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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Die beiden Söhne Tomaso Bescapés und Stepanida Rudaks waren Franzosen durch und durch. Sie hatten ihr Temperament, ihre Gewohnheiten, sogar ihren Patriotismus. Von ihrer fremdländischen Abkunft, ihren Vorfahren vom Zigeunerstamm, hatten sie nur eine bemerkenswerte Eigentümlichkeit geerbt. Bei den zivilisierten Völkern findet sich das poetische Träumen, diese Gabe eines liebevollen, zarten Idealismus, dieser Fruchtboden, der in der Gehirnflüssigkeit der Literaturen ausgestreut schwimmt, nur in den oberen Kreisen und ist, von sehr seltenen Ausnahmen abgesehen, das Los und das Vorrecht der höheren und gebildeten Klassen. Die beiden Brüder jedoch, so ungebildet sie waren, besaßen das Vermächtnis jener träumerischen, beschaulichen, ich möchte sagen literarischen Natur der unteren Klassen solcher Völker, die noch wild und unkultiviert inmitten des an Schulen so reichen Europas fortleben, und oftmals erhoben sich die Seelen dieser beiden Kinder aus dem Volke zu jenen lyrischen Andachten, aus denen auch der elendeste und unwissendste Zigeuner die Variationen bildet, die seine Geige den Baumwipfeln, den Sternen der Nacht, dem silbernen Morgen und dem goldenen Mittag vorspielt.

Beide waren gleich empfänglich für die magnetische Sprache, in der die Natur bei Tag und Nacht mit den seiner Organisierten, den erwählten Geistern, stumme Zwiesprache hält. Trotzdem waren sie ganz voneinander verschieden.

Der Ältere hatte einen Hang zum Nachdenken, eine Neigung zum Sinnen, die bei seinem durch eine merkwürdige Regsamkeit überreizten Wesen ganz aus seinen Beruf, aus körperliche Kraft und Gewandtheit gerichtet war. Er erfand sich abstrakte gymnastische Produktionen, die fast stets unausführbar waren, erdachte sich Clownszenen, die sich nicht ins praktische übersetzen ließen, ersann eine Art von Wundern, die er von den Nerven und Muskeln des Körpers verlangte. Übrigens räumte Gianni selbst in der praktischen Ausführung seiner Produktionen der Reflektion und Gehirnarbeit einen großen Anteil ein, und sein Lieblingsgrundsatz war der: um eine Übung herauszukriegen, sei eine Viertelstunde Arbeit und drei Viertelstunden Nachdenken nötig.

Der Jüngere war in glücklicher Unwissenheit verblieben, wie ja auch seine Erziehung nur in den schwatzenden und stückweisen Erzählungen des Vaters bestanden hatte, wenn man im Schritt bergauf fuhr. Überdies war er trägeren Geistes als Gianni und liebte es mehr, sich ins Blaue zu verlieren, kurz, er war mehr Zigeuner vom Wald und von der Heide, darum mehr Poet. Er lebte in einer Art glücklicher, lachender, gleichsam sinnlicher Träumerei, aus der plötzlich spöttische Einfälle, Raketen melancholischer Fröhlichkeit und tolle Exzentrizitäten hervorschossen. Und dank dieser Eigenschaften war Nello naturgemäß der Arrangeur und Erfinder von hübschen Einzelheiten, der Ausschmücker und Verschönerer alles dessen, was sein Bruder an Ausführbarem erfand.

*

Zwischen den Brüdern und den Gymnastikern und Kunstreitern des Zirkus hatten sich rasch freundschaftliche Beziehungen, eine warme und gute Kameradschaft angebahnt. In diesem Berufe unterdrückt die Gefährlichkeit der Leistungen die gewöhnlichen Eifersüchteleien der übrigen Theaterwelt, insonderheit die der Opernbühnen. Die Gefahr verbindet alle Artisten, die allabendlich dem Tode ausgesetzt sind, zu einer Art militärischer Kameradschaft, zu der brüderlichen Gemeinschaft der Soldaten im Felde. Man muß auch hinzufügen, daß alles, was diesem oder jenem an Neid und gehässigen Empfindungen aus dem Gauklerleben früherer Zeit, aus der elenden Vergangenheit noch etwa anhaftete, gemildert wurde durch den Wohlstand, das Ansehen und den Ruf ihres gegenwärtigen Daseins.

Überdies hatten beide Brüder alles Anrecht darauf, den Zirkusmitgliedern zu gefallen. Der Ältere hatte das gesetzte Wesen eines treuen und aufrichtigen Kameraden, und ein gutmütiges, freundliches Lächeln erhellte zuweilen den etwas schwermütigen Ernst seiner Züge. Der Jüngere hatte für sein Teil aller Herzen sogleich gewonnen durch seine muntere Geselligkeit, seine jugendlichen Späße, ja selbst ein wenig durch kleine Neckereien, denen er den Stachel zu nehmen wußte, durch die Lebhaftigkeit, den Schwung und den Lärm, den er in die Langeweile und Öde mancher Tage hineinbrachte, durch das unbeschreiblich Bestechende seines hübschen, gefälligen, lebendigen Wesens inmitten sorgenvoller Menschen, durch jenen die Runzeln glättenden Reiz, den er von klein auf um sich her verbreitet hatte.

finis


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