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Zweiunddreißigstes Kapitel

Bei ihren Vorübungen zu der neuen Nummer behalfen sich die beiden Brüder mit einem in der Nachbarschaft angefertigten Sprungbrett aus Fichtenholz, dem primitiven Sprungbrett der gewöhnlichen Seiltänzer. Dann ließ Gianni, ohne seinem Bruder etwas davon zu sagen, unter seiner eigenen Aufsicht bei einem Spezialisten ein Sprungbrett aus Eschenholz von den Antillen anfertigen, einem Holze, das die Amerikaner sehr treffend Lanzenholz nennen. Es war ein leicht verändertes Sprungbrett, etwa in der Art des englischen Batoude, drei Meter lang, und an der Stelle, wo der Springer seinen Absprung nimmt, vierzig Zentimeter über dem Boden. Um ihm größere Schwungkraft zu geben, ließ Gianni es gerade soviel verdünnen, als es noch nachgeben und federn konnte, ohne zu brechen. Endlich hatte er, als es fertig war, die letzte Holzstütze durch eine mit einem Stück Teppich umwickelte Stahlstange ersetzt, die dem Absprung des Gymnastikers eine außerordentliche Schnellkraft verlieh.

Als das neue Sprungbrett nach den Ternes geschafft war, forderte Gianni seinen Bruder auf, es zu probieren. Beim ersten Sprung, den Nello noch ohne Vertrauen ausführte, gewann er einen halben Fuß mehr als sonst. Daraufhin wiederholte er den Sprung fünf- oder sechsmal hintereinander, ohne daß der Ältere ein Wort von dem sagte, was ihm am Herzen lag. Plötzlich rief Nello ihm mitten im Sprunge zu, jetzt sei er seiner Sache gewiß, und mit diesem Sprungbrett werde er ausführen, was Gianni verlangte. Ein paar Tage später war Nello bis zur Höhe von vierzehn Fuß gelangt. Es fehlten nur noch einige Zoll zum Gelingen. Die Produktion war dem Bereiche des Möglichen ganz nahegerückt.

Darauf begab sich Gianni zu dem leitenden Direktor mit der Mitteilung, daß er im Begriffe sei, einen ganz außergewöhnlichen, nagelneuen Coup zur Vollendung zu bringen, und bat ihn um einen Monat Urlaub, damit er sich der nötigen Durchführung der Sache widmen könnte.

Gianni stand in dem Rufe, ein erfinderischer Kopf zu sein. Seit geraumer Zeit befand sich der Zirkus in gespannter Neugier auf etwas, ja sogar etwas »ganz Besonderes«, das dem beständigen Nachsinnen des Clowns entspringen müßte, und der Direktor teilte das Vertrauen von Giannis Kollegen. So gewährte er ihm denn seinen Wunsch in sehr freundlicher Weise und sagte ihm, er möchte sich ja die nötige Zeit dazu nehmen.

*

Die Produktion erforderte zu ihrer vollständigen Ausgestaltung mehr Zeit, als Gianni anfangs geglaubt hatte. Die Brüder arbeiteten sechs Wochen hintereinander, in ihrem kleinen Übungsraum eingeschlossen. Wenn sie vor Erschöpfung umfielen, streckten sie sich in das Heu auf dem Fußboden, um dort eine Stunde zu schlafen und dann von neuem zu beginnen.

