einfluß der Entfernung verblassen lassen. Es hätte gar keiner Riesenabstände bedurft, wie Raiskij sie sich vorstellte: zwei-, dreihundert Werst etwa, und ein Zeitraum – nicht von Jahren, sondern von fünf, sechs Wochen hätte genügt, um dieses ganzes Geknister und Geprassel in Vergessenheit zu bringen.

Raiskij wußte das nach seinen früheren Erfahrungen, die allerdings nicht so heftig auf ihn eingewirkt hatten. Aber die letzte Hoffnung erscheint ja stets in anderem Licht als die früheren, die frische Wunde brennt heftiger in der noch lodernden Flamme der Leidenschaft, und die Zeit vermag nur sehr langsam zu heilen.

Raiskij wußte auch dies, und er gab sich durchaus keiner Selbsttäuschung hin. Er wollte nur den unerträglichen Schmerz irgendwie beschwichtigen, wollte nicht plötzlich von dannen gehen und unüberbrückbare Weiten zwischen sie und sich selber legen, nicht mit einemmal, ganz plötzlich, diesen Nerv durchschneiden, der ihn einerseits mit der anmutigen, reizvollen, von Grazie erfüllten Gestalt Weras, andererseits mit dem in ihr verkörperten und gleichsam lebendig gewordenen Ideal seiner Künstlerseele verknüpfte.

Er wollte und konnte es nicht, und wenn ihr Tun und Treiben ihm noch so geheimnisvoll vorkam, wenn sein Verdacht, sie sei in Leidenschaft zu irgend jemandem erglüht, ja, sie habe sich vielleicht gar mit irgendeinem ... Tuschin, in dem er in erster Linie ihren Helden vermutete, vergangen, noch so schwer auf ihr ruhte.

›Oder vielleicht ist es auch ein anderer ... oder mehrere andere‹, dachte er voll Argwohn.

Er übertrug seine künstlerischen Forderungen ins Leben, verquickte sie mit den allgemein menschlichen und befolgte, indem er sie auf sich selbst anwandte, unwillkürlich und unbewußt die weise Lehre der Alten: »Erkenne dich selbst.« Mit Entsetzen beobachtete und belauschte er die wilden Ausbrüche seiner blinden animalischen Natur, er schrieb ihr selbst das Todesurteil, entwarf neue Gesetze für sein inneres Leben, zerstörte den alten Menschen in sich und schuf einen neuen. Und indem er so voll Schrecken in den unbarmherzigen Spiegel hineinschaute, den er sich selbst vorhielt, und darin all das Dunkle und Böse in sich erkannte, empfand er andererseits ein maßloses Glück bei der Entdeckung, daß diese innere Arbeit am eigenen Ich, die er als Mensch wie als Künstler von Wera verlangte, bei ihm selbst nicht erst jetzt, im Verlauf seiner Bekanntschaft mit ihr, begonnen hatte, sondern schon weit, weit früher.

Mit klopfendem Herzen, voll innerer Rührung horchte er auf die unterirdische stille Arbeit, deren leises Geräusch sich durch den Trubel und Lärm der Leidenschaft vernehmen ließ, und die da drinnen, auf dem tiefsten Grunde seines menschlichen Wesens, irgendein geheimnisvoller Geist verrichtete. Wohl hielt dieser Rastlose zuweilen mitten im Lodern und Prasseln eines unreinen Feuers mit der Arbeit inne, doch kam er nie ganz zum Schweigen, sondern erwachte immer wieder und rief ihn, anfangs leise, dann aber immer lauter und lauter, zur unermüdlichen, schweren Arbeit an sich selbst auf, an seiner eigenen Statue, an dem Ideal des Menschen.

Ein freudiges Zittern befiel Raiskij, wenn er sich vorstellte, daß keine kleinmütige Furcht und keine Lockungen des Lebens ihn zu dieser Arbeit antrieben, sondern einzig der uneigennützige Drang, die Schönheit in sich selbst zu suchen und zu verwirklichen. Jener Geist war es, der ihn als Menschen wie als Künstler in eine geheimnisvolle, leuchtende Ferne, zum Ideal rein menschlicher Schönheit hinlockte.

