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Siebentes Kapitel

Nellos akrobatische Ausbildung begann mit seinem fünften Lebensjahre, als er vier und ein halbes Jahr zählte. Zuerst waren es nur gymnastische Bewegungen, Armstrecken, Kniebeugen, ein Erwecken der Muskeln und Nerven seiner kindlichen Gliedmaßen, ein versuchsweises und schonendes Inzugbringen der Kräfte des kleinen Burschen. Fast gleichzeitig, noch ehe das Knochengerüst seinen festen Bau erlangt hatte, ehe die Knochen die Biegsamkeit der ersten Jahre verloren, wurden Nellos Beine Spreizungen unterworfen, die jeden Tag etwas größer wurden, so daß der Knabe nach einigen Monaten imstande war, die volle Spreizung auszuführen. Ebenso wurde der kleine Akrobat daran gewöhnt, einen Fuß in die Hand zu nehmen und bis in Kopfhöhe zu heben, und etwas später auch, in dieser Stellung auf einem Beine sich hinzusetzen und wieder auszustehen. Endlich leitete Gianni, vor ihm stehend und die eine Hand behutsam auf den Leib des Knaben legend, ihn ganz allmählich an, Kopf und Oberkörper rückwärts zu beugen, stets bereit, ihn, wenn er hintenüber fiel, aufzufangen. Und als Nellos Kreuz genug Schmeidigkeit in diesem Zurückbiegen erlangt hatte, stellte man ihn zwei Fuß vor einer Wand auf, gegen die er sich mit den beiden Handflächen lehnte, während er den (Oberkörper zurückbiegen mußte, jeden Morgen ein wenig tiefer, bis er schließlich vollständig umgebogen mit den Handflächen seine Hacken berührte. So wurde allmählich und nach und nach, ohne Hast und Druck, durch Bonbons und Lobsprüche, durch Schmeicheleien, die sich an die Eitelkeit des kleinen Gymnastikers richteten, die völlige Gelenkigkeit des Kindeskörpers erzielt. Auch ließ man ihn, stets in der Nähe einer Wand, die dem Anfänger zur Beruhigung diente, wie die vorgestreckten Arme der Mutter beim ersten Gehversuch, auf den Händen laufen, um seine Handgelenke zu kräftigen und seine Wirbelsäule ans Finden und Bewahren des Gleichgewichtes zu gewöhnen.

Mit sieben Jahren war Nello schon sehr tüchtig im Karpfensprunge, einem Sprunge, wobei der Schüler, auf dem Rücken ausgestreckt, ohne Zuhilfenahme der Hände, bloß durch einen Schwung des Rückgrats emporschnellt und auf den Füßen steht.

Dann folgte das Einüben der Sprünge, bei denen die Hände auf den Boden aufgesetzt werden: der Kopfsprung, wobei der Knabe, sich überschlagend, die Hände vor sich auf den Boden setzt und sich langsam wieder auf den Beinen emporrichtet, die den Händen gefolgt sind; der Affensprung, wobei der Knabe, sich rückwärts überschlagend, seine Hände hinter sich aufsetzt und dieselbe Übung nach der entgegengesetzten Seite macht; der Arabersprung, wobei sie nach seitwärts gemacht wird, ähnlich wie beim Radschlagen.

Bei all diesen Übungen hatte Nello stets die schützenden Arme seines Bruders um seine Glieder, stets den Griff seiner Hand, die ihn hielt, stützte und ihn beim Zögern, beim Schwanken des Körpers eine Nachhilfe gab. Später, als Nello in seinen Übungen sicherer zu werden begann, hielt Gianni ihn mit einer Leine, die an seinem Gürtel befestigt war, und ließ diesen Strick in dem Maße nach, als sich die Arbeit des kleinen Bruders dem völligen Gelingen näherte.

Endlich sollte Nello auch den Salto mortale nach vorwärts lernen. Er übte ihn anfangs von einer kleinen Erhöhung herab, die aber allmählich verringert wurde, bis er ihm schließlich zu ebener Erde gelang.

Übrigens war ja der Sohn der Zigeunerin kein »steifer Geselle«; er hatte von seinem Vater und gleich seinem Bruder eine eigenartige Anlage zum Sprunge, zum gewöhnlichen wie zum Sprunge ohne Anlauf oder mit geschlossenen Füßen, so daß er im siebenten oder achten Jahre eine Höhe erreichte, die seine älteren Kameraden ihm nicht nachmachen konnten. Und der alte Bescapé sagte vom Gipfel seines vielseitigen Zufallswissens, als er Nello so springen sah, eines Tages zu Stepanida:

»Frau, sieh mal da,« und er zeigte ihr die Füße seines Sohnes und die Länge der Fersenbeine; »jawohl, damit wird er mal eines Tages springen wie ein Affe, der Junge!«

