Nikolai Gogol
Die toten Seelen
Nikolai Gogol

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Viertes Kapitel

Am folgenden Tage erledigte sich alles so, wie man es sich gar nicht besser wünschen konnte. Kostanschoglo gab ihm mit Freuden die zehntausend Rubel, ohne Zinsen und ohne Bürgschaft – gegen eine gewöhnliche Empfangsbestätigung: so gern half er jedem auf dem Wege zum Wohlstand. Und noch mehr als das: er erklärte sich bereit, Tschitschikow zu Chlobujew zu begleiten, um sich mit ihm zusammen das Gut anzusehen. Tschitschikow war in bester Laune. Nach einem ordentlichen Frühstück machten sie sich auf den Weg und nahmen alle drei in Pawel Iwanowitschs Wagen Platz; die Droschke des Hausherrn folgte leer hinten nach. Jarb lief voraus und scheuchte am Straßenrande die Vögel auf. Ganze fünfzehn Werst weit zogen sich zu beiden Seiten der Straße die Wälder und Äcker Kostanschoglos hin. Als sein Besitz aufhörte, wurde alles gleich anders: das Getreide wuchs spärlich, und statt Wälder gab es nur Baumstrünke. Das kleine Gut schien trotz seiner schönen Lage, auch aus der Ferne gesehen, arg vernachlässigt. Zuerst zeigte sich das noch unbewohnte neue, erst im Rohbau fertige steinerne Haus; dann erst erblickte man das andere bewohnte Haus. Den Hausherrn fanden sie zerzaust und verschlafen vor: er war erst eben aufgestanden. Er schien etwa vierzigjährig; seine Halsbinde war schief gebunden; der Rock hatte einen Flicken, der Stiefel – ein Loch.

Über die Ankunft der Gäste war er so erfreut wie über Gott weiß was: als hätte er nach langer Trennung seine Brüder wiedergesehen.

»Konstantin Fjodorowitsch! Platon Michailowitsch! Was für eine Freude haben Sie mir mit Ihrem Besuch bereitet! Erlauben Sie mir, daß ich mir erst die Augen reibe! Ich glaubte schon, daß mich niemand mehr besuchen will. Alle fliehen mich wie die Pest: ein jeder fürchtet, ich würde ihn anpumpen. Ach, es ist so schwer, Konstantin Fjodorowitsch! Ich sehe ja, daß ich selbst an allem schuld bin. Was soll ich machen? Ich bin mal so ein Schwein und lebe wie ein Schwein. Entschuldigen Sie, meine Herren, daß ich Sie in diesem Aufzuge empfange: die Stiefel sind, wie Sie sehen, durchlöchert. Womit darf ich Sie bewirten?«

»Bitte, ohne Umstände. Wir kommen in Geschäften. Ich bringe Ihnen einen Käufer – Pawel Iwanowitsch Tschitschikow,« sagte Kostanschoglo.

»Es freut mich herzlich, Sie kennenzulernen. Lassen Sie mich Ihre Hand drücken.«

Tschitschikow reichte ihm beide Hände.

»Wie gerne würde ich Ihnen, verehrtester Pawel Iwanowitsch, ein Gut zeigen, das wirklich Beachtung verdiente . . . Übrigens, meine Herren, darf ich fragen, haben Sie schon Mittag gegessen?«

»Wir haben schon gegessen,« sagte Kostanschoglo, um diese Frage möglichst schnell zu erledigen. »Wir wollen keine Zeit verlieren und gleich mit der Besichtigung anfangen.«

»In diesem Falle wollen wir gehen.« Chlobujew nahm seine Mütze in die Hand. »Sie sollen meine Unordnung und Liederlichkeit sehen.«

Die Gäste setzten ihre Mützen auf und gingen alle die Dorfstraße entlang.

Von beiden Seiten starrten blinde Hütten mit kleinen Fenstern, die mit Fußlappen zugestopft waren.

»Sie sollen meine Unordnung und Liederlichkeit sehen,« sagte Chlobujew wieder. «Sie haben natürlich gut getan, daß Sie schon gegessen haben. Glauben Sie mir, Konstantin Fjodorowitsch, ich habe kein Krümchen im Hause, so weit ist es mit mir gekommen!«

Er seufzte auf, und da er wohl wußte, daß er von Konstantin Fjodorowitsch wenig Teilnahme zu erwarten hatte, nahm er Platonow unter den Arm und ging mit ihm voraus, dessen Hand kräftig an sein Herz drückend. Kostanschoglo und Tschitschikow folgten ihnen Arm in Arm in einiger Entfernung.

»Es ist schwer, Platon Michailowitsch, so furchtbar schwer!« sagte Chlobujew zu Platonow. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schwer es ist! Kein Geld, kein Getreide, keine Stiefel – das sind für mich lauter unbekannte Fremdworte. Ich würde mir daraus gar nichts machen, wenn ich jung und alleinstehend wäre. Wenn man aber von diesem Ungemach im Alter betroffen wird und dazu eine Frau und fünf Kinder hat, so muß man traurig werden . . .«

»Nun, und wenn Sie das Gut verkaufen – wird das Ihnen helfen?« fragte Platonow.

»Ach was, helfen!« sagte Chlobujew mit einer hoffnungslosen Handbewegung. »Alles werden die Gläubiger kriegen, und mir selbst bleiben keine tausend Rubel.«

»Was werden Sie dann anfangen?«

»Das weiß Gott allein.«

»Warum unternehmen Sie nichts, um aus dieser Klemme zu kommen?«

»Was soll ich bloß unternehmen?«

»Nun, nehmen Sie doch irgendeine Stellung.«

»Ich stehe doch nur im Range eines Gouvernementssekretärs. Was für eine Stellung kann man mir bieten? Doch nur eine ganz untergeordnete. Kann ich denn ein Gehalt von fünfhundert Rubel im Jahre annehmen? Ich habe ja eine Frau und fünf Kinder.«

»Werden Sie doch Gutsverwalter.«

»Wer wird mir sein Gut anvertrauen? Ich habe ja das meinige heruntergebracht.«

»Nun, wenn einem der Hungertod droht, so muß er doch was unternehmen. Ich will meinen Bruder fragen, ob er Ihnen nicht eine Stellung in der Stadt vermitteln kann.«

»Nein, Platon Michailowitsch«, sagte Chlobujew seufzend und ihm fest die Hand drückend. »Ich tauge jetzt zu nichts mehr: ich bin vorzeitig alt geworden, von alten Sünden habe ich Kreuzschmerzen und Rheumatismus in der Schulter. Wie kann ich daran auch nur denken! Was soll ich den Staat schädigen? Es gibt jetzt auch ohne mich genug Leute, die nur der Einkünfte wegen dienen. Gott behüte, daß meines Gehalts wegen den armen Ständen neue Steuern auferlegt werden!«

– Das sind die Früchte der liederlichen Lebensweise! – dachte sich Platonow. – Das ist noch schlimmer als mein ewiger Schlaf. –

Während sie miteinander so sprachen, regte sich Kostanschoglo, der mit Tschitschikow hinter ihnen herging, furchtbar auf.

