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Einundzwanzigstes Kapitel

Das erste Auftreten des Brüderpaares ohne Anzeige, ohne Reklame, ohne das gewöhnliche und außergewöhnliche Tamtam der Presse, ohne etwas von dem, was die Neugier der Pariser für ein neues Talent, das öffentlich auftritt, anstachelt, – blieb unbeachtet. Sie fielen anfangs unter den Clowns des Zirkus nicht einmal auf. Mit der Zeit jedoch lenkte sich die Aufmerksamkeit auf sie, dank der Geschicklichkeit, die sie bei ihren Produktionen zeigten, dank der Vornehmheit, der Grazie und dem Reiz, den auch die kleinsten Darbietungen Nellos besaßen, dank der Feinheit und dem Überraschenden seiner Komik, endlich dank der Originalität, welche die Brüder in dies Genre einführten, ohne daß man sich ihrer recht bewußt wurde, ja, ohne daß die Pariser ihre Namen behielten. Man sagte von Gianni und Nello: »Sie wissen, die beiden ... mit dem italienischen Namen.« Sie erfreuten sich einer Art anonymer Berühmtheit – weiter nichts. Trotzdem waren sie die Verfasser und Darsteller kleiner gymnastischer Dichtungen von ganz neuer Erfindung. Nachstehend das Libretto eines dieser kleinen Phantasiestücke, dessen Erinnerung der Zirkus bewahrt hat.

*

In dem Dunkel, welches das niedergedrehte Gas in dem Zirkus verbreitet, lag Gianni schlafend auf dem Boden, als aus einer bläulichen Dunstwolke Nello hervorschoß in Gestalt eines bösen Kobolds, eines neckischen Poltergeistes der Gebirge und Seen. Er war in die Farben des Rauches und des Dunkels gekleidet, in den düsteren Glanz der Metalle im Erdschoße, den dunkeln Schmelz der auf dem Meeresgrunde ruhenden Muscheln und der Nachtschmetterlinge, die unter ungestirntem Himmel einherschwirren.

Der Kobold nahte dem Schläfer geräuschlos, mit raschen, schwebenden Schritten und begann gleichsam um ihn her, über ihn hin zu flattern. Seine dunkle, huschende Schattengestalt wogte und wirbelte um ihn her, streifte ihn und senkte sich auf ihn nieder wie ein böser Traum, der aus der Ebenholzpforte des menschlichen Schlummers hervorgeht. Gianni bewegte sich, wurde unruhig, warf sich hin und her unter dem Alp; doch der Kobold fuhr fort, ihn zu quälen, hauchte ihm seinen Atem ins Gesicht, streifte ihm mit den kleinen, schwarzen Kreppflügeln, die er an Ellenbogen und Fersen trug, übers Gesicht, hockte einen Augenblick in phantastischer Stellung auf seiner Magengrube, die leichte Last seines Körpers auf die Hände gestützt, – das leibhaftige Bild des Alpdrückens.

Gianni erwachte und ließ seine Blicke umherschweifen; doch schon war der Kobold hinter dem Baumstamm verschwunden, an dem des Schläfers Kopf lehnte.

Gianni schlief wieder ein – und sofort war der Kobold wieder da. Fratzenschneidend schwang er sich mit einem Satze auf den Baum, ergriff einen Fidelbogen und eine Geige, die an seinem Kostüm hingen, und entlockte ihnen von Zeit zu Zeit ein paar mißtönende Laute, während er sich auf das Gesicht des Schläfers herabbeugte und dessen Zuckungen mit unsäglicher Befriedigung und einem boshaften Geisterlachen beobachtete. Dann plötzlich stimmte er eine Katzenmusik an, einen Hexensabbat, wie wenn zwanzig Kater in heller, frostiger Mitternacht auf dem Rande eines bodenlosen Fasses um eine Katze miauen und schreien.

Doch schon war Gianni zur Verfolgung des Violinspielers aufgesprungen, und nun begann durch die ganze Arena eine famose Jagd, wobei der behende, boshafte Kobold der Hand Giannis, die nach ihm griff, stets entrann. Bald sprang er nach hinten über seinen Kopf weg, bald warf er sich flach auf den Boden und glitt ihm zwischen den Beinen durch, kurz, er übte alle möglichen Künste und Kniffe der Flucht. Wenn Gianni glaubte, er würde ihn sicher ergreifen, so verschwand der Kobold radschlagend in einer Weise, daß man eine Minute lang nur seine weißen Sohlen herumkreisen sah und schließlich geblendet die Augen abwandte. Und wenn Gianni und das Publikum suchten, wo er steckte, saß er seelenruhig in den obersten Sitzreihen, wohin er quer durch die Zuschauer mit unglaublicher Gelenkigkeit geklettert war, saß dort in spöttischer Unbeweglichkeit.

