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III

In düsterer Stimmung kam Wera zum Abendbrot. Sie bat um ein Glas Milch, das sie begierig leerte, und sprach mit niemandem ein Wort.

»Warum bist du so niedergeschlagen, Werotschka? Fühlst du dich nicht wohl?« fragte die Großtante teilnehmend.

»Jaja, auch ich wollte Sie schon danach fragen«, bemerkte Tit Nikonytsch, »aber ich wagte es nicht. Seit einiger Zeit haben Sie sich auffallend verändert, Wera Wassiljewna« – Wera bewegte bei diesen Worten leicht die Schultern –, »Sie sind magerer geworden und ein wenig bleicher ... Das steht Ihnen sehr gut zu Gesicht«, fügte er liebenswürdig hinzu, »aber man darf doch auch nicht übersehen, daß das ebensogut Anzeichen einer Krankheit sein können.«

»Ja, ich habe etwas Zahnschmerzen«, antwortete gleichgültig Wera. »Doch das geht rasch vorüber.«

Die Großtante blickte zur Seite und schwieg niedergeschlagen. Raiskij hielt nachdenklich die Gabel zwischen dem Mittel- und Zeigefinger und ließ sie gegen den Teller klirren. Auch er aß nichts und saß wortlos da. Nur Marfinka und Wikentjew aßen von allen Gerichten, die gereicht wurden, und schwatzten ununterbrochen.

»Ich möchte Ihnen doch raten, Wera Wassiljewna«, versetzte Tit Nikonytsch auf Weras Bemerkung, »mit Ihrer Gesundheit nicht leichtfertig umzugehen! Wir stehen schon im August, die Abende werden kühl und feucht. Sie machen so lange Spaziergänge – das ist gewiß sehr schön, nichts dient der Gesundheit so sehr wie frische Luft und Bewegung, auf keinen Fall jedoch darf man jetzt des Abends mit bloßem Kopf ausgehen und mit Schuhwerk, das keine Doppelsohlen hat. Namentlich die Damen müssen bei ihrer zarten Konstitution sehr vorsichtig sein; ein wollenes Tuch tut da jedenfalls sehr gute Dienste. Man trägt jetzt solch hübsche warme Tücher aus Ziegenhaar. Ich habe mir erlaubt, drei Stück davon kommen zu lassen – für Sie, für Tatjana Markowna und für Marfa Wassiljewna. Ich wollte sie jedoch nicht mitbringen, ohne vorher um Erlaubnis gefragt zu haben.«

Die Großtante nickte ihm freundlich zu; Wera bemühte sich zu lächeln, und Marfinka sagte ohne weitere Umstände:

»Ach, wie gut Sie sind, Tit Nikonytsch! Nach dem Abendbrot bekommen Sie dafür auch einen Kuß. Darf ich?«

»Das erlaube ich nicht, ich bin eifersüchtig!« sagte Wikentjew.

»Wer wird Sie denn fragen?« antwortete Marfinka.

Tit Nikonytsch lächelte verlegen.

»Ich stehe zu Diensten, Marfa Wassiljewna! Ich werde mich glücklich schätzen«, sagte er. »Was für ein reizendes Mädchen!« fügte er, zu Raiskij gewandt, halblaut hinzu. »Wie eine Rose, die sich eben erst öffnet, sozusagen, und die selbst der Hauch des Windes nicht zu berühren wagt!«

Und er schnalzte gerührt mit den Lippen.

›Ja, eine Rose in voller Pracht!‹ dachte Raiskij seufzend. ›Und die andere ist wie eine Lilie, die anscheinend nicht nur ein Windhauch, sondern schon ein ganz gehöriger Sturm geschüttelt hat.‹

Er blickte zu Wera hinüber. Sie stand auf, küßte der Großtante die Hand, nahm von den übrigen mit einem Blick statt einer Verbeugung Abschied und ging hinaus.

Auch die anderen erhoben sich. Marfinka lief auf Tit Nikonytsch zu und brachte ihre bereits angekündigte Absicht zur Ausführung, indem sie ihm einen herzhaften Kuß gab.

»Kann ich das Tuch vielleicht morgen schon haben?« flüsterte sie ihm ins Ohr. »Wir wollen ganz zeitig mit Nikolai Andrejewitsch eine Spazierfahrt auf der Wolga machen, da könnte ich's brauchen.«

»Oh, sicherlich, ich bringe es selbst her«, sagte Tit Nikonytsch und machte einen Kratzfuß.

