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XI

Am Abend war das Haus hell erleuchtet. Die Großtante wußte nicht, wie sie ihre zukünftige Verwandtschaft am schönsten und besten bewirten sollte. Sie ließ für Marfinkas Schwiegermutter in dem kleinen Salon ein Paradebett aufstellen, das fast bis an die Decke reichte und wie ein Katafalk aussah. Marfinka sang und spielte den ganzen Abend mit Wikentjew in ihren Räumen, dann wurden sie beide still und vertieften sich in die Lektüre eines neuen Romans. Nur Wikentjew unterbrach das Schweigen immer wieder durch seine Bemerkungen und Späße.

Raiskijs Fenster aber blieben dunkel. Er war sogleich nach dem Mittagessen weggegangen und zum Tee nicht zurückgekehrt.

Der Mond übergoß das neue Haus mit seinem Licht, während das alte im Schatten lag. Auf dem Hof, in der Küche, in den Leutestuben blieben die Mägde und Diener länger als sonst auf. Auch sie hatten Gäste: der Kutscher und der Lakai von Koltschino, die mit Wikentjews Mutter gekommen waren, heischten Bewirtung.

In der Küche war es bis tief in die Nacht hinein hell – das Abendbrot wurde bereitet, und einige Gerichte für das morgige Mittagessen standen gleichfalls schon auf dem Feuer.

Wera saß seit sieben Uhr abends in ihrem Zimmer, zuerst im Halbdunkel, und dann beim schwachen Schein einer einzigen Kerze. Den Kopf auf den Ellbogen gestützt, saß sie am Tisch, nachdenklich in einem vor ihr liegenden Buche blätternd, in das sie jedoch nicht hineinsah.

Ihre Augen blickten über das Buch hinweg, irgendwohin in die Ferne. Um die Schultern hatte sie ein großes weißes Wolltuch gelegt, das sie gegen die durch das offene Fenster eindringende kühle Herbstluft schützte. Sie hatte noch nicht die Winterfenster einsetzen lassen und hielt das Fenster bis spät in die Nacht hinein offen.

Wohl eine halbe Stunde mochte sie dagesessen haben. Dann erhob sie sich langsam, legte das Buch zur Seite, trat an das Fenster und blickte, sich auf die Ellenbogen stützend, zum Himmel und zu dem hell erleuchteten neuen Hause hinüber. Sie lauschte auf die Schritte der im Hof umhergehenden Leute, richtete sich dann empor und erschauerte vor Kälte.

Sie machte sich daran, das Fenster zu schließen, und hatte soeben den einen Flügel angezogen, als mitten durch die Nachtstille aus der Tiefe der Schlucht ein Schuß ertönte.

Sie fuhr zusammen, sank jäh auf den Stuhl und ließ den Kopf sinken. Dann erhob sie sich, blickte ringsum und schritt mit ganz verwandeltem Gesichtsausdruck zum Tisch, auf dem die Kerze stand. Dort blieb sie stehen. Angst und Unruhe blickten aus ihren Augen. Sie faßte sich mehrmals mit der Hand an die Stirn und ließ sich am Tisch nieder, um jedoch schon im nächsten Augenblick wieder aufzustehen. Sie riß schnell das Tuch von den Schultern und warf es auf ihr Bett, ganz in die Ecke hinter den Vorhang, öffnete noch schneller das Kleiderspind, schloß es wieder, suchte mit den Augen auf den Stühlen und auf dem Sofa, und als sie nicht fand, was sie suchte, sank sie, anscheinend ganz kraftlos, auf einen Stuhl.

Endlich blieben ihre Augen an einem Stuhlrücken haften, über dem das ihr von Tit Nikonytsch geschenkte Ziegenhaartuch hing. Sie stürzte darauf zu und schlang es hastig mit der einen Hand um den Kopf, während die andere Hand mechanisch wieder das Kleiderspind öffnete und, wie im Fieber zitternd, bald diesen, bald jenen Mantel von den Riegeln nahm.

Sie warf einen flüchtigen Blick auf den Mantel, der ihr zufällig in die Hand geraten war, schleuderte ihn ärgerlich zu Boden, griff einen anderen heraus, warf ihn gleichfalls hin, nahm einen dritten und vierten, durchsuchte das ganze Spind und bemühte sich während all dieser Zeit, mit der einen Hand sich das Kopftuch umzubinden.

