Nikolai Gogol
Die toten Seelen
Nikolai Gogol

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Achtes Kapitel

Tschitschikows Käufe waren bereits zu einem Stadtgespräch geworden. In der Stadt sprach und diskutierte man viel darüber, ob es vorteilhaft sei, Bauern ohne Land zwecks Übersiedlung zu kaufen. Unter den Ansichten, die bei diesen Debatten geäußert wurden, zeichneten sich viele durch große Sachkenntnis aus. »Gewiß,« sagten manche, »dagegen läßt sich nicht streiten: das Land in den südlichen Gouvernements ist wirklich gut und fruchtbar; wie werden aber die Bauern Tschitschikows ohne Wasser leben können? Es gibt dort ja keinerlei Fluß.« – »Das ist noch das geringste, daß es dort kein Wasser gibt; das wäre noch nicht so schlimm, Stepan Dmitrijewitsch; aber die Ansiedlung selbst ist eine unsichere Sache. Man weiß ja, wie so ein Bauer ist: wenn er in eine ganz neue Gegend gebracht wird und Ackerbau treiben soll, aber nichts hat – weder Haus noch Hof –, so brennt er durch, so gewiß, wie zweimal zwei vier ist; er brennt durch, und man findet nicht mal seine Spur. – »Nein, Alexej Iwanowitsch, Sie erlauben schon: ich bin mit Ihrer Ansicht, daß Tschitschikows Bauer durchbrennen wird, nicht einverstanden. Der Russe ist zu allem fähig und gewöhnt sich an jedes Klima. Wenn Sie ihn auch nach Kamtschatka schicken und ihm nur ein Paar warme Handschuhe geben, so wird er erst die Hände gegeneinander klopfen, dann die Axt nehmen und sich ein neues Haus zimmern.« – »Du hast aber etwas sehr Wichtiges außer acht gelassen, Iwan Grigorjewitsch, du hast gar nicht gefragt, was für Leute die Tschitschikowschen Bauern sind. Du hast vergessen, daß der Gutsbesitzer einen guten Bauern nicht verkaufen wird: ich setze meinen Kopf dafür ein, daß Tschitschikows Bauern lauter Diebe, Säufer und Faulenzer von äußerst ausgelassenem Betragen sind.« – »Gewiß, dem stimme ich zu, daß kein Gutsbesitzer gute Bauern verkaufen wird und daß Tschitschikows Bauern Säufer sind; aber man muß in Betracht ziehen, daß gerade hierin die Moral steckt: jetzt sind sie Taugenichtse, wenn sie aber in eine neue Gegend kommen, können sie plötzlich zu ausgezeichneten Untertanen werden. Dafür hat es in der Welt nicht wenig Beispiele gegeben, und auch in der Weltgeschichte . . .« – »Das wird niemals sein,« sagte der Direktor der Staatsfabriken, »glauben Sie mir: niemals. Denn die Bauern Tschitschikows werden zwei mächtige Feinde vor sich haben. Der erste Feind ist die Nähe der kleinrussischen Gouvernements, wo bekanntlich freier Branntweinverkauf besteht. Ich versichere Sie: in zwei Wochen werden sie dem Suff erliegen. Der andere Feind ist aber der Hang zum Vagabundenleben, den die Bauern während der Übersiedlung erwerben. Tschitschikow müßte sie immer beaufsichtigen, sehr streng halten und für jede Bagatelle bestrafen; und zwar dürfte er sich dabei nicht auf einen anderen verlassen, sondern alles selbst tun und persönlich die Ohrfeigen und Genickstöße austeilen.« – »Warum soll sich denn Tschitschikow selbst damit abgeben und die Genickstöße austeilen? Er kann sich ja auch einen Verwalter nehmen.« – »Ja, finden Sie ihm einen Verwalter: die sind alle Spitzbuben.« – »Sie sind Spitzbuben, weil sich die Herren selbst nicht um die Sache kümmern.« – »Das stimmt!« bestätigten viele. »Wenn der Herr auch nur etwas von der Wirtschaft versteht und einige Menschenkenntnis hat, so findet er immer einen guten Verwalter.« – Der Direktor der Staatsfabriken sagte aber, daß man für weniger als fünftausend Rubel keinen guten Verwalter finden könne. Doch der Kammervorsitzende meinte, daß man auch schon für dreitausend einen haben könne. Aber der Direktor der Staatsfabriken fragte: »Wo finden Sie einen solchen? Höchstens in Ihrer Nase.« – »Nein, nicht in der Nase, sondern im hiesigen Landkreise; es ist ein gewisser Pjotr Petrowitsch Ssamoilow; er ist gerade der richtige Verwalter, wie ihn die Bauern Tschitschikows brauchen!« Viele versetzten sich mit großer Teilnahme in Tschitschikows Lage und hatten große Angst vor der Übersiedlung einer solchen Menge von Bauern; sie fürchteten sogar, daß unter so unruhigen Elementen, wie es die Bauern Tschitschikows seien, leicht ein Aufruhr ausbrechen könnte. Darauf wandte der Polizeimeister ein, daß man einen Aufruhr nicht zu befürchten brauche, da zur Verhinderung solcher Vorkommnisse die Macht der Polizeihauptleute bestehe; der Polizeihauptmann brauche nicht mal persönlich hinzufahren, es genüge schon, wenn er seine Mütze hinschicke: die Mütze allein sei schon imstande, die Bauern ohne irgendwelche Schwierigkeiten nach dem Orte ihrer Ansiedlung zu bringen. Viele machten ihre Vorschläge, wie der aufrührerische Geist der Tschitschikowschen Bauern auszurotten sei. Diese Vorschläge waren sehr verschiedener Art: es waren solche darunter, die eine beinahe übermäßige militärische Grausamkeit und Härte atmeten; andere dagegen zeugten von großer Milde. Der Postmeister meinte, daß Tschitschikow eine heilige Aufgabe vor sich habe, daß er gewissermaßen der Vater seiner Bauern werden und unter ihnen sogar die segensreiche Aufklärung verbreiten könne; bei dieser Gelegenheit äußerte er sich sehr lobend über die Lancastersche Methode des wechselseitigen Unterrichts.

So sprach und diskutierte man in der Stadt, und viele teilten Tschitschikow, von aufrichtiger Teilnahme bewegt, ihre Vorschläge mit und empfahlen ihm sogar, die Bauern, der größeren Sicherheit wegen, an ihren neuen Wohnsitz durch eine Militäreskorte begleiten zu lassen. Tschitschikow dankte für die Ratschläge, versprach diese bei Gelegenheit in Betracht zu ziehen, verzichtete aber sehr entschieden auf die Eskorte, indem er sagte, daß diese absolut unnötig sei, da die von ihm gekauften Bauern sich durch einen außerordentlich friedlichen Charakter auszeichneten und selbst eine große Neigung für die Übersiedlung hätten, so daß ein Aufruhr unter ihnen völlig ausgeschlossen sei.

Alle diese Debatten und Erörterungen hatten übrigens für Tschitschikow die denkbar besten Folgen; es kam nämlich das Gerücht auf, daß er nicht mehr und nicht weniger als ein Millionär sei. Die Stadtbewohner hatten, wie wir es schon im ersten Kapitel sahen, Tschitschikow auch ohnehin herzlich liebgewonnen. Um die Wahrheit zu sagen, waren sie lauter gutmütige Menschen, lebten in Eintracht, behandelten einander auf die freundschaftlichste Weise, und ihre Gespräche trugen immer den Stempel einer ganz besonderen Treuherzigkeit und Intimität: »Liebster Freund, IIja Iljitsch! . . .« – »Hör' mal, Bruder, Antipator Sacharjewitsch! . . .« – »Du übertreibst, Mamachen, Iwan Grigorjewitsch.« Dem Postmeister, welcher Iwan Andrejewitsch hieß, sagte man immer: »Sprechen Sie Deutsch, Iwan Andreitsch?« Mit einem Worte, alles ging höchst familiär zu. Viele waren nicht ohne Bildung: der Kammerpräsident kannte die »Ludmilla« von Schukowskij, die damals noch eine ganz frische Novität war, auswendig und rezitierte aus ihr meisterhaft viele Stellen; besonders gut gelangen ihm: »Der Wald schläft ein, die Täler ruh'n im Schlummer« und das Wort: »Horch!«, so daß man tatsächlich die Täler schlafen sah; um die Illusion zu vergrößern, schloß er sogar die Augen.