Gianni machte sich aufs neue an die Verfolgung. Nun begann in der Luft die gleiche Jagd wie auf ebener Erde. Eine Reihe von Trapezen, die mit lose herabhängenden Stricken an Drehbalken befestigt waren und von einem Ende des Zirkus zum anderen schwangen, waren in Bewegung gesetzt. Der Kobold ließ das erste Trapez los und schwang sich in die Luft hinaus, wo sein dunkler Körper sich langsam, träg und zufrieden entfaltete, während das Licht der Kronleuchter, unter denen er herflog, einen Augenblick schwefelgelbe oder purpurrote Farben darüber hinwarf. Als seine Luftproduktion beendet war, ergriff er das zweite Trapez mit der hübschen Bewegung des fliegenden Aufschwungs. Gianni setzte ihm nach. Der Kobold schwang sich mehrere Male durch den ganzen Zirkus, hielt, als er einen kurzen Vorsprung gewonnen hatte, einen Augenblick inne und entlockte, auf einem Trapez sitzend, seiner Violine ein höhnisches Greinen. Endlich erfaßte ihn Gianni; beide ließen das Trapez los und flogen einander umschlingend mit einem Tiefsprung hinab, – etwas, das man bisher noch nicht gewagt hatte.

Auf dem Boden der Arena entspann sich ein Ringkampf zwischen Gianni und dem Kobold, bei dem aber die scheinbaren Kraftanstrengungen, den Umschlingungen des anderen zu entgehen, oder sich gegenseitig zu werfen, nur eine Entfaltung von Grazie waren, ein Kampf, bei welchem der Kobold in dem eleganten, wellenförmigen Spiel seiner Muskeln das zur Schau trug, was die Maler in ihren Bildern zu bannen suchen, wenn sie den leibhaftigen Kampf überirdischer Wesen mit Menschen darstellen.

Der Kobold wurde schließlich zu Boden geworfen und blieb dort verwundert liegen, in der demütigen Stellung eines Besiegten, der zum Sklaven des Siegers wird. Nun griff Gianni seinerseits zur Geige und entlockte ihr sanfte und liebliche Zauberklänge, aus denen die Güte eines Menschenherzens zur Stunde der Milde und Vergebung tönte. Und wie er so spielte, richtete sich der Kobold allmählich empor und näherte sich der Musik mit einem Entzücken, das alle seine Glieder ersichtlich durchdrang.

Plötzlich sprang der Kobold auf, und wie unter der Macht einer Beschwörung, die den höllischen Geist mit Gewalt aus einem Besessenen austreibt, sah man seinen Körper, ohne daß diese Szene etwas Häßliches oder Abstoßendes gehabt hätte, sich winden, krümmen und drehen. Er schwoll auf und zog sich schreckhaft zusammen in einer für den menschlichen Gliederbau schier unmöglichen Weise. Sein liegender Körper zeigte eine Höhlung des Kreuzes, ein Hervorspringen der Schulterblätter von seltsamer Art; die Wirbelsäule, wie vom Rücken nach der Brust vorgeschoben, wölbte sich zu einem Fischreiherkropf aus einer unbekannten Welt, und durch die Glieder des Kobolds liefen jene plötzlichen Muskelwellen, wie unter der glatten Haut einer sich ringelnden Schlange. Dieses Flattern ohne Flügel, dieses Kriechende, Larvenhafte der verzauberten Tiere aus alten Lagen war für jedermann einleuchtend: das böse Prinzip entfloh aus dem Körper des Kobolds, der schließlich durch eine rasche Folge plastischer Stellungen die Erlösung und Befreiung seines anmutigen Körpers, die Harmonie und die Herrlichkeit schöner, menschlicher Bewegungen und Gesten, die Schönheit antiker Statuen wiedergab.

Und in dem Augenblick, wo das wieder ausleuchtende Gas dem Publikum bedeutete, daß diese düsteren Visionen und Träume der Nacht vorüber wären, daß es wieder Tag geworden sei, ergriff der Kobold seine Violine, deren schrilles Zaubergetön verstummt war, und spielte mit Gianni zusammen ein Stück, das wie die murmelnde Symphonie eines frischen Sommermorgens, wie das klingende Rauschen von Duellen unter alten Baumwurzeln, wie das leise Plaudern der taufrischen Blümlein klang, denen ein Sonnenstrahl den Tau von den feuchten Lippen küßt.

finis


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