Schließlich stürzte sie zum Tisch, ergriff die Kerze und leuchtete damit in das Spind hinein. Ganz außer sich vor Ungeduld, nahm sie hastig die Mantille mit dem weißen Besatz, dann eine zweite, schwarzseidene Mantille, legte zuerst die eine und darüber die andere an und warf das Ziegenhaartuch in die Ecke.

Ohne das Spind zu schließen, schritt sie über den am Boden liegenden Kleiderhaufen hinweg, löschte die Kerze, schlüpfte aus der Tür und huschte, ohne diese zu schließen, gleich einer Maus, mit unhörbarem Schritt die Treppe hinunter.

Sie stahl sich nach den über den Hofrand gebreiteten Schatten hin und gelangte von da aus nach der dunklen Allee. Sie schwebte mehr, als sie ging; wo sie über eine beleuchtete Stelle hinweg mußte, huschte ihre dunkle Silhouette ganz leicht darüber hin, daß der Mond kaum Zeit fand, sie zu bestrahlen. Als sie aus der Allee herauskam, mäßigte sie ihren Schritt, und an dem Graben, der den Garten vom Haine trennte, blieb sie einen Augenblick stehen, um Atem zu schöpfen. Dann überschritt sie den Graben, bog, an ihrer Lieblingsbank vorübergehend, ins Gebüsch ein und kam an den Rand der Schlucht. Sie hob mit beiden Händen ihr Kleid hoch, um hinunterzugehen ...

Vor ihr stand plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, Boris Raiskij – gerade zwischen ihr und dem Abstieg zur Schlucht stand er hoch aufgerichtet da. Sie war wie zu Stein erstarrt.

»Wohin, Wera?« fragte er.

Sie schwieg.

»Kehr um!«

Er faßte nach ihrer Hand. Sie gab sie ihm nicht und wollte an ihm vorübergehen.

»Wohin gehst du, Wera? Was willst du dort?«

»Ich muß ... dahin, zum letztenmal ... Ich muß Abschied nehmen«, flüsterte sie, und es lag wie ein schamvolles Flehen in ihren Worten. »Lassen Sie mich, Vetter. Ich kehre sogleich zurück, erwarten Sie mich hier ... nur eine Minute. Bleiben Sie hier auf dieser Bank sitzen.«

Er faßte kräftig nach ihrer Hand und ließ sie nicht los.

»Lassen Sie mich, es schmerzt mich! Sie tun mir weh!« flüsterte sie, während sie ihre Hand aus der seinen zu zerren suchte.

Er ließ sie nicht los. Ein Kampf entspann sich zwischen ihnen.

»Sie können mich nicht zwingen!« sagte sie, die Zähne fest aufeinander beißend, und mit einem Aufgebot an Kraft, das er ihr nicht zugetraut hätte, entriß sie ihm ihre Hand und wollte an ihm vorübereilen.

Er umfaßte ihre Taille, führte sie zur Bank, setzte sie dort nieder und nahm neben ihr Platz.

»Wie grob, wie häßlich ist das!« sagte sie voll Schmerz und Zorn und wandte sich fast mit Abscheu von ihm hinweg.

»Ich wollte, du ließest dich durch eine andere Kraft, auf andere Weise zurückhalten, Wera!«

»Wovor zurückhalten?« fragte sie grob.

»Vielleicht – vor dem Untergang.«

»Wie kann ich untergehen, wenn ich es nicht will?«

»Du willst es vielleicht nicht – und doch geschieht es.«

»Und wenn ich untergehen will?«

Er schwieg.

»Hier ist von keinem Untergang die Rede. Um eine letzte Zusammenkunft, einen Abschied handelt es sich.«

»Es bedarf keiner Zusammenkunft, wenn es sich um den Abschied handelt.«

»Doch bedarf es ihrer – und sie wird stattfinden! Vielleicht eine Stunde, einen Tag später – jedenfalls aber wird diese Zusammenkunft stattfinden! Rufen Sie das ganze Hofgesinde zusammen, die ganze Stadt zusammen, nehmen Sie eine Kompanie Soldaten dazu – nichts vermag mich zurückzuhalten.«

Sie ließ die schwarze Mantille ganz auf die Schultern sinken und begann krampfhaft daran zu zerren.

