Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI

Marfinka sah ihn zuerst, als er auf den Hof kam, dann folgte Wikentjew, und hinter diesem her stürzten die Hunde herbei, um ihn zu begrüßen. Alle, mit Einschluß von Paschutka, waren bis zu Tränen gerührt vor Freude über seine Ankunft, und auch er selbst hätte, obschon die Leidenschaft seine Seele wieder ganz im Banne hielt, ob der Wärme dieses herzlichen Empfanges beinahe geweint.

›Ach, warum kann ich mich nicht zufriedengeben mit diesem schlichten Glück – warum bin ich nicht Tantchen, oder Wikentjew, oder Marfinka, warum bin ich von demselben Schlage wie Wera?‹ dachte er und sah sich schüchtern nach Wera um.

»Und Wera ist gestern abgefahren!« sagte Marfinka mit besonderer Lebhaftigkeit, als sie sah, wie er ängstlich suchend um sich schaute.

»Ja, Wera Wassiljewna ist abgefahren!« wiederholte Wikentjew.

»Das Fräulein ist nicht da!« sagten auch die Leute, obschon er sie gar nicht fragte.

Er hätte sich nun freuen sollen – statt dessen aber befiel sein Herz tiefste Trauer.

›Und sie freuen sich noch, daß sie abgefahren ist, sie können darüber lachen, es macht ihnen nichts aus!‹ dachte er, während er sich zu Tatjana Markowna in ihr Kabinett begab.

»Wie sehnsüchtig habe ich dich erwartet – einen Extraboten wollte ich schon hinter dir herschicken!« sagte sie mit sorgenvollem Gesicht, hieß Paschutka aus dem Zimmer gehen und verschloß die Tür.

Er erschrak, in der Meinung, daß irgendeine schlimme Nachricht über Wera ihn erwarte.

»Was ist vorgefallen?«

»Dein Freund Leontij Iwanowitsch ...«

»Nun?«

»Er ist krank.«

»Der Ärmste! Was fehlt ihm denn? Ich fahre sofort hin! Ist's gefährlich?«

»Wart, ich lasse anspannen und inzwischen erzähle ich dir, was es mit seiner Krankheit auf sich hat. In der Stadt ist es schon bekannt, ich verheimliche es nur Marfinkas wegen ... Auch Wera hat es schon irgendwo erfahren ...«

»Was ist denn mit ihm passiert?«

»Seine Frau ist fort«, flüsterte Tatjana Markowna stirnrunzelnd, »und das hat ihn krank gemacht. Seine Köchin war schon vorgestern und gestern da, um dich zu ihm zu bitten.«

»Wo steckt denn seine Frau?«

»Mit dem Franzosen, dem Charles, ist sie davongelaufen. Der mußte aus irgendeinem Grunde nach Petersburg fahren, und da ist sie einfach mitgereist. ›Ich will meine Verwandten in Moskau besuchen‹, meinte sie pfiffig, ›da kann mich ja Monsieur Charles gleich mitnehmen!‹ So entlockte sie ihrem Manne den Legitimationsschein.«

»Nun, was ist dabei?« sagte Raiskij. »Ihre Beziehungen zu Charles sind doch für niemanden außer Leontij ein Geheimnis. Man wird darüber lachen, sie wird zurückkommen, und er wird nie etwas davon erfahren.«

»So hör doch zu Ende! Von unterwegs hat sie ihm dann geschrieben, er solle sie vergessen und sie nicht erwarten, da sie nicht mehr zurückkehren werde. Sie könne mit ihm nicht leben, sie müsse ersticken.«

Raiskij zuckte die Achseln.