Der Sprung, der das erstemal durch einen Glücksfall gelang, mußte durch tägliche Anstrengung und Übung, die fast zur Gewohnheit wurde, zu einem sicheren, zuverlässigen, beständigen, nie versagenden Gelingen geführt werden. Dieses Andauern, diese Beständigkeit des Erfolges ist die unerläßliche Vorbedingung zur öffentlichen Vorführung einer Zirkusnummer und häufig der Grund ihres Scheiterns. Ferner wurde der Sprung, sobald Nello die erforderliche Höhe erreicht hatte, nicht mehr im freien, unbegrenzten Raum ausgeführt, sondern von Gianni durch zwei kreisförmig gespannte Bindfäden, welche den oberen und den unteren Rand eines Fasses darstellen sollten, auf einen engen Kreis beschränkt, was wiederum Arbeit erforderte. Endlich sprang Nello jetzt auf die Schultern seines Bruders, der auf einer halbrunden, sehr schmalen eisernen Stütze stand, und die außerordentliche Schwierigkeit für beide, sich aufrechtzuerhalten, der eine unter dem Anprall des Sprunges, der andere, der im Sprunge war und nur auf Muskeln, auf beweglichem Fleisch Fuß fassen sollte, erforderte viel Anstrengung, Versuche und Wiederversuche. Und als Nello alles beendet glaubte, wollte Gianni das Werk noch mit einem Wunder von Equilibristik krönen, einer Reihe von Kopfsprüngen, die beide zu gleicher Zeit ausführten, der eine oben auf dem anderen, und bei denen sie, auf unmöglichen Fußpunkten stehend, die außerordentlichste Gleichzeitigkeit und Übereinstimmung der Bewegungen mit der Genauigkeit und Geschicklichkeit des alten Auriol vereinen mußten, der aus dem Sprung in seine Pantoffel zurückfiel.

Es galt auch noch, eine kleine Szene zu erfinden, mit der sie, alter Gewohnheit getreu, ihre Gymnastik umkleiden wollten. Nello, zumeist der Poet der brüderlichen Produktionen, hatte einen liebenswürdigen Einfall gehabt, eine Umrahmung von heiterer Phantastik mit Musikeinlagen, in denen das Brausen des Sturmwindes und sanfte Naturklänge widerhallten. Doch im letzten Moment sagten sich die Brüder, daß unter dem Ausputz dieser Inszenierung das Gewagte ihrer Produktion verschwand, und einmütig entschlossen sie sich, diesmal Gymnastiker und weiter nichts zu sein. Wenn die Produktion erst einmal alt und abgenutzt war, konnten sie sie durch ihre kleinen poetischen Zutaten noch einmal auffrischen.

*

Eines Abends im Sommer kamen die Brüder aus ihrem kleinen Übungsplatz herausgestürzt, mit den Gebärden von Tollhäuslern und dem Ausdruck unsäglichen Glückes aus dem Antlitz, plötzlich blieben beide mitten aus dem Hofe stehen, kehrten sich einander zu, und aus beider Munde kam zu gleicher Zeit das Wort: »Fertig!« Dann eilten sie in ihre Zimmer und kleideten sich an, so hastig, daß die Knöpfe an ihren Hemden platzten und die Schnüre ihrer Stiefel zerrissen, mit jener Ungeschicklichkeit, die große Erregung dem Tastsinn und der Arbeit der Hände des ungeduldig sich Anziehenden verleiht. Beide trieb es von Hause fort mit einem unerklärlichen, hastigen Drange, hinauszukommen, sich zu bewegen, umherzulaufen. Und während sie sich ankleideten, rief bald der eine, bald der andere mit lachendem Augenblinzeln seinem Bruder halb singend zu: »Fertig!«

Unterwegs warfen sie sich in einen Wagen, der ihnen entgegenkam. Doch der Wagen fuhr ihnen nicht rasch genug – diese Fortbewegung, bei der sie sich nicht rühren konnten, behagte ihnen schlecht. Nach zehn Minuten bezahlten sie den Wagen und stiegen aus.

Sie gingen mit großen Schritten drauflos, mitten auf dem Fahrdamm, um freiere Bahn zu haben, und einer war über den anderen erstaunt, als sie sich zufällig anblickten und merkten, daß jeder den Hut in der Hand trug.

Sie speisten in der ersten Weinstube, die sie fanden, achteten nicht darauf, was sie aßen, und bestellten beim Kellner, als er sie fragte, was sie zu haben wünschten: »Geben Sie mir, was der Herr nebenan ißt.« An diesem Abend sprach Nello nicht mehr als sein Bruder.

Nach dem Essen setzten sie sich in ein Café nach dem anderen; doch es war ihnen entschieden unmöglich, zu sitzen.