»Schauen Sie nur,« sagte Kostanschoglo, mit dem Finger zeigend, »in welches Elend er die Bauern gestürzt hat! Keiner von ihnen hat einen Wagen oder ein Pferd. Wenn es mal eine Seuche gibt, so soll man doch an sein eigenes Hab und Gut nicht denken: da muß man alles verkaufen und den Bauern mit Vieh versehen, damit er auch nicht einen Tag der Arbeitstiere entbehrt. Jetzt kann man das auch in vielen Jahren nicht wieder gutmachen. Der Bauer ist inzwischen ein Faulenzer, Bummler und Säufer geworden. Wenn man ihn auch nur ein Jahr ohne Arbeit sitzenläßt, so hat man ihn für alle Ewigkeit demoralisiert: dann ist er schon gewöhnt, seine Lumpen zu tragen und sich arbeitslos herumzutreiben . . . Und wie gut das Land dabei ist! Schauen Sie sich nur das Land an!« sagte er, auf die Wiesen zeigend, die gleich nach den Bauernhäusern kamen. »Alles ist Überschwemmungsgebiet! Ich würde da Flachs bauen und fünftausend Rubel am Flachs allein verdienen; würde Rüben bauen und an den Rüben viertausend verdienen. Aber schauen Sie nur her: dieser Roggen da am Abhang ist aus zufällig verschütteten Körnern gewachsen. Er hat ja gar keinen Roggen gesät, das weiß ich. Und hier diese Schluchten . . . hier würde ich solche Wälder anpflanzen, daß keine Krähe die Baumwipfel erreichen könnte. Und einen so unschätzbaren Boden läßt er brachliegen! Wenn du schon keinen Pflug hast, um den Boden zu pflügen, so nimm doch einen Spaten und baue Gemüse an – dann holst du es am Gemüse nach. Nimm selbst den Spaten in die Hand, zwinge deine Frau, die Kinder, das Hausgesinde dazu; stirb . . . bei der Arbeit! Dann stirbst du wenigstens bei der Erfüllung deiner Pflicht und nicht, weil du dich zu Mittag wie ein Schwein vollgefressen hast!« Kostanschoglo spuckte nach diesen Worten aus, und sein Gesicht wurde wieder von einem galligen Ausdruck umdüstert.

Als sie näher heran kamen und am Rande des mit Beifuß bewachsenen Abhanges standen; als in der Ferne eine glänzende Windung des Flusses und ein dunkler Bergvorsprung auftauchten und etwas näher ein Teil des im Gehölz versteckten Hauses des Generals Betrischtschew sichtbar wurde, hinter diesem aber ein kraus mit Wald bewachsener, in den bläulichen Dunst der Entfernung gehüllter Hügel, an dem Tschitschikow erriet, daß es wohl Tjentjetnikows Besitz sei – sagte er: »Wenn man hier Wälder anpflanzen wollte, so würde die Landschaft an Schönheit . . .

»Sie sind wohl ein Liebhaber schöner Aussichten!« sagte Kostanschoglo, ihn plötzlich streng anblickend. »Passen Sie auf, wenn Sie den schönen Aussichten nachjagen, so bleiben Sie ohne Brot und ohne Aussichten. Schauen Sie auf den Nutzen und nicht auf die Schönheit. Die Schönheit wird von selbst kommen. Das können Sie auch an den Städten sehen: am schönsten sind solche Städte, die von selbst entstanden sind, wo jeder nach seinen Bedürfnissen und nach seinem Geschmack gebaut hat; solche Städte aber, die man nach der Schnur errichtet hat, sind nur Kasernen . . . Lassen Sie die Schönheit beiseite! Achten Sie nur auf das Nützliche . . .«

»Es ist nur schade, daß man solange warten muß: man möchte gern alles so sehen, wie man es haben will . . .«

»Sind Sie denn ein fünfundzwanzigjähriger Jüngling? . . . Ein Petersburger Beamter . . . Geduld! Arbeiten Sie sechs Jahre nacheinander: pflanzen Sie, säen Sie, graben Sie den Boden um und gönnen Sie sich keinen Augenblick Ruhe. Es ist wohl schwer. Wenn Sie aber den Boden ordentlich aufgerüttelt haben und er Ihnen selbst zu Hilfe kommt, so ist das etwas ganz anderes als ein . . . nein, Väterchen; bei Ihnen werden dann außer Ihren siebzig Arbeitshänden noch andere siebenhundert unsichtbare Hände mitarbeiten. Alles verzehnfacht sich. Bei mir braucht man jetzt keinen Finger zu rühren, alles geschieht ganz von selbst. Ja, die Natur liebt die Geduld: das ist ein Gesetz, das ihr der Schöpfer selbst gegeben hat, der die Geduldigen segnet.«

»Wenn man Ihnen zuhört, fühlt man den Zufluß neuer Kräfte. Es ist so erhebend für den Geist.«

»Sehen Sie nur, wie das Land gepflügt ist!« rief Kostanschoglo schmerzlich aus, auf den Abhang zeigend. »Ich kann hier nicht länger bleiben: eine solche Unordnung und Verwahrlosung zu sehen, ist für mich der Tod. Sie können mit ihm auch ohne mich handelseinig werden. Nehmen Sie diesem Dummkopf seinen Schatz so schnell als möglich ab. Er schändet nur die Gabe Gottes.« Nach diesen Worten nahm Kostanschoglo in düsterer und galliger Gemütsverfassung von Tschitschikow Abschied, holte dann Chlobujew ein und begann sich auch von ihm zu verabschieden.

»Ich bitte Sie, Konstantin Fjodorowitsch,« sagte jener erstaunt, »Sie sind erst eben gekommen und wollen schon wieder fort!«

»Es geht nicht anders. Ich muß dringend nach Hause«, sagte Kostanschoglo. Er verabschiedete sich, setzte sich in seinen Wagen und fuhr davon.

Chlobujew hatte anscheinend den Grund erraten, warum er ihn verließ.