»Du lieber Gott! Diese Närrin!« sagte er dann mit aufrichtigem Bedauern. »Der arme Leontij! Nicht genug, daß sie ihn heimlich betrog – nein, sie mußte den Skandal auch an die Öffentlichkeit bringen! Ich fahre gleich hin; ach, wie er mir leid tut!«

»Auch mir tut er leid, Borjuschka. Ich wollte schon selbst zu ihm fahren – er ist eine so ehrliche Seele, wie ein Kind! Gott hat ihm Gelehrsamkeit gegeben, aber keinen Witz. Da sitzt er nun ewig zwischen seinen Büchern! Wer wird sich jetzt um ihn kümmern? Weißt du was? Wenn er dort niemanden hat, der sich seiner annimmt, dann bring ihn doch hierher! Das alte Haus ist ganz leer bis auf Werotschkas Zimmer ... wir bringen ihn vorläufig dort unter ... Ich habe für alle Fälle schon zwei Zimmer für ihn zurechtmachen lassen.«

»Was für eine prächtige Frau Sie doch sind, Tantchen – ich hatte eben erst denselben Gedanken, und Sie haben ihn schon zur Ausführung gebracht!«

Er begab sich für einen Augenblick in sein Zimmer. Dort fand er Briefe aus Petersburg, darunter auch einen von seinem Freund Ajanow, dem Partner von Nadjeshda Wassiljewna und Anna Wassiljewna Pachotina. Es war jedenfalls die Antwort auf mehrere Briefe, in denen er selbst sich nach Sofja Belowodowa erkundigt hatte, an die er jedoch längst nicht mehr dachte.

Er öffnete den Brief und sah, daß Ajanow in der Tat unter anderem auch dieses Thema berührte.

›Endlich fällt's ihm ein, zu schreiben!‹ dachte er. ›Als ich ihm schrieb, stand ihr Bild noch frisch vor meiner Seele – jetzt erinnere ich mich kaum noch ihres Gesichts. Jetzt ist mir sogar eine Sekleteja Burdalachowa interessanter, da sie mich wenigstens an Wera erinnert.‹

Er ließ die Briefe ungelesen und die Journale ungeöffnet und fuhr sogleich zu Koslow. Die Läden des kleinen grauen Hauses waren geschlossen, und Raiskij mußte eine ganze Weile warten, ehe ihm geöffnet wurde.

Er durchschritt das Vorzimmer und den Salon und blieb an der Tür zu Leontijs Kabinett stehen. Er wußte nicht, ob er klopfen oder ohne weiteres eintreten sollte.

Die Tür öffnete sich plötzlich leise, und vor ihm stand Mark Wolochow in einem Frauenmorgenrock und in Koslows Pantoffeln, ungekämmt, anscheinend unausgeschlafen, blaß und mager, mit einem grimmigen Ausdruck im Gesicht.

»Endlich kriegt man den gnädigen Herrn zu sehen«, sagte er halblaut, in ärgerlichem Ton. »Wo haben Sie denn gesteckt? Ich habe schon zwei Nächte fast ohne Schlaf verbracht. Tagsüber kommen ihm die Schüler auf den Hals, und in der Nacht ist er ganz allein.«

»Was ist denn mit ihm?«

»Was mit ihm ist? Hat man Ihnen denn nichts gesagt? Sein Zicklein ist über alle Berge! Ich freute mich so, als ich's hörte, und ging gleich hin, um ihm zu gratulieren, und wie ich hinkomme, sehe ich: der Mensch ist ganz verstört! Sein Blick ist starr, er erkennt keinen Menschen und ist wie im Fieber. Jetzt scheint es ja etwas besser. Statt Freudentränen zu vergießen, ist der Schafskopf ganz aufgelöst vor Gram. Ich holte den Arzt, doch er jagte ihn hinaus, und dabei benimmt er sich wie ein Verrückter. Er schläft jetzt, stören Sie ihn nicht. Ich gehe nach Hause, Sie aber bleiben doch hier, nicht wahr? Damit er sich nicht noch in einem Anfall von Schwermut etwas antut. Auf keinen Menschen hört er – ich wollte ihm schon eine Tracht Prügel verabreichen.«

Er spuckte ärgerlich aus.