Sie suchten nun Orte mit dichtem Gewühl aus, wo der Körper in steter Bewegung ist und wo es ihnen erlaubt war, ihr Fieber auszutoben. Sie besuchten Balllokale und Konzerte, wo sie im Strome der Menge unter greller Beleuchtung eine mechanische, immer wieder von neuem beginnende Promenade um ein Musikpodium machten, unaufhörlich im Kreise herum, ohne zu sehen und zu hören, was um sie her geschah, ein paar ausgegangene Zigarren im Munde, im Geiste fern von dem Orte der Gesellschaft und den Dingen, unter denen sie sich den ganzen Abend bewegten. Nur wandten sie sich von Zeit zu Zeit einander zu und blickten sie sich an, ohne das Wort auszusprechen, das auf ihren glückstrahlenden Gesichtern stand: »Fertig!«

*

Am nächsten Tage traten die Brüder ihren Dienst im Zirkus wieder an, wobei die innere Genugtuung, die Nello verspürte, ihn noch boshafter und necksüchtiger denn je gegen die Tompkins machte, während Gianni den Direktor beiseite nahm und ihn einlud, sich die Aufführung des neuesten Tricks, den er und sein Bruder erfunden, bei ihnen anzusehen. Der Direktor hatte bereits mit gewisser Ungeduld auf die Mitteilung von dem völligen Gelingen gewartet. Er antwortete Gianni, daß er am nächsten Tage um zehn Uhr morgens in den Ternes sein würde.

Am folgenden Morgen zur festgesetzten Stunde hatte der Direktor, die Hände in den Hosentaschen, sich vor dem Sprungbrett im Übungsraum aufgestellt. In dem Maße, wie die Arbeit der beiden fortschritt, nahmen seine Züge die Verschlossenheit und die unterdrückte Begeisterung an, die angesichts einer seltenen und eigenartigen Antiquität das kalte Gesicht eines Liebhabers zeigt, der den Preis fürchtet, den man ihm abfordern wird.

Die Brüder hatten ihre Produktion beendet und Gianni, etwas verblüfft durch das Schweigen ihres Zuschauers, fragte ihn: »Nun?«

»Sehr stark ... wirklich stark ... Ich hätte es lieber für die Wintersaison gehabt ... Aber wir können immer noch vor den Ferien, vor der Jagdsaison herauskommen ... Ja, ich glaube, das wird Erfolg haben ... Aber da muß nachgefeuert werden ... Das Außerordentliche der Leistung ist für die große Menge nicht packend genug ... Das macht nicht solchen Effekt wie etwas, das dicht unterm Dache gemacht wird ... Das gibt nicht so den leisen Schauder ...« Hier machte der Direktor die Bewegung eines, der die Ellenbogen an die beklemmte Brust drückt. »Die Gefahr, das Lebensgefährliche bei Ihrer Produktion ... das muß die Presse dem Publikum erst klarmachen und vorkauen ... Wir müssen die Presse stark in Aktion setzen, merken Sie sich das wohl ... Sie haben das bei Ihrem ersten Auftreten ein bißchen versäumt ... Kommen Sie übermorgen zu mir, damit wir über die Bestellung der Geräte und die Organisation der Reklame reden; ich werde mich von heute an damit befassen ... Jetzt aber ruhen Sie sich aus ... Sie sind beide von allem Dienst dispensiert ... Sie wissen, wenn die Produktion reüssiert, bin ich zu ein paar Änderungen in Ihrem Kontrakt gern erbötig ... Aber eins tut not, verstehen Sie wohl: wir müssen so schnell wie möglich damit herauskommen.«

Auf der Türschwelle konnte der Direktor, trotz aller Zurückhaltung, die er sich in seinen Lobsprüchen auferlegt hatte, nicht umhin, den Brüdern noch einmal zuzurufen: »Außerordentlich stark!«

*

Die folgenden Tage bis zur Aufführung brachten die Brüder in jenem holden, wirren Geistestaumel zu, in den unerwartete Glücksfälle, die Verwirklichung unverhoffter Dinge, und die Überraschungen des Schicksals die schwache Menschheit versetzen. Sie spürten im Kopfe eine Wärme, welche die glückselige Leere ihres Hirns durchglühte. Eine tiefe, unruhige Freude raubte ihnen den Appetit, ganz wie ein Kummer. Auf dem Straßenpflaster gingen sie mit dem gedämpften Gefühl, auf einem Teppich zu schreiten. Und jeden Morgen, wenn sie erwachten, richteten sie beim hellen Tageslicht, im ersten Zweifel des Erwachens, die Frage an ihr Glück: »Bist du auch Wirklichkeit? Bist du kein Traum?«

*

Schlosser und Schreiner hatten soeben die Anweisungen Giannis zur Herstellung des erforderlichen Apparates für die Aufführung der neuen Nummer im Zirkus entgegengenommen und das Bureau verlassen. An der Tür hatten sie nochmals versichert, daß alles in fünf Tagen fix und fertig sein würde.