»Konstantin Fjodorowitsch hat es nicht aushalten können«, sagte er. »Für einen solchen Landwirt ist es wirklich keine Freude, eine so liederliche Wirtschaft zu sehen. Glauben Sie mir, Pawel Iwanowitsch, ich habe in diesem Jahre nicht einmal Roggen gesät. Mein Ehrenwort! Ich hatte kein Saatgut, ganz abgesehen davon, daß ich weder Pflug noch Pferde habe. Ihr Bruder soll ein vortrefflicher Landwirt sein, Platon Michailowitsch; von Konstantin Fjodorowitsch gar nicht zu reden: er ist ein Napoleon in seinem Fach! Gar oft frage ich mich: warum wird einem einzigen Kopf soviel Verstand verliehen? Wäre doch nur ein Tropfen von seinem Verstand für meinen dummen Kopf geblieben! Hier auf der Brücke müssen Sie sich in acht nehmen, meine Herren, um nicht in die Pfütze zu plumpsen. Ich hatte im Frühjahr befohlen, die Bretter auszubessern . . . Am meisten tun mir die armen Bauern leid: sie brauchen ein gutes Vorbild, aber was können sie von mir lernen? Was soll ich machen? Nehmen Sie sie doch unter Ihre Obhut, Pawel Iwanowitsch. Wie soll ich sie an Ordnung gewöhnen, wenn ich selbst so unordentlich bin? Ich hätte sie schon längst freigelassen, aber auch das würde zu nichts führen. Ich sehe ja, daß man sie erst so weit bringen muß, daß sie leben können. Sie brauchen einen strengen und gerechten Herrn, der mit ihnen lange zusammenlebt und durch das eigene Beispiel einer unermüdlichen Tätigkeit . . . Der Russe kann, wie ich es an mir selbst sehe, nicht ohne einen Antreiber auskommen: sonst schläft er ein und versauert.«

»Seltsam,« sagte Platonow, »warum ist der Russe so geneigt, einzuschlafen und zu versauern, daß, wenn man den einfachen Mann nicht beaufsichtigt, er ein Taugenichts und Säufer wird?«

»Aus Mangel an Aufklärung«, bemerkte Tschitschikow.

»Gott allein weiß, woher das kommt. Wir zum Beispiel sind aufgeklärte Menschen, haben auf der Universität Vorlesungen gehört, doch wozu taugen wir? Was habe ich gelernt? Ich habe nicht nur nicht gelernt, ordentlich zu leben, sondern mir im Gegenteil die Kunst angeeignet, möglichst viel Geld für allerhand Raffinement und Komfort auszugeben; ich habe hauptsächlich solche Dinge kennengelernt, die Geld kosten. Kommt das daher, weil ich schlecht lernte? – Nein, ich lernte nicht schlechter als meine Kollegen. Zwei oder drei von ihnen haben aus dem Studium Nutzen gezogen, und das vielleicht auch nur darum, weil sie ohnehin kluge Menschen waren; die anderen suchen aber nur solche Dinge kennenzulernen, die die Gesundheit schädigen und einem Geld aus der Tasche locken. Bei Gott! Ich glaube nämlich folgendes: zuweilen scheint es mir fast, daß der Russe ein verlorener Mensch ist. Er will alles machen und kann nichts. Wir nehmen uns jeden Tag vor, morgen ein neues Leben zu beginnen und eine strenge Diät einzuführen; aber gefehlt: am Abend des gleichen Tages frißt man sich so voll, daß man nur noch träge Augenlider auf- und zuklappt und die Zunge nicht mehr bewegen kann – wie eine Eule sitzt man da und starrt die anderen Leute an – wahrhaftig! Und so sind alle.«

»Ja,« sagte Tschitschikow lächelnd, »so was kommt vor.«

»Wir sind nicht für die Vernunft geboren. Ich glaube nicht, daß einer von uns vernünftig sein könnte. Wenn ich sogar sehe, daß jemand ordentlich lebt und Geld verdient und zurücklegt, so traue ich dem nicht. Wenn der mal alt wird, so unterliegt auch er der Versuchung und bringt zuletzt alles auf einmal durch. Und so sind wir wirklich alle: die Gebildeten wie die Ungebildeten. Nein, es fehlt uns etwas anderes, aber was, das weiß ich selbst nicht zu sagen.«

Auf dem Rückwege boten sich ihnen die gleichen Bilder. Schmutz und Unordnung grinsten häßlich aus allen Dingen. Es war nur eine neue Pfütze mitten in der Straße hinzugekommen. Alles war vernachlässigt und verwahrlost, wie bei dem Besitzer, so auch bei den Bauern. Ein böses Bauernweib in einem fettigen groben Rock hatte ein armes kleines Mädchen halbtot geprügelt und schimpfte nun ganz abscheulich auf jemand in dritter Person, indem sie alle Teufel anrief. Zwei Bauern standen in einiger Entfernung und sahen mit stoischem Gleichmut dem Wüten des betrunkenen Weibes zu. Der eine kratzte sich die untere Rückenpartie, und der andere gähnte. Das gleiche Gähnen sah man auch an allen Bauten; auch die Dächer gähnten. Bei diesem Anblick mußte auch Platonow gähnen. Ein Flicken auf dem anderen. Auf einem der Bauernhäuser lag statt des Daches ein ganzes Tor; die eingefallenen Fenster waren von Stangen gestützt, die man aus der herrschaftlichen Scheune gestohlen hatte. Offenbar herrschte in dieser Wirtschaft das System von »Trischkas Kaftan«: man schnitt die Aufschläge und die Schöße ab, um die Ellenbogen zu flicken.

»Ja, Ihre Wirtschaft befindet sich in einem wenig beneidenswerten Zustande«, sagte Tschitschikow, als sie nach Besichtigung vor dem . . . anlangten. In den Zimmern mußten sie über die merkwürdige Mischung von Armut mit dem glänzenden Firlefanz eines späten Luxus staunen. Auf dem Tintenfaß saß irgendein Shakespeare; auf dem Tische lag ein elegantes Elfenbeininstrument, mit dem man sich selbst den Rücken kratzen konnte. Die Hausfrau war mit Geschmack und nach der Mode gekleidet und sprach von der Stadt und vom Theater, das dort eben gegründet worden war. Die Kinder waren lebhaft und lustig. Die Knaben und die Mädchen waren sehr schön gekleidet – nett und mit Geschmack. Es wäre besser, wenn sie bunte hausgewebte Röckchen und einfache Hemdchen anhätten und im Hofe herumliefen, ohne sich irgendwie von den Bauernkindern zu unterscheiden. Die Hausfrau bekam bald Besuch von einer sehr geschwätzigen Dame und zog sich mit ihr in ihr Zimmer zurück. Die Kinder folgten ihnen. Die Männer blieben allein.