Der Postmeister neigte mehr der Philosophie zu und las höchst fleißig, selbst bei Nacht, die »Nächte« von Young und den »Schlüssel zu den Geheimnissen der Natur« von Eckartshausen; aus dem letzteren Werke machte er sogar längere Exzerpte; welcher Art diese aber waren, wußte niemand. Im übrigen war er sehr witzig, gebrauchte gerne erlesene Ausdrücke und liebte es, wie er sich selbst ausdrückte, seine Rede zu »würzen«. Er würzte seine Rede mit einer Menge von Partikeln und Wendungen wie: »Verehrtester Herr, wissen Sie, verstehen Sie, denken Sie sich nur, beziehungsweise, gewissermaßen« und ähnlichen, die er mit vollen Händen ausstreute; er würzte seine Rede ferner recht geschickt durch Blinzeln und Zwinkern mit dem einen Auge, was vielen seiner satirischen Andeutungen einen recht bissigen Ausdruck verlieh. Auch die anderen waren mehr oder weniger aufgeklärte Menschen: der eine las Karamsin, der andere die »Moskauer Nachrichten« und ein dritter las überhaupt nichts. Der eine war, was man eine Schlafmütze nennt, das heißt ein Mensch, dem man nur durch einen Fußtritt in Bewegung setzen konnte; ein anderer war einfach ein Siebenschläfer, der sein ganzes Leben verschlief und den zu wecken es sich überhaupt nicht lohnte: er würde sowieso nicht aufstehen. Was das Äußere betrifft, so machten alle, wie schon bekannt, einen durchaus zuverlässigen Eindruck; Schwindsüchtige gab es unter ihnen nicht. Es waren lauter Männer, denen die Gattinnen bei zärtlichen Gesprächen unter vier Augen folgende Kosenamen zu geben pflegten: Fäßchen, Dickerchen, Bäuchlein, Joujou usw. Doch im allgemeinen waren es liebe, gastfreundliche Menschen, und einer, der mit ihnen zu Mittag gegessen oder einen Abend lang Whist gespielt hatte, wurde von ihnen sofort ins Herz geschlossen – dies war ganz besonders bei Tschitschikow der Fall, der über bezaubernde Eigenschaften und Manieren verfügte und das große Geheimnis, den Menschen zu gefallen, wirklich kannte. Sie hatten ihn so sehr liebgewonnen, daß er gar keine Möglichkeit sah, aus der Stadt herauszukommen; er hörte nichts als: »Nun, noch eine Woche, nur noch eine einzige Woche bleiben Sie hier bei uns, Pawel Iwanowitsch!« Mit einem Worte, man trug ihn förmlich auf den Händen. Doch unvergleichlich bemerkenswerter war der Eindruck, den Tschitschikow auf die Damen machte; dieser war direkt erstaunlich! Um diese Erscheinung einigermaßen verständlich zu machen, müßte man eigentlich vieles über die Damen selbst und über ihre Gesellschaft sagen und ihre seelischen Eigenschaften sozusagen mit lebendigen Farben schildern; aber dem Autor fällt dieses sehr schwer. Einerseits gebietet ihm hier die unbeschränkte Achtung vor den Gattinnen der hohen Beamten halt, und andererseits . . . andererseits ist es einfach schwer. Die Damen der Stadt N. waren . . . nein, ich bringe es nicht fertig; ich empfinde wirklich eine Scheu. An den Damen der Stadt N. war am bemerkenswertesten . . . Es ist sogar sonderbar: ich kann nicht mal die Feder heben, wie wenn sie mit Blei gefüllt wäre. Also gut: ich muß es einem, dessen Farben lebendiger sind und der ihrer mehr auf seiner Palette hat, überlassen, sich über ihren Charakter zu äußern; wir beschränken uns aber nur auf zwei, drei Worte über ihr Äußeres und einige der oberflächlichen Züge. Die Damen der Stadt N. waren das, was man präsentabel nennt, und in dieser Beziehung könnte man sie allen anderen als ein Vorbild hinstellen. Was den guten Ton, die Etikette, die Menge der feinsten Anstandsregeln, besonders aber die Beobachtung der Mode in ihren letzten Einzelheiten betrifft, so hatten sie in dieser Beziehung selbst die Petersburger und die Moskauer Damen überflügelt. Sie kleideten sich mit großem Geschmack, fuhren durch die Stadt in den schönsten Equipagen, wie es die neueste Mode vorschrieb, mit goldbetreßten Lakaien hinten auf dem Trittbrett. Eine Visitenkarte galt, selbst wenn sie auf einer Treffzwei oder einem Karoas gedruckt war, als ein heiliger Gegenstand. Wegen eines solchen Gegenstandes entzweiten sich sogar einmal zwei Damen, die vorher große Freundinnen gewesen und sogar miteinander verwandt waren – weil eine von ihnen einen Gegenbesuch mankiert hatte. Wie sehr sich ihre Männer und Verwandten nachher auch bemühten, sie wieder zu versöhnen, es gelang ihnen nicht; es zeigte sich, daß alles auf der Welt zu erreichen ist, nur das eine nicht: zwei Damen zu versöhnen, die sich wegen eines mankierten Gegenbesuches entzweit haben. So verblieben denn diese beiden Damen in »gegenseitiger Abneigung«, wie man es in der guten Gesellschaft der Stadt nannte. Streitigkeiten wegen des Vorranges führten gleichfalls zu einer Menge sehr heftiger Auftritte, die den Männern zuweilen durchaus großmütige Begriffe von ihrem Ritteramt einflößten. Zu Duellen kam es natürlich nicht, weil sie doch alle Zivilbeamte waren; dafür suchten sie einander bei jeder Gelegenheit ein Bein zu stellen, was bekanntlich zuweilen viel unangenehmer ist als jedes Duell. In ihren Sitten waren die Damen der Stadt N. sehr streng, von einer edlen Entrüstung gegen alles Lasterhafte und Ärgerniserregende erfüllt und bestraften jede Schwäche ohne Nachsicht. Und wenn unter ihnen auch »manches« passierte, so passierte es immer im geheimen, so daß niemand etwas davon merkte; die ganze Würde blieb gewahrt, und der Gatte selbst war dermaßen vorbereitet, daß er, wenn er »manches« sah oder davon hörte, mit dem kurzen und vernünftigen Sprichworte antwortete: »Wen geht es was an, daß die Gevatterin neben dem Gevatter saß?« Es muß noch erwähnt werden, daß die Damen der Stadt N. sich gleich vielen Petersburger Damen durch eine große Vorsicht und feinen Takt in der Wahl der Ausdrücke auszeichneten. Niemals sagten sie: »Ich habe mich geschneuzt, ich habe geschwitzt, ich habe ausgespuckt«; sie sagten statt dessen: »Ich habe mir die Nase erleichtert, ich habe vom Taschentuch Gebrauch gemacht.« Unter keinen Umständen durfte man sagen: »Dieses Glas oder dieser Teller stinkt«; man durfte sogar nichts sagen, was einer Anspielung darauf gleichkäme; man sagte statt dessen: »Dieses Glas benimmt sich nicht gut« oder etwas Ähnliches. Um die russische Sprache noch mehr zu veredeln, hatten sie fast die Hälfte aller Worte gestrichen und mußten daher sehr oft zu französischen greifen; wenn man aber schon Französisch sprach, so war es eine ganz andere Sache: dann durfte man weit härtere Worte gebrauchen als die oben erwähnten. Das ist alles, was von den Damen der Stadt N., wenn man sich auf das Oberflächliche beschränkt, zu sagen ist. Wollte man aber tiefer hineinblicken, so würden noch manche andere Dinge zum Vorschein kommen; doch es ist sehr gefährlich, in Damenherzen tief hineinzublicken. Wir beschränken uns daher auf das Oberflächliche und fahren fort. Die Damen hatten bisher sehr wenig von Tschitschikow gesprochen, im übrigen aber seinen angenehmen Umgangsformen volle Gerechtigkeit gezollt. Als aber das Gerücht von seinem Millionenreichtum aufkam, fanden sie an ihm auch noch andere Vorzüge. Die Damen waren übrigens an seinem Reichtum in keiner Weise interessiert: das Wort »Millionär« – nicht der Millionär als solcher, sondern nur das bloße Wort – war an allem schuld; denn schon im bloßen Klange dieses Wortes ist, ganz abgesehen von der Vorstellung des Geldsackes, etwas enthalten, was in gleicher Weise auf die gemeinen Menschen, auf solche, die weder Fleisch noch Fisch sind, und auf die guten, mit einem Worte, auf alle Menschen wirkt. Der Millionär hat den Vorteil, daß er die vollkommen uneigennützige Gemeinheit, die reine Gemeinheit, die auf keinerlei eigennützigen Motiven beruht, zu sehen bekommt: viele wissen sehr gut, daß sie von ihm nichts bekommen werden und auch gar keinen Anspruch darauf haben, von ihm etwas zu bekommen, und doch müssen sie unbedingt vor ihm herlaufen, ihm wenigstens zulächeln, wenigstens den Hut vor ihm ziehen, wenigstens sich als Gast zu einem Mittagessen aufdrängen, zu dem der Millionär eingeladen ist. Man kann nicht behaupten, daß diese zarte Neigung zur Gemeinheit auch von den Damen empfunden worden wäre; doch man äußerte in vielen Salons, daß Tschitschikow, wenn auch nicht gerade der schönste Mann auf dem Erdenrund, dafür aber gerade so beschaffen sei, wie ein Mann beschaffen sein solle; daß es schon nicht mehr gut wäre, wenn er ein wenig dicker oder voller wäre. Bei dieser Gelegenheit wurde sogar eine recht verletzende Bemerkung über die dünnen Männer gemacht: diese seien mehr Zahnstocher als Männer. An den Damentoiletten zeigten sich allerlei Veränderungen. Im städtischen Kaufhause herrschte auf einmal großes Gedränge; es entstand sogar eine Art Korso: so viele Equipagen sammelten sich da an. Die Kaufleute waren erstaunt, als sie sahen, daß einige Stoffe, die sie von der Messe mitgebracht hatten und die infolge des als zu hoch angesehenen Preises unverkauft geblieben waren, plötzlich viel verlangt wurden und im Nu ausverkauft waren. Während des Gottesdienstes bemerkte man bei einer der Damen unten am Kleide einen so üppigen Besatz, daß der Rock die halbe Kirche füllte und der zufällig in der Nähe anwesende Polizeikommissar das Volk zum Portal zurückdrängen lassen mußte, damit die Toilette ihrer Hochwohlgeboren nicht zerdrückt werde. Sogar Tschitschikow selbst mußte schließlich diese ihm entgegengebrachte ungewöhnliche Aufmerksamkeit wahrnehmen. Als er einmal nach Hause zurückkehrte, fand er auf seinem Tische einen Brief vor. Von wem der Brief stammte und wer ihn gebracht hatte, ließ sich nicht feststellen: der Gasthofdiener meldete nur: jemand habe den Brief gebracht, ihm aber verboten, zu sagen, von wem der Brief sei. Der Brief fing in einem sehr entschiedenen Tone an, und zwar: »Nein, ich muß Dir schreiben!« Dann war die Rede davon, daß es eine geheime Sympathie zwischen den Seelen gäbe; diese Wahrheit war durch mehrere Punkte bekräftigt, die beinahe eine halbe Zeile füllten. Weiter folgten einige so treffende Gedanken, daß wir es beinahe für notwendig halten, sie hier zu zitieren: »Was ist unser Leben? – Ein Tal, in dem die Leiden wohnen. Was ist die Welt? – Ein Haufen von Menschen, die nichts fühlen.« Die Schreiberin berichtete ferner, daß sie die Zeilen ihrer zärtlichen Mutter, die schon vor fünfundzwanzig Jahren gestorben sei, mit ihren Tränen benetze; Tschitschikow wurde aufgefordert, in die Wüste zu ziehen und die Stadt, wo die Menschen in ihren dumpfen Mauern keine Luft atmen, für immer zu verlassen; das Ende des Briefes drückte sogar absolute Verzweiflung aus; er schloß mit den Versen:

