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II

Vier Tage lang irrte sie im Hain umher oder wartete dort unten im Dickicht, in dem Pavillon, ob er nicht kommen würde. Doch es war vergeblich – Mark erschien nicht.

»Es ist das beste, wir gehen einander aus dem Wege« – das waren seine letzten Worte gewesen. »Sollte es wirklich nicht möglich sein, daß wir einander verstehen lernen? Sehen wir zu, ob wir nicht doch eines Sinnes werden können!« hatte sie ihm geantwortet – und er hatte sich nicht einmal umgewandt auf diese Worte der Hoffnung, diesen Ruf des Herzens.

Vor Raiskij versteckte sie sich nun gar nicht mehr. Er beobachtete sie noch immer, doch war alles vergebens, er fand keinen neuen Anhaltspunkt und wurde immer schwermütiger. Sie bekam keine geheimnisvollen Briefe und schrieb auch keine solchen, war im übrigen freundlich gegen ihn, doch zumeist schweigsam, ja fast niedergeschlagen.

Öfter als bisher traf er sie jetzt betend in der Kapelle. Sie verheimlichte es nicht, wenn sie dahin ging, und einmal nahm sie sogar sein Anerbieten an, sie nach der Dorfkirche auf dem Berge zu begleiten. Dahin ging sie jetzt oft allein, ob Gottesdienst war oder nicht, und lag dort lange regungslos, ganz in sich gekehrt, betend auf den Knien.

Er stand schweigend hinter ihr, wagte sich nicht zu rühren, um sie nicht aus ihrer Versunkenheit zu wecken, und beobachtete sie still aus einer Ecke hinter der Säule. Dann reichte er ihr schweigend den Sonnenschirm oder die Mantille.

Ohne ihn anzusehen, nahm sie seinen Arm und ging stumm, sich zuweilen ermüdet an seine Schulter lehnend, neben ihm her nach Hause. Dort drückte sie ihm die Hand und begab sich in ihr Zimmer. Er aber ging weiter, von Zweifeln gequält und für sie wie für sich selbst zu gleicher Zeit leidend. Sie ahnte seine geheimen Qualen nicht, sie hatte keine Vorstellung davon, welche leidenschaftliche Liebe er für sie – als Mann für die Frau und als Künstler für sein Ideal – empfand.

Sie wußte auch nicht, daß neben dieser Leidenschaft, die er, gleichsam mit ihrer Erlaubnis, für sie hegte, auf dem Grunde seiner Seele immer noch eine leise Hoffnung schlummerte, er würde bei ihr doch noch Gegenliebe oder wenigstens, als Entgelt für seine Leidenschaft, ein Gefühl zarter Frauenfreundschaft finden. Wenn sie ihm gestattet hatte, seiner Leidenschaft für sie nachzuhängen, so war es einerseits deshalb geschehen, weil sie durch eine solche kühle Duldung seine Leidenschaft abzuschwächen hoffte, andererseits, weil sie, und zwar auf Marks Anraten, seine Aufmerksamkeit von der Schlucht ablenken, ihm in aller Freundschaft eine kleine Lektion erteilen und sich nebenbei über ihn ein wenig lustig machen wollte.

Und obschon er sah, daß sie ihre eigenen quälenden Sorgen hatte, obschon ihm diese geheimnisvollen Spaziergänge unten in der Schlucht zu denken geben mußten, hielt er doch immer noch an seiner stillen Hoffnung fest. Die Möglichkeit, daß die Hoffnung auf ihre Gegenliebe ihm ganz und gar entrissen werden könnte, erfüllte ihn mit geheimem Grauen. Sein ganzes Glück lag darin, an dieser Hoffnung festhalten zu können, und er hegte und nährte sie in sich auf jede mögliche Weise. Die rätselhaften Spaziergänge aber suchte er sich auf seine Weise, zu seinen Gunsten, zu deuten.

›Diese Schüsse‹, dachte er, ›bedeuten vielleicht etwas ganz anderes; hier scheint nicht Liebe, sondern irgendein anderes Geheimnis im Spiel zu sein. Vielleicht hat Wera die schwere Bürde irgendeines verhängnisvollen Fehltrittes zu tragen; irgend jemand hat sich ihre Jugend und Unerfahrenheit zunutze gemacht und hält sie jetzt unter einem schweren, drückenden Joch – nicht unter dem Joch der Liebe, von der sie nichts weiß – gefangen. Sie will sich einfach frei machen von diesen qualvollen Fesseln, die ihr vielleicht schon in den noch unbewußten Jahren ihrer Mädchenzeit angelegt wurden, und dieses Verschwinden in der Schlucht, diese Geheimnisse, diese blauen Briefe sind nichts weiter als verzweifelte Manöver, um sich – nicht vor der Leidenschaft, sondern vor irgendeinem dunklen Verhängnis zu retten, das irgendein Schritt vom Wege über sie heraufbeschworen hat und dem sie nun vergeblich zu entfliehen sucht. Und schließlich wird doch noch die Liebe ... zu ihm, Raiskij ... in ihr zum Durchbruch gelangen, und sie wird sich an seine Brust werfen und bei ihm Rettung suchen.‹