»Was wäre also Ihr Preis?« fragte Tschitschikow. »Offen gestanden, stelle ich diese Frage, um den alleräußersten Preis zu erfahren, denn das Gut ist in einem viel schlechteren Zustande, als ich es erwartet hatte.«

»Im allerschlechtesten Zustande, Pawel Iwanowitsch«, sagte Chlobujew. »Und das ist noch nicht alles. Ich werde es Ihnen nicht verheimlichen: von den hundert Seelen, die auf der Revisionsliste stehen, sind nur fünfzig am Leben. So furchtbar hat bei uns die Cholera gewütet; die übrigen sind ohne Paß entlaufen, so daß man sie auch zu den Toten zählen kann: wenn man sie mit Hilfe der Gerichte suchen wollte, so würden die Kosten das ganze Gut verschlingen. Darum verlange ich auch nur fünfunddreißigtausend.«

Tschitschikow versuchte natürlich zu handeln.

»Erlauben Sie doch, wie können Sie fünfunddreißigtausend verlangen? Für so etwas fünfunddreißigtausend Rubel! Ich biete Ihnen fünfundzwanzig.«

Platonow mußte sich genieren. »Kaufen Sie es doch, Pawel Iwanowitsch«, sagte er. »Für das Gut kann man immer noch diesen Preis bezahlen. Wenn Sie die fünfunddreißigtausend nicht geben wollen, so werde ich es gemeinsam mit meinem Bruder kaufen.«

»Sehr schön, einverstanden«, sagte Tschitschikow erschrocken. »Sehr schön, doch unter der Bedingung, daß ich die Hälfte des Kaufpreises erst nach einem Jahre erlege.«

»Nein, Pawel Iwanowitsch! Das geht wirklich nicht. Die Hälfte zahlen Sie mir gleich und den Rest nach . . . Den gleichen Betrag könnte ich ja auch von der Leihkasse bekommen: wenn ich nur so viel hätte, um . . .«

»Ja, wie soll ich das nur machen?« sagte Tschitschikow. »Ich habe im ganzen nur zehntausend Rubel.« Es war eine Lüge: er hatte mit dem Geld, das ihm Kostanschoglo geliehen, zwanzigtausend: er konnte es aber nicht übers Herz bringen, eine solche Summe auf einmal zu bezahlen.

»Nein, ich bitte Sie, Pawel Iwanowitsch! Ich sage Ihnen ja, daß ich fünfzehntausend jetzt gleich brauche.«

»Ich will Ihnen fünftausend Rubel leihen«, fiel ihm Platonow ins Wort.

»Das wäre auch die einzige Möglichkeit!« sagte Tschitschikow und dachte sich dabei: – Das kommt doch sehr gelegen, daß er das Geld leihen will! – Man brachte aus dem Wagen die Schatulle, und Tschitschikow holte aus ihr die zehntausend Rubel für Chlobujew heraus. Den Rest von fünftausend Rubel versprach er ihm morgen zu bringen; d. h. er versprach es nur, hatte aber die Absicht, nur dreitausend zu bringen, den Rest aber später, nach zwei oder drei Tagen; wenn möglich, wollte er die Zahlung noch länger hinausschieben. Pawel Iwanowitsch gab so ungern Geld aus der Hand! Und selbst wenn er sich um eine Bezahlung unmöglich drücken konnte, so schien es ihm immer noch besser, das Geld morgen und nicht heute zu erlegen. Mit anderen Worten, er machte es genau so wie wir alle. Wir lassen doch so gern einen Bittsteller warten: soll er sich nur seinen Rücken an der Wand im Vorzimmer abreiben! Als ob er nicht etwas warten könnte! Was kümmert es uns, daß ihm vielleicht jede Stunde teuer ist und daß seine Geschäfte deswegen leiden! Komm morgen, mein Lieber, heute habe ich keine Zeit.

»Und wo gedenken Sie nach dem Verkauf zu wohnen?« fragte Platonow Chlobujew. »Haben Sie noch ein anderes Gut?«

»Ich muß eben in die Stadt ziehen, dort habe ich ein Häuschen. Das müßte ich auch ohnehin tun, nicht für mich, sondern für meine Kinder: sie brauchen Lehrer für Religion, Musik und Tanzen. Das kann man sich auf dem Lande für kein Geld leisten.«

– Er hat kein Stück Brot und will seinen Kindern Tanzunterricht geben! – dachte sich Tschitschikow.

– Seltsam! – dachte sich Platonow.

»Man muß das Geschäft doch begießen«, sagte Chlobujew. »He, Kirjuschka! Bring mal eine Flasche Champagner her, mein Bester!«

– Er hat kein Stück Brot, hat aber Champagner, – dachte sich Tschitschikow.

Platonow wußte aber gar nicht, was er sich denken sollte.

Den Champagner hatte Chlobujew nur aus Not angeschafft. Er hatte in die Stadt geschickt: was ist zu machen? der Krämer will keinen Kwas auf Pump geben. Aber der französische Weinhändler, der vor kurzem aus Petersburg gekommen war, gab allen auf Pump. Es war nichts zu machen, er mußte eine Flasche Champagner nehmen.

Der Champagner wurde aufgetragen. Sie tranken je drei Glas und gerieten in eine lustige Stimmung. Chlobujew taute auf: er wurde plötzlich so nett und geistreich und schüttete Witze und Anekdoten nur so aus dem Ärmel. Seine Reden zeugten von einer großen Welt- und Menschenkenntnis! So gut und richtig beurteilte er viele Dinge, so treffend und geschickt zeichnete er mit wenigen Worten die Gutsbesitzer in der Nachbarschaft, so klar sah er alle ihre Mängel und Fehler, so genau kannte er die Geschichte aller heruntergekommenen Gutsbesitzer und wußte, warum und auf welche Weise ein jeder von ihnen sich ruiniert hatte; so originell und komisch wußte er von ihren kleinen Gewohnheiten zu erzählen, daß beide Gäste von seinen Worten ganz bezaubert waren; sie wären sogar bereit, ihn für den klügsten Menschen zu erklären.