Zwei Turteltauben zeigen
Dir meiner Asche Haus
Und girren in den Zweigen:
Sie starb und weinte sich die Augen aus!

In der letzten Zeile stimmte zwar das Versmaß nicht, allein das machte nichts: der Brief war ganz im Geiste der damaligen Zeit geschrieben. Es fehlte jede Unterschrift: weder Name, noch Vorname, noch das Datum waren angegeben. Im Postskriptum hieß es nur, daß das eigene Herz des Adressaten die Schreiberin erraten müsse und daß auf dem morgen stattfindenden Ball beim Gouverneur das Original selbst anwesend sein werde.

Das interessierte ihn außerordentlich. In der Anonymität lag so viel Verlockendes und die Neugierde Reizendes, daß er den Brief noch ein zweites und ein drittes Mal las und schließlich sagte: »Es wäre doch recht interessant zu erfahren, wer ihn geschrieben hat!« Mit einem Wort, die Sache schien eine ernste Wendung nehmen zu wollen; länger als eine Stunde dachte er darüber nach; dann spreizte er die Arme, neigte den Kopf und sagte: »Der Brief ist doch sehr kunstvoll geschrieben!« Zuletzt faltete er den Brief selbstverständlich zusammen und legte ihn in die Schatulle neben einen Theaterzettel und eine Familienanzeige, die seit sieben Jahren an der gleichen Stelle lag. Etwas später brachte man ihm tatsächlich eine Einladung zum Ball beim Gouverneur; solche Bälle sind in den Gouvernementsstädten durchaus gewöhnlich: denn ohne einen Ball kann der Gouverneur gar nicht auf die Liebe und den Respekt des Adels rechnen.

Alles nicht zur Sache Gehörige wurde sofort zur Seite geschoben, und alle seine Sinne richteten sich auf die Vorbereitungen zum Ball; denn er hatte in der Tat viele anspornende Gründe dafür. Dafür ist aber wohl seit der Erschaffung der Welt noch nie soviel Zeit auf die Toilette verwendet worden. Eine ganze Stunde war nur dem Betrachten des Gesichts im Spiegel gewidmet. Er versuchte, ihm eine ganze Menge der verschiedensten Ausdrücke zu verleihen: bald einen würdigen und soliden, bald einen respektvollen mit einem gewissen Lächeln, bald einen einfach respektvollen ohne Lächeln; er machte gegen den Spiegel mehrere Verbeugungen, die er mit einigen unartikulierten Lauten begleitete, die wie Französisch klangen, obwohl Tschitschikow kein Wort Französisch verstand. Er bereitete sich selbst eine Menge angenehmster Überraschungen, indem er sich mit den Augenbrauen und mit den Lippen zuzwinkerte und sogar einige Bewegungen mit der Zunge machte; was macht der Mensch nicht alles, wenn er allein ist, sich seiner Schönheit bewußt und obendrein auch überzeugt ist, daß niemand durch eine Türspalte hereinguckt. Zuletzt streichelte er sich leicht das Kinn und sagte: »Ach, du nettes Kerlchen!« Hierauf begann er sich anzukleiden. Während des ganzen Ankleideprozesses befand er sich in der zufriedensten Stimmung: als er die Hosenträger anknöpfte und sich die Krawatte umband, machte er Kratzfüße und Verbeugungen; obwohl er nie im Leben getanzt hatte, machte er dennoch einen Luftsprung. Dieser Luftsprung hatte auch einige kleine harmlose Folgen: die Kommode erzitterte, und die Bürste fiel vom Tisch.