Sie gab ihm noch einen Kuß auf die Stirn und lief zur Großtante, der ihr Geflüster mit Tit Nikonytsch verdächtig vorkam.

»Nichts, nichts, Tantchen!« suchte sie die unruhig fragende Großtante zu beschwichtigen, was ihr jedoch nicht gelang. Sie fragte Tit Nikonytsch, was es denn da gegeben habe; dieser wagte nicht, ihr die Wahrheit zu verbergen, und erzählte ihr, Marfinkas Schuld nach Möglichkeit mildernd, um was sie gebeten.

»Du Bettlerin!« sagte Tatjana Markowna vorwurfsvoll. »Geh jetzt schlafen, es ist schon spät. Und auch Sie müssen nun nach Hause, Nikolai Andrejitsch! Gute Nacht, Gott mit Ihnen!«

»Ich fahre Sie nach Hause, ich habe meine Droschke da«, sagte Tit Nikonytsch liebenswürdig zu Wikentjew.

Kaum war Wera aus dem Zimmer gegangen, als Raiskij ihr leise folgte. Sie ging nach dem Hain zu, stand eine Weile, in die dunkle Tiefe zu ihren Füßen blickend, am Rande der Schlucht, wickelte sich dann in ihre Mantille und nahm auf der Bank Platz.

Raiskij kündigte seine Ankunft schon von fern durch ein Hüsteln an und ging gerade auf sie zu.

»Ich will mich hier neben dich setzen, Wera«, sagte er, »darf ich?«

Sie rückte schweigend ab, um ihm Platz zu machen.

»Du bist so traurig, du leidest!«

»Ich habe Zahnschmerzen«, antwortete sie.

»Nein, nicht nur die Zähne sind's, dein ganzes Wesen ist krank; sag mir, was ist mit dir? Vertraue mir deinen Kummer an!«

»Warum? Ich bin imstande, ihn allein zu tragen. Ich klage doch nicht.«

Er seufzte.

»Du liebst unglücklich – doch wen?« flüsterte er.

»Wen?! Schon wieder diese Frage! Ich sagte es Ihnen doch schon, mein Gott: Sie!« sagte sie und rückte ungeduldig auf der Bank hin und her.

»Warum nun wieder dieses böse Lachen? Womit habe ich das um dich verdient? Damit, daß ich dich so leidenschaftlich liebe, daß ich dir glaube und vertraue, daß ich bereit bin, für dich zu sterben?«

»Was für ein böses Lachen? Mir ist weiß Gott nicht zum Lachen!« sagte sie fast verzweifelt, erhob sich von der Bank und begann in der Allee auf und ab zu gehen.

Raiskij blieb auf der Bank sitzen.

›Und ich habe noch immer gehofft ... und hoffe noch immer ... ich Törin! O mein Gott!‹ sprach sie still für sich und rang die Hände. ›Ich will versuchen, auf eine Woche, oder auf zwei, diesem hitzigen Fieber zu entfliehen. Ich will aufatmen, wenigstens eine Zeitlang, ich bin ganz von Kräften!‹

Sie blieb vor Raiskij stehen.

»Vetter«, sagte sie, »ich fahre morgen über die Wolga; ich werde vielleicht länger dort bleiben als sonst.«

»Das fehlte mir gerade noch!« fiel ihr Raiskij bitter ins Wort.

»Ich habe von Tantchen keinen Abschied genommen«, fuhr sie, ohne auf seinen Einwurf zu achten, fort, »sie weiß von nichts. Sagen Sie es ihr, bitte, ich fahre schon mit Anbruch des Tages.«

Er schwieg wie vernichtet.

»Dann reise auch ich ab!« sagte er, gleichsam laut denkend.

»Nein, warten Sie noch«, sagte sie, und ihre Worte klangen fast aufrichtig. »Sobald ich mich ein wenig beruhigt habe ...«

Sie hielt einen Augenblick inne.