»Ich muß mich nur wundern,« sagte Tschitschikow, »wie Sie bei Ihrer Klugheit keine Mittel finden, um aus der Klemme zu kommen.«

»Mittel habe ich wohl,« sagte Chlobujew und kramte vor ihnen sofort einen ganzen Haufen von Projekten aus. Alle waren aber dermaßen unsinnig und seltsam und verrieten so wenig Welt- und Menschenkenntnis, daß man nur die Achseln zucken und sagen konnte: »Gott! Wie wenig hat doch die Weltkenntnis mit der Kunst, sie auszunutzen, zu tun!« Alle seine Projekte beruhten auf der Notwendigkeit, sofort irgendwo hundert- oder zweihunderttausend Rubel zu beschaffen. Dann, glaubte er, würde sich alles ordnen, die Wirtschaft würde in Gang kommen, alle Löcher würden verstopft werden, die Einkünfte sich vervierfachen, und er würde alle seine Schulden bezahlen können. Er schloß seine Rede mit folgenden Worten: »Was soll ich aber machen? Ich finde doch nie den Wohltäter, der sich entschließen würde, mir zweihundert- oder wenigstens hunderttausend Rubel zu leihen. Gott will es wohl nicht haben.«

– Ja, natürlich! – dachte sich Tschitschikow, – einem solchen Dummkopf soll Gott zweihunderttausend Rubel zuschicken! –

»Ich habe allerdings eine Tante mit drei Millionen,« sagte Chlobujew, »eine fromme Alte: sie gibt viel für Kirchen und Klöster; wenn es aber gilt, einem zu helfen, so ist ihr schwer beizukommen. Es ist ein Tantchen aus der guten alten Zeit, es lohnt sich schon, sie anzusehen. Sie hat allein an die vierhundert Kanarienvögel, dazu Möpse, Gesellschafterinnen und Dienstboten, wie man sie heute nicht mehr findet. Der jüngste ihrer Diener ist an die sechzig Jahre alt, sie ruft ihn aber nicht anders als: ›He, Bursche!‹ Wenn ein Gast sich nicht so benimmt, wie es ihr paßt, so läßt sie beim Mittagessen die Schüssel an ihm vorbeitragen, und die Diener tun das auch. Ja, so ist sie!«

Platonow lächelte.

»Und wie ist ihr Familiennamen und wo wohnt sie?« fragte Tschitschikow.

»Sie wohnt in unserer Stadt und heißt Alexandra Iwanowna Chanassarowa.«

»Warum wenden Sie sich nicht an sie?« fragte Platonow teilnehmend. »Mir scheint, wenn sie sich in die Lage Ihrer Familie versetzte, könnte sie es Ihnen nicht abschlagen.«

»O nein, das kann sie! Tantchen hat eine kräftige Natur. Sie ist eine steinharte Alte, Platon Michailowitsch! Außerdem sind auch ohne mich genug Liebhaber da, die sie umschmeicheln. Da ist sogar einer, der Gouverneur werden will: auch der gibt sich für ihren Verwandten aus . . . Tu mir den Gefallen,« wandte er sich plötzlich an Platonow, »in der nächsten Woche gebe ich ein Diner für die Vertreter aller städtischen Stände . . .«

Platonow riß die Augen auf. Er wußte noch nicht, daß es in Rußland, in den Städten und Residenzen solche Weisen gibt, deren Leben ein unauflösliches Rätsel ist. So ein Mensch hat sein ganzes Vermögen durchgebracht, steckt tief in Schulden, hat nicht einen Pfennig Einkommen, gibt aber ein Diner: und alle Teilnehmer sagen, daß es sein letztes Diner sei und daß man den Hausherrn schon am nächsten Tag ins Gefängnis abführen werde. Es vergehen aber zehn Jahre, der Weise lebt noch immer in Freiheit, steckt noch tiefer in Schulden, gibt immer wieder ein Diner, und die Teilnehmer sind überzeugt, daß es das letzte sei und daß man den Gastgeber morgen ins Gefängnis abführen werde.

Das Haus Chlobujews in der Stadt stellte eine sehr merkwürdige Erscheinung dar. Heute zelebrierte darin ein Pope im Ornat einen Gottesdienst, und morgen hielten französische Schauspieler eine Probe ab. Manchmal war darin kein Krümchen Brot zu finden, aber am nächsten Tag gab es einen Empfang für alle Schauspieler und Künstler, die aufs gastfreundlichste bewirtet und beschenkt wurden. Es gab auch schwere Zeiten, wo sich ein anderer an seiner Stelle erhängt oder erschossen hätte; ihn rettete aber seine Religiosität, die sich in ihm merkwürdigerweise mit der Liederlichkeit seiner Lebensweise vertrug. In solchen schweren Stunden las er die Lebensgeschichten von Märtyrern und Heiligen, die ihren Geist erzogen, sich über jedes Ungemach zu erheben. Dann wurde seine Seele ganz weich, ihn überkam eine tiefe Rührung, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Er betete, und seltsam! – fast immer kam dann eine unerwartete Hilfe: entweder erinnerte sich seiner jemand von seinen alten Freunden und schickte ihm Geld; oder eine zugereiste, fremde Dame, die zufällig seine Geschichte hörte, schickte ihm in einer plötzlichen Regung ihres Herzens ein reiches Geschenk; oder er gewann einen Prozeß, von dem er selbst noch nie etwas gehört hatte. Andächtig erkannte er dann die grenzenlose Barmherzigkeit der Vorsehung, ließ einen Dankgottesdienst abhalten und kehrte zu seinem liederlichen Lebenswandel zurück.

»Er tut mir leid, er tut mir wirklich leid«, sagte Platonow zu Tschitschikow, als sie von Chlobujew Abschied genommen hatten und sein Gut verließen.

»Ein verlorener Sohn!« sagte Tschitschikow. »Mit solchen Menschen soll man nicht Mitleid haben.«