»Auf die Köchin ist kein Verlaß, das ist eine Idiotin. Gestern sollte sie ihm ein Beruhigungspulver geben – statt dessen ließ sie ihn Zahnpulver schlucken. Morgen abend löse ich Sie ab«, fügte er hinzu.

Raiskij blickte voll Erstaunen auf Mark und reichte ihm die Hand.

»Warum auf einmal so liebenswürdig?« fragte Mark gallig, ohne seine Hand zu ergreifen.

»Ich danke Ihnen, daß Sie sich meines armen Freundes angenommen haben.«

»Ah, sehr angenehm!« sagte Mark, begann mit beiden Pantoffeln auf dem Fußboden zu scharren und schüttelte mehrmals Raiskijs Hand. »Ich habe längst eine Gelegenheit gesucht, Ihnen einen Dienst zu erweisen.«

»Warum ziehen Sie eigentlich, wie ein Zirkusclown, alles ins Lächerliche, Wolochow?«

»Und warum nehmen Sie alles im Leben so pathetisch?« versetzte Wolochow voll Hohn. »Was soll mir Ihre Dankbarkeit? Bin ich etwa Ihretwegen oder sonst jemandes wegen zu Koslow gekommen, und nicht vielmehr einzig und allein seinetwegen?«

»Nun gut, Mark Iwanowitsch, Gott mit Ihnen! Bleiben Sie schon bei Ihren Manieren. Schließlich kommt es auf die ebensowenig an wie auf mein Pathos. Sie haben jedenfalls ein gutes Werk vollbracht.«

»Schon wieder ein Lob!«

»Ja, schon wieder. Das ist nun einmal meine Manier – zu sagen, was mir gefällt, oder nicht gefällt. Sie glauben vielleicht, grob sein heiße soviel wie einfach und natürlich sein? Ich bin der Meinung, daß der Mensch in um so höherem Grade Mensch ist, je sanfter er ist. Lassen Sie mich schon bei dieser Meinung bleiben, sosehr sie Ihnen auch mißfällt!«

»Meinetwegen raspeln Sie Ihr Süßholz weiter, soviel Sie wollen!« knurrte Mark.

»Ich nehme Leontij zu mir – dort wird er sich wie zu Hause fühlen«, fuhr Raiskij fort, »und wenn sein Kummer nicht vergeht, kann er für immer in dem stillen Winkel bleiben.«

»Nun reiche ich Ihnen die Hand«, sagte Mark ernsthaft und hielt Raiskij seine Hand hin. »Das ist doch eine Tat, kein bloßes Gerede! Koslow wird an der Sache zugrunde gehen, er wird kaum noch weiter amtieren können. Er wird ohne Obdach, ohne ein Stück Brot bleiben. Ein prächtiger Einfall, der Ihnen da gekommen ist!«

»Nicht mein Einfall ist es, sondern der Einfall einer Frau, und nicht aus ihrem Kopf stammt er, sondern aus ihrem Herzen«, sagte Raiskij, »und darum nehme ich diesmal Ihre Hand nicht an. Die Großtante hat diesen Einfall gehabt.«

»Eine ganz famose Alte, Ihre Großtante!« sagte Mark. »Ich komme gelegentlich einmal zu ihr zu Besuch, wenn's wieder eine Pastete gibt. Wie schade, daß ihr so viel alter Plunderkram im Kopf sitzt! Nun, ich gehe jetzt, und Sie nehmen Koslow in Ihre Obhut – wenn Sie nicht selbst dableiben können, lassen Sie sonst jemanden bei ihm. Vorgestern legten wir ihm Sauerkraut auf den Kopf, um ihm die Stirn zu kühlen. Ich war einen Augenblick eingeschlafen, und in der Zeit hat er sich, ohne sich etwas dabei zu denken, das ganze Sauerkraut in den Mund gestopft und aufgegessen. Nun, leben Sie wohl, ich bin müde und habe Hunger. Awdotja hat mir hier so eine Brühe vorgesetzt, sie sagte, es sei Kaffee.«

»Hören Sie – wollen Sie nicht noch ein Weilchen dableiben? Ich schicke sofort den Kutscher nach Hause und lasse ein Abendbrot holen«, sagte Raiskij.