Sein Erscheinen auf dem Ball erregte ein ungewöhnliches Aufsehen. Das ganze Publikum wandte sich ihm zu – der eine mit Karten in der Hand, der andere im interessantesten Punkte eines Gesprächs, nachdem er gerade gesagt hatte: »Und die niedere Instanz des Kreisgerichts antwortete darauf . . .« Was aber das Kreisgericht antwortete, das verschwieg er und eilte unserem Helden entgegen, um ihn zu begrüßen. »Pawel Iwanowitsch! Ach, mein Gott, Pawel Iwanowitsch! Liebster Pawel Iwanowitsch! Verehrtester Pawel Iwanowitsch! Mein Herz, Pawel Iwanowitsch! Da sind Sie also, Pawel Iwanowitsch! Da ist er, unser Pawel Iwanowitsch! Lassen Sie sich ans Herz drücken, Pawel Iwanowitsch! Laßt ihn mal mir, ich will ihn recht fest umarmen und küssen, meinen teuren Pawel Iwanowitsch!« Tschitschikow fühlte sich zugleich von mehreren Menschen umarmt. Er hatte sich noch nicht ganz aus der Umarmung des Kammervorsitzenden befreit, als er schon in den Armen des Polizeimeisters lag; der Polizeimeister übergab ihn dem Inspektor der Medizinalverwaltung; der Inspektor der Medizinalverwaltung dem Branntweinpächter, der Branntweinpächter – dem Stadtarchitekten . . . Als der Gouverneur, der gerade in Gesellschaft einiger Damen stand und in der einen Hand eine Bonbonhülle und in der anderen ein Bologneser Hündchen hielt, ihn erblickte, ließ er sofort wie die Bonbonhülle so auch das Bologneser Hündchen zu Boden fallen – das Hündchen winselte nur –, mit einem Worte, Tschitschikow verbreitete eine ungewöhnliche Freude und Heiterkeit. Da gab es kein einziges Gesicht, das nicht das größte Vergnügen zeigte oder wenigstens das allgemeine Vergnügen widerspiegelte. Das kann man an den Gesichtern von Beamten beobachten, wenn ein hoher Vorgesetzter zur Revision ins Amt gekommen ist: nachdem der erste Schreck vorüber ist, sehen sie, daß ihm manches gefallen hat und daß er sogar zu scherzen, das heißt mit einem angenehmen Lächeln einige Worte zu sagen geruht – dann lachen die sich um ihn drängenden Beamten doppelt so laut; außerordentlich herzlich lachen diejenigen, die die von ihm gesprochenen Worte nur schlecht gehört haben; und selbst der ganz weit an der Türe stehende Polizist, der in seinem Leben noch nie gelacht und der kurz vorher dem Volke mit der Faust gedroht hat – auch dieser zeigt nach den unveränderlichen Gesetzen der Reflexion etwas wie ein Lächeln, obwohl dieses Lächeln mehr dem Ausdruck gleicht, den man nach einer starken Prise Schnupftabak unmittelbar vor dem Schnupfen annimmt. Unser Held beantwortete jede Liebenswürdigkeit und fühlte sich ungewöhnlich leicht beschwingt: er verbeugte sich nach rechts und nach links, zwar etwas schief, wie es seine Gewohnheit war, doch vollkommen ungezwungen, so daß alle bezaubert waren. Die Damen umringten ihn sofort als glänzende Girlande, die ganze Wolken von Wohlgerüchen jeder Art ausströmte: die eine atmete Rosenduft, die andere roch nach Frühling und Veilchen, die dritte war stark mit Reseden parfümiert; Tschitschikow hob nur die Nase in die Höhe und schnüffelte. Die Toiletten zeigten ein wahres Meer von Geschmack: die Mousseline-, Atlas- und Gazestoffe waren von den modernen blassen Tönen, für die es sogar keine Namen gibt – so raffiniert war der Geschmack! Die Bänder und Blumensträuße umschwebten die Kleider in der malerischsten Unordnung, obwohl diese Unordnung von manchem tüchtigen Kopf reiflich durchdacht war. Ein leichter Kopfschmuck war nur an den Ohren befestigt und schien sagen zu wollen: »Paßt auf, gleich fliege ich davon! Schade nur, daß ich die Schöne nicht mitnehmen kann!« Die Taillen waren stramm umspannt und zeigten feste und für die Augen angenehme Formen (es ist zu bemerken, daß alle Damen der Stadt N. im allgemeinen etwas voll waren, sich aber so kunstvoll zu schnüren verstanden und so angenehme Manieren hatten, daß man diese Fülle gar nicht sah). Alles war bei ihnen mit ungewöhnlichem Scharfsinn durchdacht und vorgesehen: der Hals und die Schultern waren gerade so tief entblößt, als es nötig war und auch nicht um ein Haar tiefer; eine jede zeigte ihre Besitzungen gerade so weit, als diese nach ihrer eigenen Überzeugung imstande waren, einen Menschen zugrunde zu richten; alles übrige war mit ungewöhnlichem Geschmack versteckt: bald umschlang ein leichtes Bändchen, leichter als das Gebäck, das unter dem Namen »Baiser« bekannt ist, ätherisch den Hals, bald ragten an den Schultern aus dem Kleide kleine gezackte Hüllen aus feinstem Batist hervor, die man »Sittsamkeiten« nennt. Diese »Sittsamkeiten« verhüllten vorne und hinten alles, was den Menschen nicht mehr zugrunde richten konnte, erregten aber zugleich die Meinung, daß gerade unter ihnen das Verderben stecke. Die langen Handschuhe waren nicht bis zu den Ärmeln hinaufgezogen, sondern ließen mit Absicht die Leidenschaft erregenden Teile der Arme oberhalb des Ellenbogens, die bei vielen eine beneidenswerte Fülle atmeten, entblößt, bei manchen waren die Glacéhandschuhe bei den Versuchen, sie höher hinaufzuziehen, sogar geplatzt – mit einem Worte, alles schien die Etikette zu tragen: »Nein, das ist keine Gouvernementsstadt, das ist die Residenz, das ist Paris!« Nur hier und da guckte irgendeine noch nie dagewesene Haube hervor oder eine Feder, vielleicht sogar eine Pfauenfeder, die im Widerspruch zu jeder Mode nur dem eigenen Geschmack der Trägerin entsprach. Ohne das geht es aber nicht ab, das ist schon einmal die Eigenschaft der Gouvernementsstadt: irgendwie muß sie sich immer blamieren. Während Tschitschikow die Damen betrachtete, dachte er: »Welche mag wohl die Schreiberin des Briefes sein?« Er versuchte sogar, seine Nase hervorzustrecken, doch diese geriet sofort in einen Strudel von Ellenbogen, Aufschlägen, Ärmeln, Schleifenenden, duftigen Chemisetten und Kleidern. Die Galoppade fegte wie toll dahin: die Postmeisterin, der Polizeihauptmann, eine Dame mit einer blauen Feder, eine Dame mit einer weißen Feder, der georgische Fürst Tschipchaichilidsew, ein Beamter aus Petersburg, ein Beamter aus Moskau, der Franzose Coucou, ein Herr Perchunowskij, ein Herr Berenkendowskij – alles erhob sich und raste dahin . . .

»So! Nun ist die Gouvernementsstadt los!« sagte Tschitschikow zurückweichend. Sobald die Damen auf ihren Plätzen saßen, begann er wieder auszuschauen, ob es sich nicht an dem Ausdruck eines Gesichts oder eines Augenpaares erkennen ließe, wer die Briefschreiberin war; aber weder der Gesichtsausdruck noch der Ausdruck der Augen verrieten die Briefschreiberin. An allen sah er etwas unfaßbar Feines, etwas furchtbar Raffiniertes! . . . »Nein,« sagte Tschitschikow zu sich selbst, »die Frauen sind so eine Sache . . .« – hier winkte er mit der Hand und fuhr fort: »Darüber ist überhaupt nichts zu sagen! Versuch nur einer mit Worten, alles, was über ihr Gesicht läuft, alle diese Ausstrahlungen und Andeutungen wiederzugeben . . . nein, das läßt sich gar nicht wiedergeben. Die Augen allein sind schon ein so grenzenloses Reich, daß ein Mensch, der hineingerät, unrettbar verloren ist! Dann kann man ihn weder mit einem Haken noch mit einem anderen Werkzeug herausziehen. Versuch' nur einer, ihren Glanz allein zu beschreiben: er ist feucht, samtweich, zuckersüß – Gott allein weiß, was er nicht alles ist: hart und weich, sogar schmachtend oder, wie es manche nennen, trunken vor Wonne und auch ohne Wonne; das gefährlichste aber ist, wenn er wonnetrunken ist: dann dringt er einem tief ins Herz hinein oder fährt über die Seele wie ein Fiedelbogen. Nein, man findet einfach kein Wort dafür: es ist eben die Galanteriebranche des Menschengeschlechts und sonst nichts!«

Pardon! Dem Munde unseres Helden ist, glaube ich, ein auf der Straße aufgefangener Ausdruck entschlüpft. Was ist zu machen? So ist einmal die Lage des Schriftstellers in Rußland! Übrigens, wenn ein Wort aus der Straße ins Buch geraten ist, so ist es nicht die Schuld des Schriftstellers, sondern die der Leser und vor allem der Leser aus den höheren Gesellschaftsschichten: von ihnen bekommt man nie ein anständiges russisches Wort zu hören; französische, deutsche und englische Worte setzen sie einem wohl in solcher Menge vor, daß man kaum zuhören mag; sie gebrauchen sie sogar unter Beibehaltung der verschiedenen Aussprachen: sprechen sie Französisch, dann unbedingt mit dem französischen »r« und durch die Nase; das Englische reden sie wie ein Vogel und nehmen dabei sogar den Gesichtsausdruck eines Vogels an; sie lachen einen sogar aus, der dieses Vogelgesicht nicht nachmachen kann. Ein russisches Wort setzen sie aber einem niemals vor; höchstens daß sie aus Patriotismus bei sich auf dem Lande einen Bau in russischem Stil aufführen. So sind also die Leser aus den höheren Schichten und auch alle, die sich selbst zu den höheren Schichten rechnen! Und dabei kommen sie noch mit Ansprüchen! Sie verlangen, daß alles in einer korrekten, gereinigten und edlen Sprache abgefaßt sei – mit einem Worte, sie verlangen, daß die russische Sprache fertig verfeinert ganz von selbst aus den Wolken falle und sich ihnen gerade auf die Zunge setze, so daß sie nur den Mund zu öffnen und die Zunge herauszustrecken brauchen. Die weibliche Hälfte des Menschengeschlechts ist allerdings recht diffizil; doch die geehrten Leser sind zuweilen, offen gestanden, noch diffiziler.