Bald dachten sie nicht mehr an ihn: Platonow, weil er die Lage der Menschen mit ebenso trägen und verschlafenen Augen betrachtete, wie alles in der Welt. Sein Herz krampfte sich wohl zusammen, wenn er fremde Leiden sah, doch der Eindruck drang niemals tief in seine Seele. Schon nach einigen Minuten dachte er nicht mehr an Chlobujew. Er dachte nicht an ihn, weil er auch an sich selbst nicht dachte; Tschitschikow dachte aber nicht an Chlobujew, weil seine Gedanken ganz ernsthaft mit dem eben abgeschlossenen Kauf beschäftigt waren. Jedenfalls wurde er jetzt, wo er plötzlich kein phantastischer, sondern ein wahrer und echter Besitzer eines durchaus nicht phantastischen Gutes geworden war, nachdenklich, seine Gedanken und Absichten waren solider geworden und verliehen auch seinem Gesicht unwillkürlich einen bedeutenden Ausdruck. – Geduld, Arbeit! Die sind nicht so schwer: ich habe sie ja schon als Wickelkind kennengelernt. Mir bedeuten sie nichts Neues. Werde ich aber jetzt, in diesem Alter, so viel Geduld aufbringen können wie in der Jugend? – Von welcher Seite er den abgeschlossenen Kauf auch betrachtete, er sah, daß das Geschäft in jedem Falle sehr vorteilhaft war. Er konnte zuvor die besseren Parzellen verkaufen und dann auf den Rest eine Hypothek aufnehmen. Er konnte es auch so machen: das Gut selbst verwalten und ein Landwirt von der Art Kostanschoglos werden, wobei ihm die Ratschläge dieses Nachbarn und Wohltäters zugute kämen. Er konnte auch das Gut weiter verkaufen (natürlich nur, wenn er keine Lust hätte, es selbst zu bewirtschaften) und sich die Flüchtigen und Toten behalten. In diesem Falle bot sich ihm auch noch ein anderer Vorteil: er könnte diese Gegend verlassen und Kostanschoglo das entliehene Geld nicht zurückzahlen. Ein seltsamer Gedanke! Man kann nicht sagen, daß Tschitschikow ihn selbst gefaßt hätte – nein, er stand wie von selbst vor ihm da, ihn neckend, ihm zulächelnd und zublinzelnd. Dieser verführerische, liederliche Gedanke! Wer ist der Schöpfer solcher plötzlich über uns kommenden Gedanken? . . . Er empfand eine Freude, die Freude, daß er nun ein Gutsbesitzer sei – kein phantastischer, sondern ein wirklicher Gutsbesitzer, der Ländereien und Leibeigene besaß, und zwar keine imaginären, bloß in der Phantasie existierenden, sondern wirkliche Leibeigene. Und er fing allmählich an, auf seinem Platze zu hüpfen, sich die Hände zu reiben, sich selbst zuzublinzeln; er führte die zusammengeballte Hand wie eine Trompete an die Lippen und blies einen Marsch; er richtete sogar laut an sich selbst einige ermunternde Worte und nannte sich »Schnäuzchen« und »Kapaunchen«. Aber er besann sich; daß er nicht allein war, wurde plötzlich still und bemühte sich, den maßlosen Ausdruck der Begeisterung zu unterdrücken; als Platonow, der einige von diesen Tönen für an ihn gerichtete Worte hielt, ihn fragte: »Wie?«, antwortete er: »Nichts.«

Jetzt erst sah er sich um und stellte fest, daß sie schon längst durch ein hübsches Gehölz fuhren; eine schöne Mauer von Birken zog sich rechts und links hin. Die weißen Stämme der Birken und Espen leuchteten wie ein schneeweißer Staketenzaun und hoben sich schlank und leicht vom zarten Grün der erst vor kurzem aufgegangenen Blätter ab. Die Nachtigallen schmetterten um die Wette aus dem Dickicht. Im Grase leuchteten gelbe Waldtulpen. Er konnte gar nicht begreifen, wie er so plötzlich an diesen herrlichen Ort gelangt war, wo er doch soeben erst offene Felder um sich gesehen hatte. Zwischen den Bäumen leuchtete eine weiße steinerne Kirche auf; und am anderen Ende zeigte sich ein Gitter. Am Ende der Straße wurde ein Herr in einer Mütze mit einem Knotenstock in der Hand sichtbar. Er ging ihnen entgegen, und ein englischer Hund auf langen dünnen Beinen lief vor ihm her.

»Das ist ja mein Bruder«, sagte Platonow. »Kutscher, halt!« Er stieg aus dem Wagen. Tschitschikow tat dasselbe. Die Hunde hatten schon einander begrüßt. Der dünnbeinige, schnelle Asor leckte den Jarb mit seiner schnellen Zunge die Schnauze; dann leckte er Platonow die Hand und sprang an Tschitschikow in die Höhe und leckte ihm das Ohr.

Die Brüder umarmten sich.

»Ich bitte dich, Platon, was stellst du an?« fragte der Bruder, den man Wassilij nannte.

»Was habe ich denn angestellt?« entgegnete Platon gleichgültig.

»Was ist denn das? Seit drei Tagen höre ich nichts von dir. Der Stallknecht hat deinen Hengst von Pjetuch heimgebracht und gesagt: ›Er ist mit irgendeinem Herrn weggefahren.‹ Hättest du mir doch nur ein Wort gesagt, wohin, wozu und auf wie lange! Ich bitte dich, Bruder, benimmt man sich so? Ich habe mir in diesen drei Tagen Gott weiß was für Gedanken gemacht!«

»Was soll ich machen? Ich habe es vergessen«, sagte Plantonow. »Wir waren bei Konstantin Fjodorowitsch eingekehrt: er läßt dich grüßen, die Schwester ebenfalls. Pawel Iwanowitsch, ich will Ihnen meinen Bruder Wassilij vorstellen. – Bruder Wassilij, das ist Pawel Iwanowitsch Tschitschikow.«

Die beiden leisteten der Aufforderung, sich kennenzulernen, Folge: sie drückten einander die Hand, nahmen die Mützen ab und küßten sich.

– Wer mag wohl dieser Tschitschikow sein? – dachte sich Bruder Wassilij. – Bruder Platon ist in seinen Bekanntschaften so gar nicht wählerisch. – Er musterte Tschitschikow, soweit es der Anstand erlaubte, und sah, daß es ein seinem Äußeren nach höchst ehrbarer Mensch war.

Auch Tschitschikow musterte seinerseits, soweit es der Anstand erlaubte, den Bruder Wassilij und stellte fest, daß er etwas kleiner, dunkelhaariger und viel weniger hübsch war als Platon, daß aber seine Gesichtszüge viel mehr Leben, Begeisterung und Herzensgüte zeigten. Es war ihm anzusehen, daß er nicht so verschlafen war wie sein Bruder. Dieser Umstand interessierte aber unseren Pawel Iwanowitsch recht wenig.

»Wassilij, ich habe mich entschlossen, mit Pawel Iwanowitsch eine kleine Reise durch das heilige Rußland zu machen. Vielleicht wird das meine ewige Langweile zerstreuen.«

»Wie hast du dich so plötzlich entschließen können?« sagte Bruder Wassilij ganz bestürzt; beinahe hätte er noch gesagt: – Und dazu noch mit einem Menschen, den du zum erstenmal in deinem Leben siehst, der vielleicht ein Schuft und weiß der Teufel was ist! – Er schielte mißtrauisch nach Tschitschikow und sah wieder ein erstaunlich ehrbares Gesicht.

Sie traten rechts in ein Tor. Der Hof war alt; auch das Haus war alt, wie man sie heute nicht mehr baut: es hatte ein hohes Giebeldach mit seitlichen Vorsprüngen. In der Mitte des Hofes erhoben sich zwei mächtige Linden, die ihn fast ganz mit ihrem Schatten bedeckten. Unter ihnen standen zahlreiche Holzbänke. Blühende Flieder- und Faulbeerbüsche umgaben den Hof wie ein Perlenhalsband zugleich mit dem Zaune, der unter ihren Blüten und Blättern ganz verschwand. Auch das Herrenhaus war ganz von den Bäumen verdeckt, nur die Türen und Fenster blickten freundlich zwischen den Ästen hervor. Durch die pfeilgeraden Baumstämme sah man die weißen Küchen, Keller und Vorratskammern schimmern. Alles befand sich mitten im Gehölz. Die Nachtigallen schlugen laut und erfüllten das ganze Gehölz mit ihrem Gesang. Unwillkürlich wurde das Herz von einem angenehmen und sorglosen Gefühl umfangen. Alles erinnerte an jene sorglosen Zeiten, als das Leben noch so gutmütig und einfach war. Bruder Wassilij forderte Tschitschikow auf, Platz zu nehmen. Sie setzten sich auf die Bänke unter den Linden.