Mit einem heimlichen, atemraubenden, fast beängstigenden Glücksgefühl sah er, daß die Arbeit des reinen Genius durch die Feuersbrunst der Leidenschaft nicht zerstört, sondern nur aufgehalten wird und, sobald das Feuer erloschen ist, ihren Fortgang nimmt – langsam und mühsam zwar, aber doch stetig. Er sah, daß in der Seele des Menschen, unabhängig vom künstlerischen Schaffenstriebe, noch ein anderer, moralischer Trieb existiert, eine geistige Begierde, die neben der leiblichen, und eine sittliche Kraft, die neben der Kraft der Muskeln besteht.

Er ließ in Gedanken sein ganzes Leben an sich vorüberziehen und erinnerte sich, welche unmenschlichen Qualen es ihm bereitet hatte, wenn er zu Fall kam, wie er dann aber sich langsam wieder erhob, wie jener reine Geist ihn leise mahnte, ihn zu dem unvollendeten Werk zurückrief, ihn aufrichtete, ermutigte und tröstete, ihm den Glauben an die Schönheit des Wahren und Guten und die Kraft zum Weiter- und Höherschreiten wiedergab.

Mit andächtigem Erschauern fühlte er, wie seine Kräfte ins Gleichgewicht kamen, wie seine besten Gedanken und Willensregungen sich einordneten in jenes Werk des inneren Aufbaus, wie ihm leichter und freier zumute ward, wenn er das Geräusch jener geheimnisvollen Arbeit hörte oder gar selbst eine Anstrengung machen konnte, um Stein, Feuer und Wasser hinzureichen.

Während so in seinem Innern die schöpferische Arbeit des Neuaufbaus sich vollzog, schwand die leidenschaftliche, böse Wera ganz aus seiner Vorstellung, und wenn die dennoch vor ihm auftauchte, zögerte er nicht, sie gleichfalls zur Teilnahme an der Arbeit dieses geheimnisvollen Geistes aufzurufen, sie auf das heilige Feuer in ihrem Innern hinzuweisen, es in ihr anzufachen und sie zu beschwören, daß sie es hüten und nähren und in sich bewahren möge.

Dann schien es ihm, als liebe er Wera mit einer Liebe, die kein anderer für sie empfand, und er forderte kühn von ihr für sich dieselbe Liebe – eine Liebe, wie sie sie für ihr Idol, ihren Auserwählten bei aller noch so leidenschaftlichen Hingebung nicht empfinden konnte, wenn dieses Idol nicht dieselbe Kraft, dasselbe Feuer und mithin auch dieselbe Liebe empfand, die in seiner Brust wohnte und ihn mit allen Fibern zu ihr hinzog.

Jene andere, brennende, zerstörende Leidenschaft aber bemühte er sich aufrichtig und ehrlich zu bekämpfen – er fühlte, daß Wera sie nicht erwiderte, und daß sie daher nicht zu jenem Ausgang führen könne, der bei gegenseitiger Liebe zwischen ehrlichen Menschen natürlich ist. Unerreichbar schien ihm jener Glückszustand, bei dem die Leidenschaft, von tierischer Raserei befreit, sich in echt menschliche Liebe verwandelt.

Er stachelte nun nicht mehr die Leidenschaft in sich auf, wie er es früher getan, sondern verwünschte seinen inneren Zustand, seinen qualvollen Kampf mit sich selbst und schrieb Wera, daß er sich entschlossen habe, ihr aus dem Weg zu gehen. Kaum aber begann er sich von ihr zu entfernen, als er sogleich fühlte, wie sie sich als geheimnisvoll verschleiertes, nixenhaftes Wesen an seine Fersen hing, wie sie ihn foppte und neckte, ihn aus dem Schlaf aufstörte, ihn nicht ruhig essen ließ, ihm das Buch, das er las, aus der Hand nahm.