»Nein, ich will zu Hause Abendbrot essen.«

»Vielleicht ... brauchen Sie Geld?« sagte Raiskij fast schüchtern und wollte seine Brieftasche herausziehen.

Mark ließ plötzlich sein kaltes, schneidendes Lachen vernehmen.

»Nein, nein – ich bin jetzt gut bei Kasse«, sagte er und warf Raiskij einen rätselhaften Blick zu. »Ich gehe vor dem Abendbrot auch noch in die Badstube. Ich muß mich wieder frisch machen, all die Zeit über bin ich nicht aus den Kleidern gekommen. Ich wohne jetzt nicht mehr bei dem Gärtner, sondern bei einer geistlichen Person. Heute wird dort das Bad geheizt, ich will die Gelegenheit benutzen, esse dann Abendbrot und lege mich gleich ins Bett, um einmal ordentlich auszuschlafen.«

»Sie sind mager geworden – und Sie sehen recht angegriffen aus«, bemerkte Raiskij. »Ihre Augen ...«

Mark runzelte plötzlich die Brauen, und sein Gesicht wurde noch finsterer als vorher.

»Und Sie scheinen mir noch weit mehr angegriffen!« sagte er. »Sehen Sie doch mal in den Spiegel: die gelben Flecke, die eingefallenen Augen.«

»Ich hatte allerhand Aufregungen.«

»Ja, die hatte ich auch«, bemerkte Wolochow trocken. »Leben Sie wohl.«

Er entfernte sich, während Raiskij leise die Tür zu Leontijs Kabinett öffnete und auf den Zehenspitzen an sein Bett ging.

»Wer ist da?« fragte Koslow mit schwacher Stimme.

»Guten Abend, Leontij – ich bin es!« sagte Raiskij, nahm Koslows Hand und setzte sich in einen Lehnstuhl neben dem Bett.

Koslow sah eine ganze Weile vor sich hin, bis er ihn endlich erkannte; dann richtete er sich rasch auf und fragte:

»Ist jener dort weggegangen? Ich habe mich schlafend gestellt. Dich hab ich schon so lange nicht gesehen«, fuhr er leise fort. »Und dabei wartete ich immer – wird er nicht einmal vorsprechen? dachte ich. Das Gesicht des alten Kameraden«, sagte er, seine Hand auf Raiskijs Schulter legend und ihm aus nächster Nähe in die Augen schauend, »ist noch das einzige, das mir nicht zuwider ist.«

»Ich war nicht in der Stadt«, antwortete Raiskij, »ich bin soeben erst zurückgekommen und erfuhr, daß du krank seiest!«

»Unsinn, ich bin nicht krank. Ich verstelle mich nur«, sagte er, ließ den Kopf auf die Brust sinken und schwieg. Nach einem Weilchen hob er den Kopf wieder und blickte Raiskij zerstreut an.

»Was wollte ich dir doch sagen ...«, begann er und hielt sogleich wieder inne.

Er erhob sich und begann mit unsicheren, ungleichen Schritten in dem Kabinett auf und ab zu gehen.

»Leg dich lieber hin, Leontij«, bemerkte Raiskij, »du bist krank.«

»Ich bin nicht krank«, versetzte Koslow fast ärgerlich. »Ihr scheint euch alle verschworen zu haben, um mir einzureden, daß ich krank bin. Mark schickt mir sogar einen Arzt auf den Hals und sitzt mir im Nacken, als fürchte er, daß ich aus dem Fenster springen oder mir sonst ein Leid antun könnte.«

»Du bist aber wirklich schwach, hältst dich kaum auf den Beinen – leg dich lieber hin.«

»Ja, schwach bin ich wohl, das stimmt«, flüsterte Leontij, während er sich über den Stuhlrücken hinweg zu Raiskij niederbeugte und seinen Hals umschlang. Er legte seine Wange auf Raiskijs Kopf, und dieser fühlte plötzlich heiße Tränen auf seiner Stirn und seinen Wangen. Leontij weinte.