Ein zweiter Schuß ertönte. Sie fuhr empor, doch zwei kräftige Hände legten sich auf ihre Schultern und drückten sie auf die Bank nieder. Sie maß Raiskij mit einem zornigen Blick und schüttelte sich vor Wut.

»Welchen Lohn erwarten Sie von mir für diese Rettung meiner Tugend?« zischte sie.

Er schwieg und beobachtete gespannt jede ihrer Bewegungen. Sie lachte voll Ingrimm.

»Lassen Sie mich los!« sagte sie nach einer Weile, plötzlich in einen sanften Ton verfallend.

Er schüttelte verneinend den Kopf.

»Vetter«, sprach sie nach einem Weilchen noch sanfter, während sie ihre Hand auf seine Schulter legte, »wenn Sie jemals dasaßen wie auf glühenden Kohlen, vor Angst und Ungeduld in einem Augenblick hundertmal sterbend ... wenn das Glück Ihnen zum Greifen nahe war und zu entschlüpfen drohte ... wenn Ihr Herz mit allen Fasern, aller Kraft dem Glück zustrebte ... wenn Sie je einen Augenblick kennengelernt haben, in dem Ihnen nur noch eine letzte Hoffnung, ein letzter leuchtender Funke blieb – oh, dann gedenken Sie jetzt dieses Augenblicks! ... Dies ist für mich solch ein Augenblick! Er wird entfliehen, wird alles unwiederbringlich mit sich nehmen.«

»So danke doch Gott, Wera, daß ich da bin! Komm zur Besinnung, such wieder klar zu denken – und du wirst selbst nicht dahin gehen! Wenn die Kranken in ihren Fieberqualen um Eis bitten, um ihren Durst zu stillen, dann verweigert man es ihnen. Als du gestern eine klare, ruhige Stunde hattest, hast du das selbst alles vorausgesehen und hast mir das einfachste und wirksamste Mittel dagegen angegeben: ich sollte dich nicht hingehen lassen, sagtest du – und ich lasse dich nicht hingehen.«

Sie sank an seiner Seite in die Knie.

»Zwingen Sie mich nicht! Treiben Sie es nicht so weit, daß ich Sie dann nachträglich mein Lebtag verfluche!« flehte sie. »Vielleicht erwartet mich dort mein Geschick.«

»Dein Geschick ... erwartet dich dort, wo du es gestern suchtest, Wera! Du glaubst an eine Vorsehung – es gibt kein anderes Geschick.«

Sie wurde plötzlich still und ließ den Kopf sinken.

»Ja«, sagte sie demütig, »ja, Sie haben recht. Ich glaube ... Aber ich habe dort gefleht und gebetet, daß ein Lichtstrahl wenigstens meinen Weg erleuchten möchte – und ich habe nichts erreicht! Was soll ich tun? Ich weiß es nicht.«

Sie seufzte und erhob sich von den Knien.

»Geh nicht hin!« sagte er.

»Wenn aber die Vorsehung, das Geschick, an das ich glaube, mich selbst dorthin entsendet ... Vielleicht bin ich dort notwendig?« fuhr sie fort, richtete sich auf und tat einen Schritt nach der Schlucht zu. »Was dort auch sein mag, halten Sie mich nicht mehr zurück, mein Entschluß ist gefaßt. Ich fühle, daß meine Schwäche vorüber ist. Ich habe meine Selbstbeherrschung wiedergewonnen, bin wieder stark. Dort wird nicht nur mein Geschick entschieden, sondern auch das Geschick eines andern. Wenn Sie jetzt mich und ihn durch eine unüberschreitbare Kluft trennen wollen, so sind Sie für die Folgen verantwortlich. Ich werde niemals Trost finden, werde Ihnen stets die Schuld an dem Unglück meines Lebens zuschieben! Wenn Sie mich jetzt zurückhalten, werde ich glauben, daß eine erbärmliche, kleine Leidenschaft, eine Eitelkeit, die keine Rechte besitzt, eine neidische Eifersucht mein Glück zerstört hat – daß Sie logen, als Sie die Freiheit predigten.«

Er wurde schwankend und trat einen Schritt zurück.

»Das ist die Stimme der Leidenschaft, mit allen ihren Trugschlüssen und Ränken«, sagte er dann, sich plötzlich fassend. »Du nimmst jetzt schon zu ganz verzweifelten Mitteln deine Zuflucht, Wera. Erinnere dich, wie du mich gestern, nach deinem Gebet, beschworen hast, dich nicht dahin gehen zu lassen! Wenn du mich nun dafür verfluchst, daß ich dir nachgegeben habe – wen trifft dann die Verantwortung?«

Sie wurde wieder mutlos und senkte traurig den Kopf.