Es schien ihm zuweilen, als wende sie sich an ihn mit einem stummen Blick, der ihn um Hilfe anflehte, oder als schaue sie ihn fragend und forschend an, ob er auch stark und frei genug sei, um sie wiederaufzurichten, ihr ihre Selbstachtung wiederzugeben, den unsichtbaren Feind zu vernichten und sie wieder auf den rechten Weg zu geleiten.

So träumte und brütete er in wilder Unrast, sank heute hinab in den Abgrund der Hoffnungslosigkeit und wurde morgen wieder emporgetragen zu den lichten Höhen der Hoffnung – und alles nur darum, weil sie auf seine Frage, wen sie liebe, ihm flüchtig das eine Wort: »Sie!« hingeworfen hatte.

Und obschon sie das Wort mit ihrem rätselhaften Nixenblick begleitet hatte und gleich darauf im Dickicht der Schlucht verschwunden war, hatte es ihn doch in namenlosem Glück erbeben lassen.

›Wenn es nicht wahr ist – warum hat sie es dann gesagt? Und wenn es ein Scherz sein sollte – oh, das wäre ein grausamer Scherz! So scherzt eine Frau nicht mit der Liebe, die man ihr entgegenbringt, selbst wenn sie diese Liebe nicht erwidert. Sie hat noch kein Vertrauen zu mir ... sie glaubt nicht an meine Gefühle, meinen Kummer!‹

Er litt Höllenqualen in den knisternden Flammen dieser Zweifel, dieser Pein, die er sich selbst geschaffen, und schluchzte zuweilen laut, schlief ganze Nächte nicht und schaute heimlich nach dem schwachen Lichtschimmer in ihrem Fenster.

»Sie ahnt nicht, wie grausam sie mir zusetzt – ein Henker im Weiberrock!« zischte er durch die Zähne.

Und plötzlich wurde er nüchtern – er fühlte die Lüge, die in ihrem »Ich liebe Sie!« lag, und die Lüge seiner törichten Hoffnung auf ihre Gegenliebe, die Lüge seiner ganzen verzweifelten Lage.

Eines Tages, im Zwielicht der Abenddämmerung, traf er sie wieder betend in der Kapelle. Sie war ruhig, und ihr Blick war so klar, so voll stiller Zuversicht und demütiger Ergebung in ihr Schicksal, als habe sie sich damit abgefunden, daß jene Schüsse nicht mehr fielen, daß sie nicht mehr den Abhang hinabzusteigen brauche. Diesen letzten Schluß wenigstens zog er aus ihrer Ruhe, und sogleich wieder war er bereit, seinem heimlichen Traume von ihrer Gegenliebe zu glauben.

Sie reichte ihm freundlich die Hand und sagte, sie freue sich, ihn zu sehen, gerade in diesem Augenblick, da ihr Herz ruhiger geworden. Sie hatte sich in diesen Tagen, nach der Zusammenkunft mit Mark, überhaupt bemüht, ruhiger zu erscheinen. Beim Mittagessen, zu dem sie jetzt regelmäßig erschien, wußte sie sich völlig zu beherrschen, sprach mit allen, scherzte sogar zuweilen und bemühte sich, Appetit zu zeigen.

Die Großtante merkte anscheinend nichts, beobachtete sie nicht mißtrauisch und warf ihr keine forschenden Seitenblicke zu.

»Wera, verzeih, wenn ich störe«, begann Raiskij schüchtern, als er sie an der Kapelle sah.

»Alles verzeihe ich, Vetter, sprechen Sie!« sagte sie sanft.

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich es mich macht, daß du ruhiger geworden bist. Sieh, welchen Frieden dein Gesicht ausstrahlt. Woher ist dir dieser Friede gekommen? Von dort?«

Er zeigte nach der Kapelle.

»Woher sonst?«

»Du gehst, wie es scheint, nicht mehr ... dorthin?« fragte er und zeigte nach der Schlucht.

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich werde auch in Zukunft nicht mehr hingehen«, sagte sie leise.

»Gott sei Dank – welch ein Glück! Wohin gehst du jetzt, nach Hause? Nimm meinen Arm, ich werde dich begleiten.«

Er reichte ihr seinen Arm, und sie gingen still auf dem Fußweg, der über die Wiese führte.