*

Eines Morgens beim Erwachen sah Nello auf einem Stuhl ausgebreitet eine Bescherung heiß ersehnter, unverhoffter Dinge, die ihm die trügerische Nacht seit Monaten im Traume zeigte. Er rieb sich einen Augenblick die Augen, ungewiß, ob er wach sei; dann sprang er plötzlich von seiner Matratze herab und begann mit vor Glück bebenden Fingern sich von der Wirklichkeit dieser Dinge zu überzeugen, die so glänzende Farben hatten und an denen unter seiner zitternden Berührung der Goldflitter bebte. Da war ein Trikot nach dem Maß seines kleinen Körpers, eine himmelblaue Pumphose, mit Silbersternen besät, ein paar winzige, pelzverbrämte Halbstiefelchen. Der Knabe betastete und wendete alles um, das Trikot, die Hose, die Stiefelchen, und drückte eins nach dem anderen an die Brust, plötzlich nahm er sein reizendes Kostüm unter die Arme und eilte mit einem Freudenschrei zu seiner Mutter, um sie zu wecken, damit sie ihm die schönen Sachen anlegte. Stepanida, halb im Bette und halb außerhalb des Bettes, kleidete ihn langsam an, oft innehaltend, mit den zufriedenen Blicken einer Mutter, die ihrem Liebling ein neues Kleid anzieht und in diesem neuen Kleide ein neues Wesen findet, das sie noch mehr lieben muß. Als er kostümiert war, gab er die reizendste Miniatur eines Jahrmarktsathleten ab, die sich denken läßt. Dann machte sich die »Kopfnuß« das Vergnügen, seine blonden Haare, die sich zu bräunen begannen, mit einer Brennschere über der Stirn zu zwei Hörnchen zu kräuseln, die dem kleinen Schelm das Aussehen eines Teufelchens gaben. So ausstaffiert, stand der kleine Akrobat in seinem Trikot, das eine Spur zu weit war und an den Seiten sowie in den Kniekehlen Falten schlug, unbeweglich da, die Augen bewundernd auf seine kokette Erscheinung gesenkt, glückselig bis zu Tränen, und ängstlich besorgt, sein neues Kostüm durch eine Bewegung zu verderben.

*

Die ersten Male, wo der kleine Seiltänzer an den Produktionen der Truppe teilnahm, mit seinem Trikot, seinen Hosen und Halbstiefeln angetan, war es wahrhaft drollig anzusehen, wie der Junge in den Zirkus hineingeschlüpft kam, plötzlich wie angewurzelt stehenblieb, von einer jähen Anwandlung von Angst befallen, einer kindlichen, fast komischen Angst des Anfängers vor all den auf ihn gerichteten Blicken. Dann zog er sich in der Richtung auf Gianni zurück und flüchtete sich voller Verwirrung ganz und gar hinter ihn, während ein leises Beben ihm über die Schultern lief und er sich, um doch etwas zu tun, mit der erhobenen Rechten im Nacken kratzte. Dann kreuzte der Knabe mit den langen Locken und den schlanken Gliedern unwillkürlich die Arme, als ob die Stellungen der antiken Statuen aus der Gymnastik hervorgegangen wären, stellte ein Bein vor das andere, das mit angehobenem Hacken auf der Zehe ruhte, und erschien so in seiner Unbeweglichkeit wie eine Statuette der Ruhe in einem Museum.

Doch diese Ruhe währte bei Nello nicht lange. Bald nahm er an den Kunststücken der anderen teil und kam jeden Augenblick an die Barriere, um sich die Hände an dem Taschentuch, das daran hing, abzutrocknen, als ob er ernstlich mitgewirkt hätte. Er versuchte, sich mit den Händen an einen Pfosten des Trapezes klammernd, den Körper wagerecht in die Luft zu strecken, Der Turner nennt diese Übung bekanntlich »die Fahne machen«. D. Übers. purzelte aber fast sofort in den Sandhaufen am Fuße des Mastes und verschwand halb darin; er lief auf den Händen, vollführte der Reihe nach seine gewohnten, eingelernten Sprünge und Rückwärtsbeugungen, bei denen der Körper sich langsam und beschwerlich aus dem durchgebrochenen Kreuz wieder aufzurichten scheint. Diese kleinen Extrabeigaben zur Vorstellung, die oft mißglückten, führte Nello immer wieder von neuem aus, mit einem Ungestüm, einer Munterkeit und einem Schwung, worin die Spiellust eines Kindes lag. Seine Augen blitzten feucht vor Erregung und seine Ärmchen bogen sich zu einem graziösen Dankesgruß an die klatschenden Zuschauer. Das alles war in seiner Weise vollkommen, und über seine anmutige Gestalt war etwas Bestimmtes, Entschlossenes, Kühnes, fast heroisches ausgegossen. Kaum aber hatte er seine Rolle beendet, so eilte er, was ihn die Beine tragen wollten, zu Gianni, der ihm zur Belohnung mit den Fingern zärtlich in dem Lockenkopf wühlte. Manchmal hob er ihn auch, den Kopf nach unten, auf seiner flachen Hand in die Höhe und hielt den kleinen, nachgiebigen Körper mit seiner noch weichen Wirbelsäule so eine Sekunde im Gleichgewicht.

finis


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