Nach drei Tagen erhielt er eine kurze Zuschrift, in der sie fragte, wo er weile, warum er nicht nach Hause komme, weshalb er nicht schreibe – als ob die Gründe, die ihn zur Abreise bestimmt hatten, sie gar nichts angingen, oder als ob sie seine Briefe nicht bekommen hätte.

Sie rief ihn nach Hause, teilte ihm mit, daß sie zurück sei, daß sie sich ohne ihn langweile. Malinowka erscheine ihr leer und öde, alle ließen den Kopf hängen, Marfinka wolle sogleich nach ihrem Geburtstag, den sie nächste Woche feiere, die Mutter ihres Bräutigams auf der anderen Wolgaseite besuchen, und die Großtante werde ganz allein bleiben und vor Gram vergehen, wenn er, der Großtante und auch ihr selbst zuliebe, dieses Opfer nicht bringe.

›Ja, ich kenne dieses Opfer‹, dachte er nicht ohne Grimm im Herzen. ›Wenn ich nicht da bin, und wenn Marfinka weg ist, wird man deine kecken Seitensprünge leichter bemerken! Du wirst dich der Großtante mehr widmen müssen, wirst nicht auf deinem Zimmer, sondern am Tisch mit den andern zusammen essen müssen – da kannst du mich wohl brauchen, das begreif ich! Doch dazu gebe ich mich nicht her, diesen Triumph sollst du nicht haben. Genug jetzt – ich will frei werden von dieser törichten Leidenschaft, dieser Sieg soll dir nicht zuteil werden!‹

Er schrieb ihr eine Antwort, in der er wiederholt seine Absicht aussprach, abzureisen, ohne sie nochmals gesehen zu haben. Er finde – so schrieb er –, daß dies die einzige Möglichkeit sei, ihr Verlangen, sie in Ruhe zu lassen, zu erfüllen und gleichzeitig seine eigne Qual zu enden. Er zerriß in einem Anfall von Enttäuschung über seine Phantasieprodukte sein Tagebuch und warf die Fetzen zum Fenster hinaus, den Winden zum Spiel. Es war in einer Bezirksstadt, wo dies geschah, in dem Quartier, das er mit dem Gouverneur zusammen bezogen hatte. Als die Fetzen des Tagebuches gleich weißem Schnee aus dem Fenster seines Zimmers in den Hof flatterten, liefen von allen Seiten die Hühner zusammen, in der Meinung, es sei dort irgendein süßes Hühnermanna vom Himmel gefallen. Auch sie erfuhren eine Enttäuschung, warfen einen fragenden Blick nach dem Fenster und gingen langsam auseinander.

Am nächsten Tag, in der Abendstunde, erhielt Raiskij von Wera einen kurzen Brief, in dem sie ihn beruhigte, seine Absicht, ohne ein nochmaliges Wiedersehen mit ihr abzureisen, billigte und ihre volle Bereitschaft erklärte, ihm bei der Bekämpfung seiner Leidenschaft – das Wort war im Brief unterstrichen – behilflich zu sein. Aus diesem Grunde gehe sie sogleich nach Absendung dieses Briefes noch an demselben Tag – das heißt am Freitag – wieder ans andere Wolgaufer zu Besuch. Ihm jedoch rate sie, doch noch einmal wiederzukehren und von Tatjana Markowna wie von den übrigen Hausgenossen Abschied zu nehmen, da seine plötzliche Abreise sonst in der Stadt unliebsames Aufsehen erregen und die Großtante kränken würde.

Raiskij wurde durch diesen Brief fast wieder in freudige Stimmung versetzt. Es wurde ihm leicht ums Herz, und am nächsten Tag – das heißt am Freitag – nach dem Mittagessen sprang er leicht und munter aus dem Wagen des Gouverneurs, der gerade ein in der Nähe von Malinowka gelegenes großes Dorf passierte, verabschiedete sich dankend von Seiner Exzellenz und begab sich, den leichten kleinen Reisekoffer in der Hand, nach Hause.


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