»Das ist Schwäche, ja«, sagte Leontij aufschluchzend, »aber krank bin ich nicht ... und ich hab auch kein Fieber ... das schwatzen sie nur so ... weil sie es nicht begreifen können. Und auch ich habe es nicht begriffen ... und wie ich dich sah ... da brachen meine Tränen hervor, ganz von selber. Nur schilt mich nicht, wie Mark es getan hat, und lach mich nicht aus, wie die anderen es tun ... meine Herren Kollegen, die Lehrer. Ich sehe dieses boshafte Lachen in ihren Gesichtern ... wenn sie kommen, um mir ihr Beileid auszudrücken.«

Raiskij selbst fühlte, wie ihm die Tränen in die Kehle stiegen, doch hielt er sie mit Gewalt zurück, um Leontijs Kummer nicht noch zu steigern.

»Ich verstehe deine Tränen, und ich weiß sie zu schätzen, Leontij!« sagte er, sich nur mit Mühe beherrschend.

»Du bist mein guter, alter Kamerad ... du hast auch in der Schule nicht über mich gelacht. Weißt du auch, warum ich weine? Weißt du denn nicht, was mir passiert ist?«

Raiskij schwieg.

»Ich will dir etwas zeigen«, sagte Leontij, trat an seinen Schreibtisch, nahm aus einem Schubfach einen Brief und reichte ihn Raiskij.

Raiskij überflog mit den Augen Uljana Andrejewnas Brief.

»Verbrenne diesen Brief«, riet er Leontij, »solange das nicht geschehen ist, wirst du keinen Frieden finden!«

»Wie könnte ich das!« sagte Leontij ganz erschrocken, nahm ihm den Brief fort und legte ihn sorgsam wieder in das Schubfach zurück. »Das sind ja die einzigen Zeilen von ihrer Hand an mich, die ich besitze, ich habe nichts Schriftliches sonst von ihr. Es ist das einzige Andenken an sie«, fügte er, seine Tränen hinunterschluckend, hinzu.

»Ja, eine solche Liebe verdiente einen andern Dank«, sagte Raiskij leise. »Aber, mein lieber Leontij, betrachte die Sache eben als eine Krankheit – als einen Schmerz, der zwar groß ist, jedoch vorübergehen wird. Laß dich von ihm nicht besiegen – das Leben ist lang, du bist noch nicht alt.«

»Das Leben ist für mich aus, wenn ...«, fiel Leontij ihm ins Wort, »wenn ...«

»Wenn was?«

»Wenn sie ... nicht zurückkehrt«, flüsterte er.

»Wie, du wolltest ... du würdest sie wieder aufnehmen, wenn sie jetzt zurückkäme?«

»Ach, Boris, auch du begreifst das nicht!« sagte Koslow fast verzweifelt, griff sich an den Kopf und begann wieder im Zimmer auf und ab zu wandern. »Mein Gott, da reden sie mir nun ein, daß ich krank sei, sprechen mir ihr Beileid aus, holen mir den Arzt, halten Nachtwache an meinem Bett – und können doch meine Krankheit und das Heilmittel, das mir einzig und allein helfen könnte, nicht erraten. Dieses Heilmittel ...«

Raiskij schwieg.

Koslow kam mit großen Schritten auf ihn zu und faßte ihn bei den Schultern, und während er ihn kräftig schüttelte, flüsterte er verzweifelt:

»Sie ist nicht da – das ist meine Krankheit! Ich bin nicht krank – ich bin gestorben. Mein Ich, mein Dasein, meine Gegenwart, meine Zukunft, alles ist gestorben, weil sie nicht da ist! Geh, bring sie zurück, führe sie hierher – und ich werde wieder zum Leben erwachen! Und er kann fragen, ob ich sie wieder aufnehmen würde! Du willst Romane schreiben – und bist nicht imstande, eine so einfache Sache zu begreifen!«

Raiskij sah, daß Koslow jetzt endlich auch das Leben ringsum mit dem bewußten klaren Blick erfaßte, mit dem er bisher nur das Leben der Alten betrachtet hatte, und daß es vergeblich war, ihn trösten zu wollen.