»Du führst einen Kampf, Wera, einen verzweifelten Kampf, das kannst du nicht verbergen«, flüsterte er.

Sie schritt mit gesenktem Kopf daher. Ihr Schweigen ließ ihn hoffen, daß sie sich endlich aussprechen würde.

»Wenn du deine qualvolle und gefährliche Leidenschaft besiegt haben wirst ...«, fuhr er fort und hielt dann in seiner Rede inne, in der Erwartung, daß sie vielleicht auf seine Anspielung hin ihm ein offenes Bekenntnis ablegen würde.

»Was wird dann sein, Vetter?« fragte sie dumpf.

»Dann wirst du um eine große Erfahrung reicher sein, wirst gefeit sein gegen alle Stürme.«

»Und was weiter?«

»Und ein besseres Los wird dir zuteil werden.«

»Was für ein besseres Los?«

Er schwieg. Es fiel ihm ein, mit welchen glühenden Farben er ihr in den früheren Gesprächen das Bild der Leidenschaft gemalt hatte, wie eifrig er selbst sie unter diese Gewitterwolke gestoßen hatte. Und nun wußte er nicht, wie er sie wieder darunter wegführen sollte.

»Das Los eines schlichten, tiefen, verständigen und zuverlässigen Glücks, das ein ganzes Leben ausfüllen würde.«

»Ich verstehe das Glück auch nur in diesem Sinne«, sagte sie nachdenklich und blieb, die Stirn an seine Schulter gelehnt, stehen, als sei sie ermüdet.

Er sah ihr in die Augen; sie waren mit Tränen gefüllt. Er ahnte nicht, daß er den Finger in die Wunde gelegt hatte – darum gerade, um dieses dauernde Glück, war sie mit Mark in Zwist geraten.

»Du weinst, Wera, meine Freundin!« sagte er teilnahmsvoll.

In diesem Augenblick fiel unten in der Schlucht ein Schuß, dessen zischendes Echo am Berge widerhallte. Wera und Raiskij zuckten beide zusammen.

Sie hob wie in jähem Schreck den Kopf, stand einen Augenblick wie erstarrt da und lauschte. Ihre Augen waren weit geöffnet und unbeweglich. Die Tränen standen noch darin. Dann riß sie ihren Arm heftig aus dem seinigen und stürzte nach der Schlucht.

Er folgte ihr. Sie blieb auf halbem Wege stehen, legte die Hand auf ihr Herz und lauschte wieder.

»Vor fünf Minuten noch warst du fest, Wera«, sagte er, ganz bleich und durch den Schuß nicht weniger erregt als sie.

Sie sah ihn wie leblos an, ohne seine Worte zu hören, machte noch einen Schritt nach der Schlucht hin, kehrte dann jedoch um und ging langsam auf die Kapelle zu.

»Nein, nein!« flüsterte sie, »ich geh nicht. Warum ruft er mich? Hat er sich anders besonnen in diesen Tagen? Nein, nein, es kann nicht sein, daß er ...«

Sie kniete auf der Schwelle der Kapelle nieder, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und verharrte unbeweglich in dieser Stellung. Raiskij trat leise von hinten auf sie zu.

»Geh nicht, Wera«, flüsterte er.

Sie fuhr zusammen, hielt jedoch den Blick fest auf das Bild in der Kapelle gerichtet. Es lag ein so nachdenklicher, leidenschaftsloser Ausdruck in diesen gemalten Augen. Nicht ein Strahl leuchtete darin, nicht eine leise Hoffnung, nicht eine Spur von Hilfe, von Ermutigung. Von Grauen erfüllt, richtete sie sich langsam auf; Raiskijs Anwesenheit schien sie gar nicht zu bemerken.

Ein zweiter Schuß fiel. Sie stürzte rasch über die Wiese davon, nach der Schlucht.

›Wie, wenn er doch zurückkehrt? Wenn meine Wahrheit gesiegt hat? Warum würde er mich sonst rufen? O Gott!‹ dachte sie und eilte nach der Richtung, in der der Schuß gefallen war.

»Wera! Wera!« rief Raiskij entsetzt hinter ihr her und streckte die Arme aus, um sie zurückzuhalten.

Ohne ihn anzusehen, machte sie sich von ihm los und eilte, mit den Füßen kaum das Gras berührend, über die Wiese. Nicht einen Blick warf sie zurück und verschwand zwischen den Bäumen des Gartens, in der Allee, die zum Abhang führte.

Sprachlos blieb Raiskij stehen.

›Was ist das nun: ein schicksalsschweres, dunkles Geheimnis – oder eine Leidenschaft?‹ fragte er sich im stillen. ›Oder vielleicht beides?‹


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