Tschitschikow war indessen ganz ratlos, welche von den Damen wohl die Briefschreiberin gewesen sei. Als er gespannter hinzublicken versuchte, sah er, daß auch die Damengesichter etwas ausdrückten, was zugleich Hoffnungen und süße Qualen in den Herzen der armen Sterblichen weckte, und schließlich sagte er sich: »Nein, man kann es unmöglich erraten!« Dies tat jedoch der frohen Gemütsverfassung, in der er sich befand, keinen Abbruch. Er wechselte ungezwungen und sehr gewandt einige angenehme Worte mit einigen der Damen und trippelte bald auf die eine, bald auf die andere mit kleinen Schrittchen zu, wie es gewöhnlich die kleinen galanten Greise auf hohen Absätzen zu tun pflegen, die sehr geschickt um die Damen herumscharwenzeln. Nachdem er sich so mit kleinen Schrittchen recht geschickt nach rechts und nach links bewegt hatte, scharrte er mit dem Fuße und beschrieb dabei einen kurzen Schnörkel oder eine Art Komma. Die Damen waren überaus zufrieden und fanden an ihm nicht nur eine Menge angenehmer und liebenswürdiger Eigenschaften, sondern auch einen majestätischen Gesichtsausdruck, sogar etwas Martialisches und Kriegerisches, was bekanntlich den Damen gut gefällt. Seinetwegen entstanden sogar kleine Streitigkeiten: da sie merkten, daß er gewöhnlich vor der Türe stand, suchten manche die Plätze in der Nähe der Türe zu besetzen; als es der einen gelang, den anderen zuvorzukommen, kam es beinahe zu einem unangenehmen Auftritt, und diese Frechheit erschien vielen, die eigentlich das gleiche tun wollten, allzu stark.

Tschitschikow war so sehr von den Gesprächen mit den Damen hingerissen, oder wurde vielmehr von den Damen, die einen ganzen Haufen komplizierter und raffinierter allegorischer Andeutungen, die er sämtlich zu erraten hatte, nur so aus dem Ärmel schüttelten, so daß ihm sogar der Schweiß auf die Stirne trat, beschäftigt – daß er die erste Anstandspflicht vernachlässigte und es unterließ, sich zuerst der Dame des Hauses zu widmen. Dieses fiel ihm erst dann ein, als er die Stimme der Gouverneurin selbst hörte, die schon seit einigen Minuten vor ihm stand. Die Gouverneurin sprach mit freundlicher und schelmischer Stimme, mit anmutigem Kopfnicken: »So sind Sie also, Pawel Iwanowitsch! . . .« Ich kann die Worte der Gouverneurin nicht genau wiedergeben, sie sagte aber etwas, was von großer Freundlichkeit erfüllt war, und zwar in dem Stile, in dem die Damen und die Kavaliere in den Erzählungen unserer Salonschriftsteller, die es lieben, die höhere Welt zu schildern und mit der Kenntnis des höheren Tones zu prahlen, zu sprechen pflegen – also etwa: »Hat man sich denn Ihres Herzens schon so gänzlich bemächtigt, daß darin kein Plätzchen für die von Ihnen so erbarmungslos Vergessenen übriggeblieben ist?« Unser Held wandte sich augenblicklich zu der Gouverneurin und war schon bereit, ihr eine Antwort zu geben, die in keiner Weise schlechter gewesen wäre als die Antworten, die in den modischen Erzählungen alle die Swonskijs, Linskijs, Lidins, Gremins und die glänzenden Offiziere zu geben pflegen, als er unwillkürlich die Augen hob und sich plötzlich wie von einem Schlage betäubt fühlte.

Vor ihm stand nicht die Gouverneurin allein: sie hielt ein sechzehnjähriges junges Mädchen an der Hand, eine frische Blondine, mit feinen und anmutigen Gesichtszügen, mit etwas spitzem Kinn und einem wunderbar gerundeten Oval des Gesichts, das ein Künstler wohl zu einem Modell für eine Madonna gewählt hätte und wie man es in Rußland nur selten trifft, wo alles gerne in die Breite geht: Berge, Wälder, Steppen, Gesichter, Lippen und Füße – dieselbe Blondine, der er unterwegs begegnet war, als er von Nosdrjow fuhr, als infolge der Dummheit der Kutscher oder der Pferde ihre Equipagen so merkwürdig zusammenstießen, das Geschirr durcheinandergeriet und Onkel Mitjaj und Onkel Minjaj die Sache zu entwirren versuchten. Tschitschikow wurde so verlegen, daß er kein vernünftiges Wort zu sagen wußte und weiß der Teufel was stammelte, was ein Gremin, ein Swonskij oder ein Lidin keineswegs gesagt hätten.

»Kennen Sie meine Tochter noch nicht?« sagte die Gouverneurin. »Sie kommt soeben aus dem Institut.«

Er antwortete, daß er bereits das Vergnügen gehabt hätte, sie zufälligerweise kennenzulernen; er versuchte noch etwas hinzuzufügen, aber das Etwas mißlang ihm völlig. Die Gouverneurin sagte noch einige Worte und begab sich mit ihrer Tochter ans andere Ende des Saales zu den anderen Gästen; Tschitschikow stand aber noch immer unbeweglich auf dem gleichen Fleck wie ein Mensch, der in froher Laune auf die Straße getreten ist, um einen kleinen Spaziergang zu machen, mit Augen, die bereit sind, alles aufzunehmen, und der plötzlich stehengeblieben ist, weil er sich erinnert hat, daß er etwas vergessen hat; es gibt keinen dümmeren Anblick als den, den der Mensch in diesem Zustande bietet: der sorgenlose Ausdruck hat sich sofort von seinem Gesichte verflüchtigt; er bemüht sich, darauf zu kommen, was er eigentlich vergessen hat: das Taschentuch? doch das Taschentuch ist in der Tasche; das Geld? auch das Geld ist in der Tasche; er scheint alles bei sich zu haben, und doch raunt ihm ein unbekannter Geist zu, daß er etwas vergessen habe. Er blickt ratlos und geistesabwesend auf die an ihm vorüberwogende Menge, auf die vorübersausenden Equipagen, auf die Helme und Gewehre eines vorbeimarschierenden Regiments, auf ein Aushängeschild, und sieht eigentlich nichts. So stand auch Tschitschikow auf einmal allem, was um ihn her geschah, fremd gegenüber. Indessen richteten an ihn duftende Damenlippen eine Menge von Anspielungen und Fragen, die von Feinheit und Liebenswürdigkeit durch und durch erfüllt waren: »Ist es uns armen Erdbewohnerinnen gestattet, uns zu erkühnen, Sie zu fragen, woran Sie denken?« – »Wo liegen die seligen Gegenden, wo Ihre Gedanken flattern?« – »Darf man den Namen derjenigen erfahren, die Sie in dieses süße Tal der Versunkenheit versetzt hat?« Er aber schenkte allen diesen Fragen nicht die geringste Beachtung, und die angenehmen Phrasen verflogen wie Rauch. Er war sogar so unliebenswürdig, daß er alle die Damen verließ und sich in eine andere Gegend des Saales begab, um festzustellen, wohin die Gouverneurin mit ihrer Tochter gegangen war. Die Damen wollten ihn aber wohl nicht so leicht loslassen: eine jede faßte innerlich den Entschluß, alle Mittel anzuwenden, die unseren Herzen so gefährlich sind, und alles Schönste, was sie nur hatte, als Waffe zu gebrauchen. Es ist zu erwähnen, daß einige Damen – ich sage: einige, also durchaus nicht alle – eine kleine Schwäche haben: wenn sie an sich etwas Schönes wissen, sei es die Stirne, der Mund oder die Hände, so sind sie überzeugt, daß dieser schönere Teil allen sofort in die Augen fallen muß und daß alle wie aus einem Munde sagen werden: »Schaut nur, schaut nur, was sie für eine schöne griechische Nase hat!« oder »Welch eine herrliche, regelmäßige Stirn!« Eine, die schöne Schultern hat, ist im voraus überzeugt, daß alle jungen Leute hingerissen sind und sooft sie an ihnen vorbeigeht, wiederholen werden: »Ach, was sie für herrliche Schultern hat!« Ihr Gesicht, die Haare, die Nase, die Stirne werden sie aber gar nicht anschauen, und wenn sie sie auch anschauen, so doch nur als etwas ganz Nebensächliches. So denken manche Damen. Jede Dame gab sich innerlich das Gelübde, beim Tanze möglichst bezaubernd zu erscheinen und im größten Glanze alle die Vorzüge zu zeigen, die sie überhaupt hatte. Die Postmeisterin neigte beim Walzer ihren Kopf so schmachtend auf die Seite, daß der Eindruck wirklich überirdisch war. Eine sehr liebenswürdige Dame, welche, als sie vom Hause aufbrach, gar nicht die Absicht hatte, zu tanzen, infolge einer, wie sie sich selbst ausdrückte, kleinen Inkommodität am rechten Fuße in Gestalt eines kleinen Hühnerauges, was sie sogar veranlaßte, Hausschuhe aus Plüsch anzuziehen – hielt es dennoch nicht aus und tanzte einige Runden in den Hausschuhen, nur damit sich die Postmeisterin nicht allzuviel einbilde.