Ein etwa siebzehnjähriger Bursche in einem hübschen rosa Kattunhemd stellte vor ihnen Karaffen mit Fruchtwässern aller Farben und aller Sorten auf; die einen waren dick wie Öl, die anderen schäumten wie Brauselimonade. Nachdem er die Karaffen aufgestellt hatte, griff er nach einem Spaten, der an einem Baum lehnte, und ging in den Garten. Die Brüder Platonow hatten genau so wie ihr Schwager Kostanschoglo keine eigentlichen Dienstboten: alle waren Gärtner, und das ganze Gesinde mußte dieses Amt der Reihe nach versehen. Bruder Wassilij behauptete immer, die Dienstboten stellten keinen eigenen Stand dar: ein Tablett hereinbringen könne ein jeder, und es lohne sich nicht, dazu besondere Leute zu halten; der Russe sei nur so lange ordentlich, geschickt und kein Faulenzer, als er ein Hemd und einen Bauernmantel trage; sobald er aber einen deutschen Rock anziehe, werde er sofort plump, ungeschickt und ein Faulenzer; er wechsle sein Hemd nicht mehr, gehe nicht mehr ins Bad, schlafe in seinem Rock und züchte unter seinem deutschen Rock eine Menge von Wanzen und Flöhen. Vielleicht hatte er auch recht. Auf dem Gute, das ihm und seinem Bruder gehörte, kleideten sich die Bauern besonders schön: der Kopfputz der Weiber war reich mit Gold besetzt, und die Ärmel ihrer Hemden glichen auf ein Haar den Rändern von türkischen Schals. »Diese Fruchtwässer sind schon seit langer Zeit ein Ruhm unseres Hauses«, sagte Bruder Wassilij.

Tschitschikow schenkte sich ein Glas aus der ersten Karaffe ein: es schmeckte genau wie jener Lindenmet, den er einst in Polen getrunken hatte: es schäumte wie Champagner, und das Gas schoß angenehm aus dem Munde in die Nase. »Wie Nektar!« sagte er. Dann kostete er ein Glas aus einer anderen Karaffe – das schmeckte noch besser.

»Das Getränk der Getränke!« sagte Tschitschikow. »Ich kann wohl sagen, bei Ihrem verehrten Schwager Konstantin Fjodorowitsch habe ich den besten Likör getrunken, bei Ihnen aber das beste Fruchtwasser.«

»Sein Likör stammt ja auch aus unserer Familie: unsere Schwester hat ihn eingeführt. Und nach welcher Richtung und in was für Gegenden gedenken Sie zu fahren?« fragte Bruder Wassilij.

»Ich fahre«, sagte Tschitschikow, sich auf der Bank leicht hin- und herwiegend und sich mit der Hand über das Knie streichend, »weniger in eigenen Geschäften als in einer fremden Angelegenheit. Der General Betrischtschew, mein naher Freund und, ich darf wohl sagen, Wohltäter, bat mich, seine Verwandten zu besuchen. Verwandte hin, Verwandte her, doch ich fahre auch sozusagen in meinem eigenen Interesse; ganz abgesehen vom Nutzen im Hinblick auf die Hämorrhoiden, ist die Bekanntschaft mit der Welt und dem Strudel der Menschen sozusagen ein lebendiges Buch, eine eigene Wissenschaft.«

Bruder Wassilij wurde nachdenklich. Er dachte sich: – Der Mensch redet etwas geschraubt, aber in seinen Worten steckt auch Wahrheit. – Er schwieg eine Weile und wandte sich dann an Platon: »Ich fange zu glauben an, Platon, diese Reise könnte dich wirklich aufrütteln. Du leidest nur an einer seelischen Schlafsucht. Du bist einfach eingeschlafen, und zwar nicht aus Übersättigung oder Ermüdung, sondern aus Mangel an lebendigen Eindrücken und Empfindungen. Mir geht es gerade umgekehrt. Wie gern möchte ich weniger stark empfinden und mir die Dinge nicht so sehr zu Herzen nehmen!«

»Wer zwingt dich auch, alles so zu Herzen zu nehmen?« entgegnete Platon. »Du suchst selbst Aufregungen und erfindest dir selbst Sorgen.«

»Was braucht man sie noch zu erfinden, wenn man auch ohnehin auf Schritt und Tritt nichts als Unannehmlichkeiten hat?« sagte Wassilij. »Hast du gehört, was für einen Streich uns Ljenizyn in deiner Abwesenheit gespielt hat? – Er hat sich das unbebaute Stück Land, auf dem unsere Bauern den Sonntag nach Ostern feiern, einfach angeeignet. Erstens würde ich dieses Stück für kein Geld hergeben . . . Meine Bauern feiern hier jedes Frühjahr ihr Fest, und mit dieser Stelle sind die schönsten Erinnerungen des Dorfes verbunden; mir ist aber jeder alte Brauch etwas Heiliges, und ich würde für ihn alles opfern.«

»Er wußte es wohl nicht, daß es uns gehört«, sagte Platon. »Der Mann ist ganz neu hier, kommt eben aus Petersburg; man müßte es ihm erklären.«

»Er weiß es sehr genau. Ich habe es ihm sagen lassen. Er aber hat mit einer Grobheit geantwortet.«

»Du müßtest eben selbst hinfahren und es ihm klarmachen. Sprich doch mit ihm selbst.«

»Nein, fällt mir nicht ein. Er tut viel zu stolz. Ich fahre zu ihm nicht hin. Fahr du zu ihm, wenn du Lust hast.«

»Ich würde schon hinfahren, aber ich mische mich nicht in Geschäfte . . . Er kann mich ja auch anführen und betrügen.«

»Wenn Sie wünschen, so fahre ich zu ihm hin«, sagte Tschitschikow. »Erklären Sie mir nur den Sachverhalt.«

Wassilij blickte ihn an und dachte sich: – Wie gerne er doch herumfährt! –

»Erklären Sie mir nur, was er für ein Mensch ist,« sagte Tschitschikow, »und worum es sich handelt.«