»... werde ich Ihnen vielleicht alles sagen. Und dann werden wir anders voneinander scheiden, richtig als Bruder und Schwester. Jetzt aber kann ich das nicht. Übrigens, nein ...«, fügte sie rasch, mit einer verzichtenden Handbewegung, hinzu, »reisen Sie lieber! Und haben Sie doch die Freundlichkeit, in der Leutestube zu sagen, daß Prochor um fünf Uhr den Wagen bereit halten soll. Schicken Sie auch Marina zu mir. Für den Fall, daß Sie in meiner Abwesenheit reisen sollten«, fügte sie nachdenklich, fast traurig, hinzu, »wollen wir jetzt voneinander Abschied nehmen. Verzeihen Sie mir meine Absonderlichkeiten« – sie ließ einen Seufzer hören – »und empfangen Sie meinen Schwesterkuß.«

Sie nahm seinen Kopf zwischen ihre beiden Hände, küßte ihn auf die Stirn und entfernte sich rasch.

»Ich danke Ihnen für alles«, rief sie, sich plötzlich umwendend, von weitem. »Ich bin jetzt nicht imstande, Ihnen zu sagen, wie sehr ich Ihnen für Ihre Freundschaft – namentlich für diesen Winkel hier – danke. Leben Sie wohl und verzeihen Sie mir!«

Sie ging davon, während er wie gebannt zurückblieb. Für ihn war die ganze Welt außer diesem Winkel hier eine Wüste, und sie schickte ihn von hier fort, in die trostlose, weite Welt! Sie konnte doch nicht verlangen, daß er sich lebendig ins Grab legte!

»Wera!« rief er und lief rasch hinter ihr her.

Sie blieb stehen.

»Laß mich noch hier bleiben, solange du dort drüben bist. Wir werden uns nicht sehen, ich werde dir nicht lästig fallen! Aber ich werde wissen, wo du bist, werde warten, bis du dich beruhigt hast und mir – wie du es versprochen – alles sagst. Du hast mir das soeben versprochen. Es ist nicht weit von hier, wir können einander schreiben.«

Er fuhr sich mit der Zunge über die heißen Lippen und warf die Sätze hastig und abgerissen hin, als fürchte er, daß sie schon im nächsten Augenblick fortgehen und für ihn auf immer verschwinden könnte.

Es lag etwas Flehendes in seiner Miene, und er streckte die Hand nach ihr aus. Sie schwieg unentschlossen und kam dann langsam auf ihn zu.

»Reich dem armen Bettler wenigstens diesen Pfennig ... um Christi willen!« flüsterte er leidenschaftlich und hielt ihr die Hand hin. »Gib ihm noch von diesem Himmel und von dieser Hölle! Laß mich leben, scharre mich nicht lebendig in die Erde ein!« flüsterte er kaum hörbar und sah sie ganz verzweifelt an.

Sie blickte ihm fest in die Augen und bewegte ihre Schultern, als empfinde sie einen Kälteschauer.

»Sie wissen selbst nicht, um was Sie bitten«, antwortete sie leise.

»Um Christi willen!« wiederholte er, ohne auf ihre Worte zu hören, und hielt ihr noch immer die bettelnde Hand hin.

Sie versank in Nachdenken und warf ihm von Zeit zu Zeit einen Blick zu, in dem sich ihr Mitgefühl und doch auch ihr Mißtrauen ausdrückte.

»Gut denn, so bleiben Sie!« fügte sie dann bestimmt hinzu. »Und schreiben Sie mir; aber fluchen Sie mir nicht, wenn Ihre Leidenschaft« – sie gab dem Wort eine geringschätzig ironische Betonung – »auch davon nicht vergeht.« Und im stillen dachte sie, während sie ihn ansah: ›Wer weiß, vielleicht vergeht sie auch ... es ist doch alles nur Einbildung!‹

»Alles will ich ertragen – alle Qualen! Eher würde ich vielleicht das Glück nicht ertragen – aber Qualen: oh, gib sie mir, auch sie sind Leben! Nur jag mich nicht fort, heiß mich nicht weggehen – dazu ist es zu spät!«

»Wie Sie wollen«, versetzte sie zerstreut. Sie schien an etwas ganz anderes zu denken.

Er lebte auf, seine Nerven waren plötzlich wie verjüngt.

Sie dachte traurig: ›Warum höre ich dies alles nicht von ihm?‹ Und dann sprach sie laut: »Gut also – ich fahre nicht morgen, sondern erst übermorgen.«

Und sie schien selbst mit aufzuleben, und in ihrer Seele begann etwas zu keimen, halb Hoffnung und halb Plan. Beide waren plötzlich zufrieden miteinander wie auch mit sich selbst.

»Schicken Sie nur jetzt gleich Marina zu mir – und im übrigen: Gute Nacht!«

Er drückte einen leidenschaftlichen Kuß auf ihre Hand, und sie trennten sich.


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