Das alles verfehlte aber bei Tschitschikow die beabsichtigte Wirkung. Er sah sogar die tanzenden Damen gar nicht an, sondern reckte sich nur immer auf den Zehenspitzen, um über die Köpfe hinweg auszuspähen, wohin die interessante Blondine wohl verschwunden sein möge; er hockte sich auch hin und blickte zwischen den Schultern und Rücken hindurch, bis er sie endlich fand: sie saß neben ihrer Mutter, die einen majestätischen orientalischen Turban mit schwankender Feder trug. Es hatte den Anschein, als wollte er sie im Sturm nehmen. War das die Wirkung des Frühlings, oder stieß ihn jemand von hinten – jedenfalls drängte er sich, koste es, was es wolle, vor: der Branntweinpächter bekam von ihm einen so starken Stoß, daß er wankte und sich nur mit Mühe auf einem Beine festhielt, sonst hätte er wohl die ganze Reihe umgeschmissen; der Postmeister taumelte zurück und blickte ihn mit Verwunderung an, zu der sich auch eine feine Ironie gesellte; Tschitschikow sah sie aber gar nicht an: er sah nur in der Ferne die Blondine, die gerade einen langen Handschuh anzog und zweifellos vor Verlangen brannte, über das Parkett zu fliegen. Etwas abseits tanzten aber schon vier Paare eine Mazurka: die Absätze durchlöcherten fast den Boden, und ein Stabshauptmann von der Linie arbeitete mit Leib und Seele, mit Armen und Beinen und vollführte solche Pas, wie sie wohl noch kein Mensch selbst im Traume vollführt hat. Tschitschikow huschte an der Mazurka vorbei, glitt beinahe über die Absätze hinweg und flog geradezu an den Platz, wo die Gouverneurin mit ihrer Tochter saß. Er trat jedoch sehr scheu an sie heran, bewegte nicht mehr so flink und elegant die Füße, schien sogar etwas ratlos, und alle seine Bewegungen zeugten von einer gewissen Verlegenheit.

Es läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, ob in unserem Helden wirklich die Liebe erwacht war; es ist sogar sehr zweifelhaft, ob die Herren von seinem Schlag, also solche, die nicht gerade dick, aber auch nicht gerade dünn sind, überhaupt der Liebe fähig sind. Und doch steckte in alledem etwas Seltsames, etwas von dieser Art, was er sich selbst nicht erklären konnte: es kam ihm so vor, wie er es nachträglich selbst eingestand, als wäre der ganze Ball mit seinem ganzen Gerede und Lärm für einige Minuten in die Ferne zurückgetreten; die Geigen und die Trompeten tönten irgendwo hinter den Bergen, und alles war in einen Nebel gehüllt, der an eine nachlässig hingeschmierte Partie eines Bildes erinnerte. Und aus diesem nachlässig auf die Leinwand hingeworfenen Nebel traten nur die feinen Züge der bezaubernden Blondine klar und deutlich hervor: ihr rundliches Gesichtsoval, ihre feine schmale Taille, wie sie nur ein junges Mädchen in den ersten Monaten nach dem Austritt aus dem Institut hat, ihr weißes, beinahe einfaches Kleidchen, das leicht und fließend ihre jungen schlanken Glieder umspannte, welche wunderbar reine Linien zeigten. Sie schien ganz einem mit fester Hand aus Elfenbein geschnitzten Spielzeuge zu gleichen; sie allein leuchtete weiß, durchsichtig und hell aus der trüben und undurchsichtigen Masse hervor.

Offenbar ist es auf dieser Welt immer so; offenbar werden auch die Tschitschikows für einige Minuten in ihrem Leben zu Dichtern; aber das Wort »Dichter« wäre doch schon etwas zuviel. Jedenfalls fühlte er sich wie ein junger Mann, beinahe wie ein Husar. Als er neben dem jungen Mädchen und ihrer Mutter einen freien Stuhl bemerkte, nahm er ihn sofort ein. Das Gespräch wollte anfangs nicht recht in Fluß kommen, aber nach einiger Zeit ging die Sache besser; er fühlte sogar einigen Mut, aber . . . Hier müssen wir zu unserem größten Leidwesen bemerken, daß die soliden Männer und solche, die wichtige Ämter bekleiden, in Gesprächen mit Damen meist etwas schwerfällig sind; Meister in dieser Beziehung sind die Herren Leutnants, doch nur, solange sie nicht zu Hauptleuten befördert worden sind. Wie sie das anstellen, das weiß Gott allein; es ist doch wahrhaftig nichts Besonderes, was sie erzählen, und doch schüttelt sich so ein junges Mädchen auf ihrem Stuhle vor Lachen; ein Staatsrat dagegen erzählt Gott weiß was; entweder bringt er die Rede darauf, daß Rußland ein weit ausgedehntes Reich sei oder läßt ein Kompliment los, das zwar nicht ohne Geist erdacht ist, aber entsetzlich nach einem Buche riecht; und wenn er etwas Komisches sagt, so lacht er darüber unvergleichlich mehr als diejenige, die ihm zuhört. Diese Bemerkung machte ich hier, damit die Leser begreifen, warum die Blondine während der Erzählungen unseres Helden zu gähnen anfing. Unser Held merkte dies aber gar nicht, als er eine Menge von unangenehmen Dingen vorbrachte, die er schon bei ähnlichen Anlässen an verschiedenen Orten vorzubringen die Gelegenheit gehabt hatte: im Ssimbirsker Gouvernement bei Ssofron Iwanowitsch Bespetschnyj, bei dem sich damals seine Tochter Adelaida Ssofronowna mit ihren drei Schwägerinnen: Maria Gawrilowna, Alexandra Gawrilowna und Adelheide Gawrilowna aufhielt; bei Fjodor Fjodorowitsch Perekrojew im Rjasaner Gouvernement; bei Frol Wassiljewitsch Pobjedonosnyj im Pensaschen Gouvernement und bei dessen Bruder Pjotr Wassiljewitsch im Beisein von dessen Schwägerin Katerina Michailowna und deren Cousinen zweiten Grades: Rosa Fjodorowna und Emilia Fjodorowna; im Wjatsker Gouvernement bei Pjotr Warssonofjewitsch im Beisein der Schwester seiner Schwiegertochter Pelageja Jegorowna, deren Nichte Ssofja Rostislawowna und deren beiden Stiefschwestern Ssofja Alexandrowna und Maklatura Alexandrowna.

Dieses Benehmen Tschitschikows mißfiel allen Damen. Eine von ihnen ging absichtlich an ihm vorbei, um ihm dies zu verstehen zu geben; sie streifte sogar die Blondine recht ungeniert mit ihrem dick aufgebauschten Kleide und richtete es zugleich so ein, daß die Schärpe, die um ihre Schultern flatterte, die Blondine mit einem Ende gerade ins Gesicht traf. Gleichzeitig entfuhr einem Damenmunde hinter seinem Rücken zugleich mit dem Veilchengeruch eine recht giftige und boshafte Bemerkung; diese Bemerkung hörte er aber nicht oder tat nur so, als ob er sie nicht hörte; das war aber nicht gut getan, denn man darf die Meinung von Damen nicht ignorieren: dies bereute er auch später, doch erst, als es schon zu spät war.