»Ich müßte mich genieren, Sie mit einem so unangenehmen Auftrag zu belästigen. Meiner Ansicht nach ist er ein Schuft: er stammt aus dem einfachen landarmen Adel unseres Gouvernements, hat in Petersburg Karriere gemacht, indem er dort die natürliche Tochter von irgend jemand geheiratet hat, und tut jetzt so stolz. Er will den Ton angeben. Unsere Leute sind aber nicht so dumm: die Mode ist für uns kein Gesetz und Petersburg keine Kirche.«

»Gewiß!« sagte Tschitschikow. »Worum handelt es sich aber?«

»Sehen Sie: er braucht wirklich das Land. Hätte er sich anders benommen, so hätte ich ihm gerne ein Stück Land an einer anderen Stelle geschenkt . . . Jetzt könnte aber dieser händelsüchtige Mensch noch glauben . . .«

»Ich meine, daß es immer besser ist, sich mit ihm zu verständigen: vielleicht ist die Sache . . . Man hat mich schon mit manchen Aufträgen betraut und es nachher niemals bereut . . . Auch der General Betrischtschew . . .«

»Aber es ist mir peinlich, daß Sie mit einem solchen Menschen werden sprechen müssen . . .«

». . . und sich besondere Mühe geben, daß die Sache geheimbleibt,« sagte Tschitschikow, »denn das Verbrechen selbst ist weniger schädlich, als das Ärgernis, das dadurch gegeben wird . . .«

»Das stimmt, das stimmt«, sagte Ljenizyn, den Kopf ganz auf die Seite geneigt.

»Wie angenehm, einem Gleichgesinnten zu begegnen!« sagte Tschitschikow. »Ich habe eine Sache, die zugleich gesetzlich und ungesetzlich ist: von außen besehen, ist sie ungesetzlich, und ihrem Wesen nach gesetzlich. Ich brauche eine Hypothek, will aber niemand das Risiko aufbürden, zwei Rubel Steuer für die lebendige Seele zu zahlen. Ich kann ja, Gott behüte, Bankrott machen, und das wird dem Besitzer unangenehm sein. Darum habe ich mich entschlossen, mir die Toten und Flüchtigen, die in den Revisionslisten noch nicht gestrichen sind, zunutze zu machen, um zugleich auch ein Werk der christlichen Nächstenliebe zu tun und die armen Besitzer von der Notwendigkeit, für sie die Steuern zu entrichten, zu befreien. Wir wollen nur unter uns in aller Form einen Kaufvertrag abschließen, als ob die Seelen noch lebten.«

– Es ist doch eine höchst eigentümliche Sache! – dachte sich Ljenizyn und rückte mit seinem Stuhl etwas zurück. »Das Geschäft ist aber derartig . . .« begann er.

»Es wird kein Ärgernis geben, weil alles geheim abgemacht wird,« sagte Tschitschikow, »und dabei unter anständigen Leuten . . .«

»Die Sache ist aber doch immerhin irgendwie . . .«

»Nicht das geringste Ärgernis!« entgegnete Tschitschikow sehr offen. »Das Geschäft wird, wie wir eben besprochen haben, zwischen anständigen Leuten reiferen Alters und in achtbarer Position abgeschlossen, dazu auch noch geheim.« Als er das sagte, blickte er ihm offen und treuherzig in die Augen.

Wie gerieben Ljenizyn auch war, wie gut er Bescheid in allen Geschäftsformalitäten wußte – hier stand er auf einmal ganz ratlos da, um so mehr, als er sich auf eine eigentümliche Weise in sein eigenes Netz verstrickt hatte. Er war gar keiner unehrlichen Handlung fähig und wollte selbst in der Tiefe seiner Seele nichts Ungesetzmäßiges begehen. – Ist das ein schwieriger Fall! – dachte er sich. – Da soll man sich noch mit anständigen Menschen befreunden! Eine schwierige Sache! –

Das Schicksal und die Umstände waren aber Tschitschikow günstig. Wie um ihm in dieser schwierigen Sache zu helfen, trat die junge Gattin Ljenizyns ins Zimmer, eine blasse, schmächtige, kleingewachsene, nach Petersburger Mode gekleidete Dame, eine große Freundin von Menschen »comme il faut«. Ihr folgte die Amme mit dem erstgeborenen Söhnchen, der Frucht der zärtlichen Liebe der jungen Ehegatten, im Arm. Tschitschikow ging ihr hüpfend und den Kopf auf die Seite geneigt entgegen, wodurch er die Petersburger Dame und dann auch den Säugling völlig bezauberte. Das Kind fing erst zu heulen an, aber Tschitschikow brachte es fertig, es durch die Worte: »Ei, ei, Herzchen«, durch geschicktes Fingerschnalzen und durch die Schönheit eines Karneolsiegels, das er an der Uhrkette trug, in seine Arme zu locken. Dann hob er es bis zur Decke und entlockte dem Kind ein freundliches Lächeln, das die Eltern entzückte. Doch infolge dieser plötzlichen Freude oder aus einem anderen Grunde verübte das Kind plötzlich eine gewisse Ungezogenheit.

»Ach, mein Gott!« rief Frau Ljenizyna. »Er hat Ihnen den ganzen Frack verdorben!«

Tschitschikow sah hin: ein Ärmel des nagelneuen Fracks war gänzlich verdorben. – Daß dich der Teufel! – dachte er sich in seiner Wut.

Der Hausherr, die Hausfrau und die Amme liefen hinaus, um Kölnisches Wasser zu holen; dann drängten sie sich um ihn von allen Seiten, um ihn abzuwischen.

»Es macht nichts, es macht gar nichts!« sagte Tschitschikow, indem er sich bemühte, einen möglichst sorglosen Gesichtsausdruck zu zeigen. »Kann denn ein Kind in diesem goldenen Alter überhaupt etwas verderben?« sagte er immer wieder und dachte sich währenddessen: – Diese Bestie, daß dich doch die Wölfe auffressen! Das hast du geschickt gemacht, du verdammte Kanaille! –

Dieser anscheinend ganz geringfügige Vorfall stimmte den Hausherrn ganz zugunsten des von Tschitschikow vorgeschlagenen Geschäfts. Wie kann man nur etwas einem solchen Gaste abschlagen, der dem Kleinen so viel unschuldige Liebe erwiesen, die er großmütig mit seinem eigenen Frack bezahlen mußte? Um kein Ärgernis zu erregen, beschlossen sie, die Sache geheim zu machen, da doch nicht die Sache selbst, sondern nur das Ärgernis schädlich sei.

»Zum Dank für den mir erwiesenen Dienst gestatten Sie mir, auch Ihnen einen Dienst zu erweisen. Ich möchte gerne in Ihrem Streite mit den Brüdern Platonow den Vermittler machen. Sie brauchen Land, nicht wahr? . . .«


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