»Jetzt begreife ich dich«, sagte er, »aber ich wußte nicht, daß du sie so sehr liebst. Du machtest doch früher zuweilen selbst deine Scherze. Du sagtest, du hättest dich an sie gewöhnt, du vergäßest sie über deinen Griechen und Römern.«

Ein bitteres Lächeln spielte um Koslows Lippen.

»Ich habe gelogen und geprahlt, habe ohne Verständnis geschwatzt, Boris«, sagte er. »Und wenn das jetzt nicht geschehen wäre, wäre mir auch nie das rechte Verständnis aufgegangen. Ich meinte, nur die Menschen und das Leben des Altertums zu lieben, und ich liebte einfach ... die lebendige Frau! Ich liebte die Bücher, das Gymnasium, und die alten und neuen Menschen, und meine Schüler ... und selbst dich ... und diese Stadt, mit der Gasse hier, dem Zaun und den Ebereschen vor meinem Hause einzig nur darum, weil ich ... sie liebte! Jetzt ist mir das alles so zuwider, und ich wäre imstande, bis an den Nordpol zu fliehen ... ja, das ist mir nun klar! Und ich wurde mir dessen bewußt, als ich mich hier am Boden krümmte und ihren Brief las.«

Leontij stieß einen Seufzer aus.

»Und du kannst fragen, ob ich sie wieder aufnehmen will! Mein Gott! Und wie würde ich sie aufnehmen – wie würde ich sie lieben – jetzt sollte sie es erfahren, ja!« fügte er hinzu.

Wieder traten ihm die Tränen in die Augen.

»Weißt du was, Leontij – ich komme zu dir mit einer Bitte von Tatjana Markowna«, sagte Raiskij.

Leontij ging schwankend im Zimmer auf und ab, das Haar zerzaust, mit den Pantoffeln schlurrend, und hörte nicht, was Raiskij zu ihm sagte.

»Die Großtante läßt dich bitten, doch zu uns überzusiedeln«, fuhr Raiskij fort. »Du wirst hier allein vor Gram vergehen.«

Koslow begriff diesmal den Vorschlag Raiskijs, winkte jedoch mit der Hand ab.

»Ich bin der Großtante herzlich dankbar, sie ist eine Heilige. Aber warum soll ich Jammerkerl meinen Kummer fremden Leuten ins Haus tragen!«

»Unser Haus ist dir doch nicht fremd, Leontij – wir beide sind doch so gut wie Brüder! Die Bande, die uns verknüpfen, sind stärker als selbst die Bande des Blutes.«

»Jaja, entschuldige nur – mein Kummer läßt mich so reden!« sagte Koslow, während er sich auf das Bett legte und Raiskijs Hand ergriff. »Verzeih meinen Egoismus. Später vielleicht ... später ... wenn keine Hoffnung mehr bleibt ... werde ich von selbst angekrochen kommen, werde dich bitten, mir deine Bibliothek zu zeigen.«

»Hoffst du denn noch immer?«

»Was meinst du denn?« fragte Koslow plötzlich im Flüsterton, während er sich jäh emporrichtete und sein Gesicht demjenigen Raiskijs näherte. »Meinst du, es sei keine Hoffnung mehr?«

Raiskij schwieg – er wollte ihm diesen Strohhalm nicht nehmen, ihn aber auch nicht unnützerweise damit anlocken.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Leontij«, antwortete er. »Ich habe deine Frau so wenig beobachtet, sie so lange nicht gesehen. Ich kenne ihren Charakter wirklich nicht genauer.«

»Ja, du wolltest dich leider nicht näher mit ihr abgeben ... ich weiß, du hättest ihr eine gehörige Lektion erteilt. Vielleicht wäre es dann gar nicht passiert.«

Er seufzte tief auf.