»Sag mir: Wer ist's?« flüsterte er.

»Wenn ich es sage – werden Sie mich dann gehen lassen?« fragte Sie plötzlich lebhaft, sich an diese unerwartet auftauchende Hoffnung festklammernd, und ihre Augen, die aus nächster Nähe in die seinigen schauten, wiederholten die Frage.

»Ich weiß es nicht, vielleicht ...«

»Nein, geben Sie Ihr Wort, daß Sie mich gehen lassen – dann sage ich, wer es ist.«

Er schwankte noch immer.

Da fiel plötzlich unten in der Schlucht der dritte Schuß. Sie sprang auf und wollte fortstürzen, doch hielt er sie an der Hand zurück.

»Komm, Wera, komm, laß uns nach Hause gehen, zur Großtante«, sagte er nachdrücklich, fast in befehlendem Ton. »Entdecke ihr alles.«

Doch statt zu antworten, begann sie, sich mit Gewalt von ihm loszumachen, fiel nieder, erhob sich wieder und zerrte an ihren Armen, die er festzuhalten suchte.

»Wenn Sie jemals im Leben glücklich waren ... dann lassen Sie mich los! Sie sagten zu mir: ›Liebe nur, liebe – die Leidenschaft ist so schön, so herrlich!‹« sprach sie, vor Erregung ganz außer Atem. »Denken Sie an jene Augenblicke des Glücks, das Sie genossen, und lassen Sie auch mir diesen einen Augenblick, diesen einen Abend ... ich bitte Sie um Christi willen!« flüsterte sie, die Hand wie nach einem Almosen ausstreckend. »Auch Sie flehten einmal so um Christi willen, ich solle Sie nicht fortjagen ... und ich tat es nicht, wissen Sie noch? Reichen Sie nun auch mir ein Almosen! Ich werde Ihnen niemals Vorwürfe machen, niemals. Sie haben alles getan – eine Mutter hätte nicht mehr tun können –, doch nun lassen Sie mich, ich will, ich muß frei sein! Und möge der, zu dem ich gestern gebetet habe, mein Zeuge sein, daß es der letzte Abend ist ... der letzte! Ich werde niemals wieder da hinuntersteigen; glauben Sie mir – ich werde diesen Schwur nie brechen! Erwarten Sie mich hier, ich bin sogleich wieder zurück, nur ein Wort habe ich zu sagen.«

Er ließ ihre Hand fahren.

»Was redest du nur, Wera!« flüsterte er voll Angst. »Du bist ganz von Sinnen! Wohin willst du denn?«

»Dahin ... noch einmal ... den Wolf sehen ... und Abschied nehmen. Ich will hören, was er mir zu sagen hat ... vielleicht gibt er nach.«

Sie stürzte zum Abhang; doch in dem Bestreben, sich ihm zu entziehen, fiel sie zu Boden, und als sie wieder aufzustehen suchte, vermochte sie es nicht.

Sie streckte die Arme nach der Schlucht aus und sah mit flehendem Blick auf Raiskij.

Er nahm alle seine Kraft zusammen, erstickte den Aufschrei seiner eigenen Qual in der Brust und hob sie auf.

»Du wirst abstürzen, es geht da so steil hinunter«, flüsterte er. »Ich werde dir helfen.«

Er trug sie fast ein Stück abwärts und setzte sie dort, wo der Fußpfad begann, auf die Erde nieder.

Sie wandte sich nach ihm um und sah ihn groß an, mit einem Blick, in dem zugleich höchstes Erstaunen und heißer Dank lag. Dann sank sie plötzlich in die Knie, ergriff seine Hand und preßte sie fest an ihre Lippen.

»Das war großmütig, Vetter! Das wird Ihnen Wera nie vergessen!« sagte sie, und vor Freude aufjauchzend, stürzte sie wie ein aus dem Käfig befreiter Vogel ins Gebüsch.

Er ließ sich an der Stelle, an der er stand, auf den Boden niedergleiten und horchte voll Schreck, mit pochendem Herzen auf das Rascheln der zur Seite gebogenen Zweige und das Krachen der dürren Reiser unter ihren Füßen.


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