»Nun, haben Sie die Theaternachrichten gelesen?« wandte sich der Direktor an die beiden Brüder, indem er mehrere auf seinem Schreibtisch verstreute Blätter zusammenlas, auf denen gewisse Stellen mit Rotstift umrändert waren. »Es fängt schon an, von Mund zu Mund zu gehen, wie man bei den Auktionen sagt, hören Sie mal, was die diversen Blätter sagen.«

»Man spricht von einer neuen Zirkusnummer, etwas ganz Außergewöhnlichem.« – »Man erzählt sich von einer neuen Produktion, welche die Fachleute für unmöglich erklären und die in den nächsten Tagen im Sommerzirkus zur Aufführung gelangen soll.« – »Wenn wir dem Glauben schenken dürfen, was in der Zirkuswelt vorbereitet wird, so wird Paris demnächst Zeuge einer neuen Zirkusproduktion sein, die würdig ist, den Leistungen eines Léotard zur Seite gestellt zu werden.« – »Ein Sprung unter Bedingungen und von einer Kühnheit, wie sie das Altertum nicht gewagt hätte.«

»Ihre Sache ist nicht übel angezeigt, nicht wahr? Die Neugier ist angeregt ... Nun muß man Bestimmteres verlauten lassen ... Es ist der gegebene Moment, dem Publikum etwas von Ihrer Biographie, wahr oder wahrscheinlich, mitzuteilen ... Sie werden mir ein paar Notizen geben ... Sehen Sie, auf den Reiz des Unbekannten muß man das Interesse für das Bekannte folgen lassen! Paris muß etwas von Ihrer Vergangenheit, Ihren Lebensgewohnheiten, Ihrer Erscheinung, der Geschichte Ihrer Produktion erfahren ... Sie müssen Leute sein, deren Photographie Paris kennt ... bestimmte Persönlichkeiten, denen es seine Sympathie widmen kann ... für die es sich im voraus begeistert ... Diesmal versteht es sich von selbst, daß Sie als Brüder auftreten und wir Sie als solche anzeigen. Wir setzen auf die Zettel ›Gebrüder Bescapé‹, nicht wahr?«

»Nein,« sagte Gianni.

»Wieso nein?«

»Nein,« wiederholte Gianni, »Bescapé ist unser Gauklername ... wir gehen heute zu einem anderen über, den wir uns selbst erwerben wollen.«

»Und dieser andere heißt?«

»Die Gebrüder Zemganno.«

»Zemganno ... Wahrhaftig, ein origineller Name ... Er hat so ein verteufeltes Z am Anfang, das klingt wie eine Fanfare ... Wie eine Zirkusouvertüre, wissen Sie, in der Glocken klingeln und Trommeln rasseln.«

»Es ist der Name, den wir drüben in England führten.«

»Ja, richtig, das hatte ich total vergessen.«

»Er hat drüben Erfolg gehabt,« fuhr Gianni fort, »und wir hatten ihn nur abgelegt bis auf den Tag, wo wir endlich ... denn ich liebe diesen Namen, ich weiß selbst nicht, warum ... oder doch, ich weiß es sehr gut!« – Und wie im Selbstgespräch fuhr Gianni halblaut fort: »Wir sind von Zigeunerherkunft ... und ich bin mir nicht sicher, ob ich diesen Namen erfunden habe ... Mir ist, als hätt' ich ihn in der Erinnerung, wie ein klangvolles Murmeln auf den Lippen meiner Mutter ... als ich noch ganz klein war.«

»Gut, also Zemganno,« sagte der Direktor. »Und wie lange brauchen Sie zum Einüben im Zirkus?«

»Drei, höchstens vier Tage ... um das neue Sprungbrett auszuprobieren.«

»Gut, mit den fünf Tagen, die der Schlosser und der Schreiner verlangen, können wir also in zehn Tagen herauskommen. Und nun zur Sache, wo sind Sie geboren und so weiter« – – – – – – – –

finis


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