»Aber du kennst sie doch«, fügte er hinzu, »du hast damals auf den Franzosen angespielt, ich habe dich nur nicht verstanden. Ich hätte es mir ja nicht träumen lassen.« Er schwieg. »Und wenn er sie jetzt sitzenläßt?« sagte er dann plötzlich, nach kurzem Schweigen, und in seinen Augen leuchtete es auf wie ein Strahl der Freude. »Vielleicht erinnert sie sich dann ... vielleicht ...«

»Vielleicht ...«, sagte Raiskij unbestimmt.

»Halt! Was ist das? Ein Wagen kommt!« sagte Leontij hastig, richtete sich auf und blickte durchs Fenster. Dann sank er wieder zurück und neigte hoffnungslos den Kopf auf die Brust.

Ein Bauernwagen fuhr am Fenster vorüber – der Fuhrmann stand in seinem Tschuwaschenhemd mit rotem Besatz aufrecht darin und trieb sein Pferd mit der Peitsche an.

»Ich warte immer und denke, ob sie sich nicht doch noch besinnt«, sprach er grübelnd vor sich hin. »Des Nachts wollte ich aufstehen und hinausschauen, aber Mark, dieser Räuber, hielt mich wie mit eisernen Krallen fest, warf mich aufs Bett und befahl mir, liegenzubleiben. ›Sie kommt nicht wieder‹, sagte er, ›bleib ruhig liegen!‹ Ich fürchte mich vor diesem Mark.«

Er blickte fragend auf Raiskij.

»Was meinst du?« fuhr er dann flüsternd fort. »Du kennst die Weiber besser – wie wird sie sich entscheiden? Ist Hoffnung da ... oder ...?«

»Vielleicht – aber nicht jetzt«, sagte Raiskij. »Vielleicht später einmal.«

Koslow seufzte tief auf, streckte sich langsam auf dem Bett aus und legte die Hände unter seinen Kopf.

»Morgen hole ich dich zu uns ab«, sagte Raiskij zu ihm, »und nun leb mir wohl! Zur Nacht komme ich entweder selbst her, oder schicke dir jemanden, der bei dir bleibt.«

Leontij sah nichts und hörte nicht, was Raiskij sagte, er bemerkte auch nicht, wie dieser hinausging.

Raiskij kehrte nach Hause zurück, erstattete der Großtante Bericht über Leontij und sagte, es sei keine Gefahr vorhanden, doch sei er jetzt für keine Tröstung zugänglich. Sie beschlossen, für die Nacht Jakow hinzuschicken, und Tatjana Markowna meinte, er solle gleich ein vollständiges Abendbrot – Tee, Rum und Wein und was sonst dazu gehört – mitnehmen.

»Wozu denn das? Er ißt doch nichts, Tantchen«, sagte Raiskij.

»Und wenn ... jener da zu ihm kommt?«

»Wer denn?«

»Na, wer denn sonst als ... Markuschka! Der wird schon Hunger haben! Du sagtest doch, du hättest ihn dort getroffen.«

»Ach, Tantchen – ich fahre gleich hin und erzähle es Mark!«

»Gott bewahre!« rief sie, ihn zurückhaltend. »Willst du mich zum Gespött machen?«

»Im Gegenteil – es wird seinen Respekt vor Ihnen nur erhöhen. Er ist doch kein Nil Andrejitsch – er versteht Sie!«

»Ich brauche seinen Respekt nicht – satt essen aber soll er sich in Gottes Namen! An dem ist Hopfen und Malz verloren! Hat er nichts von den achtzig Rubeln gesagt?«

Raiskij winkte mit der Hand ab und begab sich in sein Zimmer, um die Journale, Zeitungen und Briefe durchzusehen, die er von Petersburg bekommen hatte, und vor allem den Brief Ajanows zu Ende zu lesen.


 << zurück weiter >>