Eine in vielen Beziehungen gerechte Empörung malte sich in vielen Zügen. Tschitschikow mochte ein noch so großes Gewicht in der Gesellschaft haben und als Millionär gelten, sein Gesicht mochte einen noch so majestätischen und selbst martialischen und kriegerischen Ausdruck zeigen, aber es gibt Dinge, die die Damen keinem Menschen verzeihen, wer er auch sei, und dann ist alles verloren! Es gibt Fälle, wo eine Frau, so schwach und ohnmächtig ihr Charakter im Vergleich mit dem eines Mannes auch ist, plötzlich nicht nur fester als der Mann, sondern als alles in der Welt wird. Die von Tschitschikow beinahe unbeabsichtigte Geringschätzung stellte unter den Damen sogar die Einigkeit wieder her, die früher anläßlich des Kampfes um den Stuhl in seiner Nähe beinahe zusammengebrochen war. In einigen trockenen, ganz gewöhnlichen Worten, die er ohne jede böse Absicht gebraucht hatte, erblickte man bissige Anspielungen. Um das Unglück voll zu machen, verfaßte einer der anwesenden jungen Leute ein satirisches Gedicht auf die ganze Tanzgesellschaft, ohne das es bei den Bällen in den Gouvernementsstädten bekanntlich niemals abgeht. Dieses Gedicht wurde sofort Tschitschikow zugeschrieben. Die Empörung wuchs, und die Damen begannen in den verschiedenen Ecken des Saales in einem recht ungünstigen Sinne über ihn zu sprechen; die arme Institutsschülerin war aber vollkommen vernichtet, und ihr Todesurteil war unterschrieben.

Inzwischen blühte unserem Helden eine überaus unangenehme Überraschung: während die Blondine gähnte und er ihr allerlei Geschichten aus den verschiedensten Zeitaltern auftischte und sogar den griechischen Philosophen Diogenes berührte, erschien aus dem Nebenzimmer Nosdrjow. Kam er aus dem Büfett gelaufen oder aus dem kleinen grünen Salon, wo ein bedenklicheres Spiel als der gewöhnliche Whist gespielt wurde, kam er freiwillig, oder hatte man ihn herausgeworfen – jedenfalls erschien er heiter, lustig, den Staatsanwalt am Arme haltend, den er offenbar schon seit einiger Zeit mit sich herumschleppte, denn der arme Staatsanwalt hob und senkte seine buschigen Augenbrauen, als suchte er nach einem Mittel, sich von dieser freundschaftlichen Begleitung zu befreien. Diese war auch in der Tat unerträglich. Nosdrjow, der, um sich Mut zu machen, zwei Tassen Tee, natürlich nicht ohne Rum, getrunken hatte, log das Blaue vom Himmel herunter. Als Tschitschikow ihn von ferne sah, entschloß er sich sogar zu einem Opfer, das heißt, er wollte seinen beneidenswerten Posten aufgeben und sich so schnell als möglich entfernen: diese Begegnung verhieß ihm nichts Gutes. Doch zu seinem Unglück erschien jetzt auf der Bildfläche der Gouverneur, der seine große Freude darüber äußerte, daß er Pawel Iwanowitsch endlich gefunden habe und ihn ersuchte, den Schiedsrichter in seinem Streite mit zwei Damen zu machen; es handelte sich um die Frage, ob die weibliche Liebe von Dauer sei oder nicht; Nosdrjow hatte ihn aber schon bemerkt und ging direkt auf ihn zu.

»Ah, der Cherssoner Gutsbesitzer, der Cherssoner Gutsbesitzer!« schrie er, näher kommend und so laut lachend, daß seine frischen und wie Frühjahrsrosen roten Backen erzitterten. »Nun, hast du viel Tote eingekauft? Sie kennen ihn noch nicht, Exzellenz«, schrie er, sich an den Gouverneur wendend: »Er handelt mit toten Seelen! Bei Gott! Hör einmal, Tschitschikow! Du bist ja, ich sage es dir in aller Freundschaft, wir alle sind deine Freunde, auch Seine Exzellenz ist dabei – ich würde dich aufhängen lassen, bei Gott, ich würde dich aufhängen lassen!«

Tschitschikow wußte nicht mehr, wo er sich befand.

»Sie werden es nicht glauben wollen, Exzellenz,« fuhr Nosdrjow fort, »als er mir sagte: ›Verkauf mir deine toten Seelen!‹, platzte ich fast vor Lachen. Wie ich herkomme, erzählt man mir, daß er für drei Millionen Rubel Bauern gekauft hat, um sie auf seinen Gütern anzusiedeln. Was ist das für eine Ansiedlung! Von mir hat er bloß Tote kaufen wollen. Hör einmal, Tschitschikow: du bist ein Vieh, bei Gott, ein Vieh! Auch Seine Exzellenz ist dabei . . . nicht wahr, Staatsanwalt?«

Doch der Staatsanwalt, Tschitschikow und selbst der Gouverneur waren so bestürzt, daß sie gar nicht wußten, was darauf zu sagen; Nosdrjow schenkte dem keine Beachtung und fuhr in seiner nicht ganz nüchternen Rede fort: »Hör mal, Bruder, du, du . . . ich lasse dich nicht, ehe du mir sagst, wozu du die toten Seelen gekauft hast. Du solltest dich schämen, Tschitschikow; du weißt doch selbst, daß du keinen besseren Freund hast als mich . . . Auch Seine Exzellenz ist da . . . nicht wahr, Staatsanwalt? Sie werden gar nicht glauben wollen, Exzellenz, wie wir aneinander hängen; wenn Sie mich, so wie ich hier stehe, fragen: ›Nosdrjow, sag auf Ehr und Gewissen, wer ist dir lieber, dein leiblicher Vater oder Tschitschikow?‹, so antworte ich: ›Tschitschikow‹, bei Gott . . . Erlaube mir, mein Herzchen, daß ich dir einen Kuß gebe. Gestatten Sie, Exzellenz, daß ich ihn abküsse. Ja, Tschitschikow, wehre dich nicht, laß mich dir ein Küßchen auf deine schneeweiße Wange drücken!« Nosdrjow wurde aber mit seinem Küßchen so heftig zurückgestoßen, daß er beinahe hinfiel. Alle Menschen wandten ihm den Rücken und hörten ihm nicht mehr zu. Aber seine Worte vom Kaufe der toten Seelen waren doch so laut ausgesprochen und von einem so lauten Gelächter begleitet worden, daß sie selbst die Aufmerksamkeit derjenigen auf sich lenkten, die in den entferntesten Ecken des Saales standen. Diese Neuigkeit kam allen so seltsam vor, daß alle mit einem hölzernen, dummfragenden Ausdruck gleichsam erstarrten. Tschitschikow merkte, wie einige Damen Blicke wechselten und dabei giftig und boshaft lächelten; im Ausdrucke einiger Gesichter glaubte er etwas Zweideutiges zu lesen, was seine Verwirrung nur noch vergrößerte. Daß Nosdrjow ein abgefeimter Lügner war, das wußten alle, und kein Mensch wunderte sich, wenn er von ihm irgendeinen haarsträubenden Unsinn zu hören bekam; doch der Sterbliche – es ist in der Tat schwer zu begreifen, wie so ein Sterblicher beschaffen ist: wie albern eine Neuigkeit auch sei, er wird sie unbedingt, wenn es nur eine Neuigkeit ist, einem anderen Sterblichen mitteilen, und wenn auch nur um zu sagen: »Schauen Sie nur, was man für Lügen verbreitet!« Der andere Sterbliche leiht ihm aber mit Vergnügen sein Ohr, und wenn er auch hinterher erklärt: »Es ist ja eine ganz alberne Lüge, die nicht die geringste Beachtung verdient!« Und gleich darauf macht er sich auf die Suche nach einem dritten Sterblichen, um die Lüge diesem zu erzählen und dann gleich mit ihm zusammen in edler Entrüstung auszurufen: »Welch eine gemeine Lüge!« So macht die Neuigkeit die Runde durch die ganze Stadt, und alle Sterblichen, soviel ihrer da sind, reden sich satt und erklären hinterher, die ganze Sache verdiene keine Beachtung und sei es nicht wert, daß man über sie spreche.

