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Sechstes Kapitel

Die letzte Vorstellung war beendet, der Mast des Zeltes niedergelegt und die drei Stücke, aus denen es bestand, die Leinewand, Stricke und alles Zubehör schleunigst in die riesige Plandecke verpackt; und von dem alten Schimmel gezogen, verließ die Maringotte Die »Maringotte« war ursprünglich das Fuhrwerk der fremden Kaufleute, die in der Provinz umherzogen; erst seit etwa vierzig Jahren ist diese Benennung auch auf die Wagen der Zirkusleute ausgedehnt worden. Man nennt sie auch noch: »Die Karawane«, das »Zuhause«. die Mauern der Stadt.

Die Maringotte ist ein wanderndes Haus, das von morgens bis abends mit seinen Insassen auf Wegen und Straßen umherfährt, auf dessen Wagendach offene Körbe mit zerzaustem Stroh stehen und auf dessen Rädern Strümpfe trocknen, wenn es um elf Uhr am Rande einer Quelle halt macht; ein Haus, das abends ausgespannt wird und das Licht seiner kleinen Fenster in das tiefe Dunkel einsamer, unbewohnter Gegenden hinaussendet, das wandernde Bretterhaus, in dem der Artist zur Welt kommt, lebt und stirbt, in das erst die Hebamme und dann der Totengräber kommt, und an dem seine Bewohner mit gleicher Liebe hängen, wie der Seemann an seinem Schiff.

Und die Leute aus der Maringotte wollten um keinen Preis wo anders Hausen; sie wußten nur zu wohl, daß sie nur in ihr das sanfte Schaukeln im träumerischen Nachmittagsschlummer fanden und das verwunderte Erwachen an Orten, die man im Dämmerschein des vorigen Tages zum ersten Male erschaut hatte. Ja, wenn die Sonne brannte, genügte da der Wagen und der Rand der Wiesen und Wälder nicht? Und wenn es regnete, war da nicht unter dem Vordach, auf der anderen Seite vom Hemmschuh, ein kleiner Kochofen, und ließ sich die Kammer der »Kopfnuß« nicht zu einem Eßzimmer für alle umwandeln? Denn der Wagen enthielt zwei bis drei Stuben im Umfang und in der Höhe von Schiffskabinen. Zunächst kam hinter dem kleinen äußeren Vorraum ein erstes Zimmer mit einem großen, feststehenden Tisch in der Mitte, der abends mit einer Matratze bedeckt ward und der Seiltänzerin zum Lager diente. Die Tür in der Rückwand führte zur zweiten Stube, der Behausung des Direktors, der hier mit seiner ganzen Familie schlief, ausgenommen Gianni, der mit den Männern der Truppe in dem grünen Karren wohnte. Der Direktor hatte aus seiner Stube zwei gemacht, indem er Wandschirme aufstellte, die, am Tage zusammengelegt, des Nachts einen geschlossenen Alkoven um das Ehebett bildeten, ein Mahagonibett mit drei Matratzen.

Mit seinen alljährlich neu gestrichenen Holzwänden, den weißen Gardinen seiner Fensterchen, den auf die Wandschirme aufgeklebten Bilderbogen, die in der naiven Plumpheit ihrer Zeichnungen alte Legenden darstellten, und dem Korbe Nellos in einer Ecke, lachte dies enge und niedrige Stübchen wie ein Schmuckkästchen, erfüllt von dem wohlriechenden Dufte des Thymians, den Steucha zur Zeit seiner Blüte gepflückt und in die Matratzen gestopft hatte.

Über dem gutbürgerlichen Mahagonibett hing an einem Nagel ein funkelnder Kleiderfetzen: der Mädchenrock der Zigeunerin aus der Zeit, wo sie in der Krim getanzt hatte, ein Rock mit aufgenähten blutigen Herzen aus rotem Tuche.

*

Stepanida Rudak war für ihren ältesten Sohn eine Mutter gewesen, aber eine Mutter ohne Zärtlichkeit, ohne Herzensglut, ohne Rührung und Glück, wenn er bei ihr war, eine Mutter, deren Sorgfalt die Erfüllung einer Pflicht schien, mehr nicht. Gianni hatte es zu büßen, daß er in der ersten Zeit einer Ehe empfangen war, in welcher das Denken der jungen Frau noch ganz einem Jüngling ihres Stammes gehörte, und auf die Lippen der Gattin des alten Tomaso Bescapé trat noch oft dieses Lied ihrer Heimat:

»Alter Gatte, grausamer Gatte,
Erwürge mich! verbrenne mich!
Ich hasse dich! Ich verachte dich!
Einen andren lieb' ich
Und sterbe an seiner Liebe!«

All die heftige und wilde Mutterliebe, die im Leibe der Zigeunerin wohnte und die sich bisher nicht ausgelebt hatte, warf sich dann auf Nello, der zwölf Jahre nach seinem Bruder zur Welt gekommen war. Sie küßte und liebkoste ihn nicht, sondern preßte ihn mit wilden Umschlingungen an ihre Brust, als wollte sie ihn ersticken. Gianni, der unter einem kühlen Äußeren ein liebedurstiges Gemüt verbarg, litt unter dieser ungleichen Verteilung der mütterlichen Zuneigung; doch ohne daß Nellos Bevorzugung das Gefühl der Eisersucht gegen sein Brüderchen in ihm erweckt hätte. Gianni fand diese Bevorzugung ganz natürlich. Er wußte selbst, daß er nicht schön war, und er neigte zur Schwermut. Er war einsilbig. Seine Jugend verbreitete keinen Frohsinn um sich; er besaß nichts, was dem Stolz seiner Mutter schmeicheln konnte. Selbst die Kundgebungen seiner Kindesliebe waren ungeschickt. Sein jüngerer Bruder dagegen besaß Schönheit in seinem kindlichen Wesen und Anmut in seinen Zärtlichkeiten, und das machte ihn zu einem Sonntagskind, das andere Mütter mit Neid anblickten und die vorübergehenden auf den Straßen zu liebkosen begehrten. Nellos Gesichtchen war wie ein Morgenstrahl. Und nie fehlte es bei ihm an Drolligkeiten, kleinen Bubenstreichen und komischen Reden, an Fragen, die zum Lachen reizten, an bezaubernden Einfällen und reizenden, kindlichen Zügen, an Mutwillen, Lärm und Bewegung. Kurz, er war eines jener bestechenden Kinder, die zur Freude der Lebenden auf die Welt gekommen scheinen? und das Lächeln seines Rosenmundes, der Blick seiner schwarzen Augen setzten die Truppe so manches Mal über die kargen Einnahmen und die mageren Mahlzeiten hinweg.

Das von allen verzogene Kind war am liebsten bei dem, der es bisweilen ausschalt; und so lärmend und schwatzsüchtig Nello war, so sah man ihn doch oft geraume Zeit ganz artig neben dem einsilbigen Gianni sitzen, als ob er dessen Schweigsamkeit liebte.

finis


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