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Achtes Kapitel

Die Jahre vergingen, und immer noch zog die Gesellschaft in Frankreich herum, die bewohnten Ortschaften nur betretend, um Vorstellungen zu geben, und gleich darauf wieder zum Lagern unter freiem Himmel neben ihren Wagen zurückkehrend.

Einmal waren sie in Flandern, am Fuße eines jener schwarzen Hügel von Schlacke und Steinkohlenasche, in einer jener flachen Landschaften mit schläfrigen Flüssen und hohen, qualmenden Ziegelsteinschloten, die rings die Aussicht durchbrachen. Ein anderes Mal lagerten sie im Elsaß unter den Trümmern eines alten Schlosses, das die Natur sich wiedererobert hatte und dessen Mauern nun aus Efeu, wilden Levkoyen und Blumen, die nur auf Ruinen wachsen, bestanden. Oder sie waren in der Normandie, diesem großen Obstgarten von Apfelbäumen, in der Nähe eines Pachthofes mit bemoostem Dach, am Ufer eines Baches, der durch das hohe Gras einer Wiese plätscherte. Dann wieder in der Bretagne, am kiesreichen Strande, zwischen grauen Felsen, das endlos düstere Meer vor sich. Oder in Lothringen an einem Waldsaum, auf einem alten Kohlenmeiler, umtönt vom Schall der Äxte in fernen Holzschlägen, und dicht bei einer Bergschlucht, aus der in der Weihnachtsnacht das wütende Heer hervorbraust, geführt von dem wilden Jäger in feurigem Wams. Bald lagerten sie in der Touraine, auf einem Uferdamm der Loire, am Hang eines Hügels, an dem sich heitere Häuschen emporstuften, umgeben von umfriedeten Wein- und Obstgärten, an deren Spalieren die herrlichsten Früchte der Welt reiften. Bald lagerten sie im Dauphiné in der Tiefe eines Tannenwaldes an einer Sägemühle, die halb verschwand unter dem Schaum des Wassersturzes und der hellen, kleinen Kaskaden, welche die Forellen hinausschwammen. Einen Tag waren sie in der Auvergne, über Schluchten und Abgründen, unter entwipfelten Bäumen, im Heulen des Nordwindes und dem Kreischen der Geier. Einen anderen Tag in der Provence, am Fuße einer Mauer, die von einem mächtig emporwachsenden Meanderstamm zersprengt und vom Schlüpfen der Eidechsen durchfurcht war, das gestirnte Dunkel eines großen Weinberges über sich und am Horizont auf rötlichem Bergrücken eine schimmernde Marmorvilla.

Ein anderes Mal traf man die Truppe in einem Hohlwege des Bern, wieder ein anderes Mal am Fuße eines Kalvarienberges im Anjou; bald las sie die Früchte eines Kastanienwaldes im Limousin auf oder jagte die Ringelnattern einer Heide in der Gascogne; bald lenkte sie ihre Gefährte auf einem bergigen Wege der Franche-Comté oder längs eines Gießbaches der Pyrenäen; bald, zur Zeit der Weinlese, wanderte sie zwischen den weißen, rebengeschmückten Rindern des Languedoc.

In diesem ewigen Wanderleben zu jeder Jahreszeit, in all diesen mannigfachen Gegenden war es dem umherziehenden Völkchen vergönnt, stets unter dem reinen Himmelslicht zu leben, stets in freier Luft zu atmen, in einer Luft, die über Heu und Heidekraut hinstrich – morgens und abends die Augen an dem Schauspiel einer neuen Morgenröte, eines neuen Sonnenunterganges zu berauschen – sich das Ohr zu erfüllen mit den unbestimmten Lauten der Natur, mit dem harmonischen Rauschen der Waldeswipfel, dem melodischen Säuseln des Windes im wogenden Schilf – sich mit wilder Freude dem Sturm, dem Orkan, dem Gewitter, dem Kämpfen und Toben der Elemente hinzugeben – unter Hecken zu schmausen – aus der Frische der Quellen zu trinken – im hohen Grase zu ruhen, den Vogelgesang sich zu Häupten – das Gesicht in dem Blütenflor und den balsamischen Düften der wilden Pflanzen zu baden, wenn die Mittagssonne darüber glüht – sich zu vergnügen mit dem Haschen eines Tieres in Wiese und Wald, das man eine kurze Weile in der geschlossenen Hand gefangenhält – zu liegen und, wie Chateaubriand sagt, die blaue Ferne anzugaffen – in der Glut der Sommersonne über einen Hasen zu lachen, der in einer Ackerfurche Männchen macht – mit der Schwermut des herbstlichen Waldes Zwiesprache zu halten, wenn der Fuß durch welke Blätter raschelt – das holde Hindämmern des träumerischen Alleinseins zu genießen, jenen dumpfen, verhaltenen Rausch des ursprünglichen Menschen, der sich noch in liebender Einigkeit mit der Natur fühlt – kurz, mit allen Sinnen, allen Poren das zu empfinden, was Litz das »Gefühl des Zigeuners« nennt.

*

An manchen Tagen nahm Stepanida ihren Sohn, so groß er war, plötzlich auf ihren Arm, drückte ihn an die Brust und eilte mit ihm wie ein Tier, das sein Junges davonträgt, in die Einsamkeit, verbarg sich mit ihm im Dickicht, und wenn sie sich rings von einem Gitter von Zweigen, einer Mauer von Blättern umgeben sah, so legte sie ihn keuchend und atemlos auf das Gras nieder. Dann kniete sie in dem natürlichen Versteck, fern von allen, neben dem Knaben hin, indes ihre Seiten noch flogen, und küßte ihn heiß, die Hände auf den Boden gestützt, in dem liebevollen Niederkauern eines Muttertieres, und mit einem seltsamen, den Knaben beunruhigenden Blick, den dieser zu enträtseln suchte und doch nicht verstand. Dann ertönte es leise wie eine murmelnde Litanei aus dem Munde der Mutter, die über ihren Jüngsten gebeugt war:

Armes angebetetes Kind!
Armer kleiner Liebling!
Armes kleines Herz!

Und in dem Frieden und der murmelnden Stille des Waldes klangen die zärtlichen Namen noch lange fort in einer Art von schwermütigem Sprechgesang, in dem ein gebrochenes Herz zu klagen schien. Und unaufhörlich kehrte das Wort »arm« wieder, dieses Wort, das die Mütter und Liebenden des Zigeunerelends, stets besorgt um die Zukunft der geliebten Wesen, den Kosenamen beständig hinzufügen.

finis


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