Dieser anscheinend belanglose Vorfall verdarb unserem Helden sichtlich die Laune. So dumm auch die Reden eines Narren sein mögen, genügen sie zuweilen doch, um auch einen Klugen verlegen zu machen. Er fühlt sich auf einmal unbehaglich und ungemütlich, als wäre er mit einem schön geputzten Stiefel in eine schmutzige, stinkende Pfütze getreten; mit einem Wort, er fühlte sich gar nicht wohl! Er versuchte, nicht mehr daran zu denken, er bemühte sich, sich zu zerstreuen, er setzte sich an den Whisttisch, aber alles ging schief, wie ein krummes Rad: zweimal spielte er eine fremde Farbe aus; dann vergaß er, daß eine Karte nur einmal geschlagen werden darf, holte mit der Hand aus und schlug dummerweise seine eigene Karte. Der Kammervorsitzende konnte unmöglich begreifen, wie Pawel Iwanowitsch, der das Spiel so gut, und man kann wohl sagen, fein verstand, derartige Fehler machen und sogar seinen eigenen Pikkönig, auf den er, wie er sich selbst ausdrückte, so fest wie auf den lieben Gott gebaut hatte, in den Tod schicken konnte. Der Postmeister, der Kammerpräsident und sogar der Polizeimeister machten sich über unseren Helden ein wenig lustig: er sei sicher verliebt, sein Herz sei bekanntlich verwundet und alle wüßten, von wem es verwundet sei; dies alles vermochte ihn jedoch nicht zu trösten, so sehr er sich auch bemühte zu lächeln und die Witze mit Witzen zu parieren. Auch beim Abendessen konnte er nicht mehr in die richtige Stimmung kommen, obwohl die Gesellschaft bei Tisch sehr angenehm war und man Nosdrjow schon längst herausgeschmissen hatte, weil schließlich auch die Damen meinten, daß sein Benehmen gar zu skandalös geworden sei. Mitten im Kotillon hatte er sich nämlich auf den Fußboden gesetzt und angefangen, die Tanzenden bei den Kleidern und Frackschößen zu packen, was, nach dem Ausdruck der Damen, schon ganz unmöglich war. Das Abendessen war sehr lustig; alle Gesichter, die zwischen den dreiarmigen Leuchtern, den Blumen, dem Konfekt und den Flaschen sichtbar waren, strahlten vor ungezwungenster Zufriedenheit. Die Offiziere, die Damen und die Frackträger – alle waren auf einmal von einer Liebenswürdigkeit erfüllt, die schon beinahe zu süß war. Die Herren sprangen von ihren Stühlen auf und entrissen den Dienern die Platten, um sie mit ungewöhnlicher Geschicklichkeit den Damen zu reichen. Ein Oberst präsentierte einer Dame einen Teller mit Soße auf dem Ende seines bloßen Degens. Die Herren reiferen Alters, unter denen auch Tschitschikow saß, debattierten laut und nahmen zu jedem vernünftigen Wort ein Stück Fisch oder Fleisch, das sie zuvor dick mit Senf bestrichen; sie debattierten über Gegenstände, für die sich Tschitschikow sonst immer interessiert hatte; jetzt war er aber wie ein Mensch, der von einer langen Reise ermüdet und zerschlagen ist, der keine Kraft mehr hat, etwas zu verstehen oder in etwas einzudringen. Er wartete nicht einmal das Ende der Abendtafel ab und fuhr viel früher nach Hause, als er es sonst zu tun pflegte.

Im Gasthofe, im Zimmer, das dem Leser so gut bekannt ist, mit der Kommode vor der Türe und den ab und zu aus den Ecken hervorguckenden Kakerlaken, war die Verfassung seiner Gedanken und seines Geistes ebenso unbehaglich, wie der Sessel, in dem er saß. Es war ihm so unangenehm und wirr zumute; irgendeine lästige Leere war in seinem Herzen zurückgeblieben. »Hol doch der Teufel alle, die diese Bälle erfunden haben!« sprach er in seiner Wut. »Was freuen sich diese Narren? Im Gouvernement ist eine Mißernte und eine Teuerung, und sie denken nur an die Bälle! Diese Freude: putzen sich in Weiberlumpen! Ein Kunststück, daß manche für mehr als tausend Rubel solcher Lumpen am Leibe hat! Das geht doch auf Kosten der Abgaben, die die Bauern zahlen, oder, was noch ärger ist, auf Kosten unseres eigenen Gewissens. Alle wissen, warum unsereins sich bestechen läßt oder sonstwie sündigt: alles nur, um der Frau einen teuren Schal oder eine Robe zu kaufen, weiß der Teufel, wie alle diese Dinge heißen! Und wozu das alles? Damit irgendeine Hure Ssidorowna nicht sage, die Postmeisterin habe ein besseres Kleid angehabt – und dieser Spaß kostet tausend Rubel. Sie schreien: ein Ball, ein Ball, wie lustig! So ein Ball ist einfach eine Schweinerei, er ist ganz gegen den russischen Geist, gegen die russische Natur, hol's der Teufel: ein erwachsener, mündiger Mann springt plötzlich ganz in Schwarz, glatt wie ein gerupfter Teufel, heraus und wirft die Beine hin und her. Ein anderer steht neben seiner Dame, unterhält sich dabei mit einem anderen Herrn über eine wichtige Sache und beschreibt zur gleichen Zeit mit den Beinen wie ein junger Bock allerlei Figuren nach rechts und nach links . . . Das kommt alles von der Nachäfferei! Weil der Franzose mit vierzig Jahren noch dasselbe Kind ist, wie er es mit fünfzehn gewesen, so müssen wir auch so sein! Nein, wirklich . . . nach jedem Ball fühle ich mich so, als ob ich irgendeine Sünde begangen hätte; ich möchte sogar später nicht mehr daran denken. Im Kopfe ist es so leer wie nach dem Gespräch mit einem Salonmenschen: von allen möglichen Dingen redet er, alles berührt er, sagt alles, was er aus allerlei Büchern zusammengelesen hat, es ist bunt und schön, doch im Kopfe bleibt nichts zurück; später sieht man ein, daß sogar ein Gespräch mit einem einfachen Kaufmann, der nur sein Geschäft kennt, es aber gut und sicher kennt, mehr wert ist als dieses ganze Geplapper. Was kann man nur an einem solchen Balle gewinnen? Wenn es z. B. irgendeinem Schriftsteller einfiele, diese Szene so zu beschreiben, wie sie in Wirklichkeit war? Dann würde sie auch im Buche ebenso sinnlos erscheinen wie in der Wirklichkeit. Man würde sich fragen: ist es eine sittliche oder eine unsittliche Sache? Der Teufel soll sich da auskennen! Man spuckt aus und klappt das Buch zu.« So ungünstig äußerte sich Tschitschikow über die Bälle im allgemeinen; er wird wohl aber auch einen anderen Grund für seine Entrüstung gehabt haben. Er ärgerte sich weniger über den Ball, als über seine Blamage: daß er plötzlich vor allen Leuten als Gott weiß was dastand und eine seltsame, zweideutige Rolle gespielt hatte. Natürlich, wenn er alles mit dem Auge eines vernünftigen Menschen überblickte, sah er, daß alles nicht der Rede wert sei, daß ein dummes Wort keine Bedeutung habe, besonders jetzt, wo die Hauptsache schon so, wie es sich gehört, erledigt war. So merkwürdig ist einmal der Mensch: ihn kränkte die mangelnde Sympathie derselben Geschöpfe, die er mißachtete, über die er sich so scharf geäußert und über deren Eitelkeit und Putzsucht er geschimpft hatte. Dies ärgerte ihn um so mehr, als er selbst den Grund dazu gegeben hatte. Sich selbst zürnte er jedoch nicht und hatte darin natürlich recht. Wir alle haben die kleine Schwäche, uns ein wenig zu schonen, und bemühen uns, einen von unseren Nächsten auszusuchen und an ihm unseren Ärger auszulassen, zum Beispiel an einem Diener, an einem uns untergebenen Beamten, der uns gerade in den Weg kommt, an unserer Frau oder schließlich am Stuhl, den wir, weiß der Teufel wohin, an die Türe schleudern, so daß die Arm- und Rückenlehne abspringt: soll er nur wissen, was unser Zorn bedeutet! So fand auch Tschitschikow bald einen Nächsten, der auf seinen Buckel alles nehmen mußte, was ihm sein Ärger eingab. Dieser Nächste war Nosdrjow, und man muß wohl sagen, daß er ihn von allen Seiten so kräftig beschimpfte, wie nur irgendein betrügerischer Dorfschulze oder ein Postkutscher von einem erfahrenen, vielgereisten Hauptmann, zuweilen auch von einem General beschimpft wird, der zu der Menge von Ausdrücken, die schon zu klassischen geworden sind, auch eine Menge von noch unbekannten hinzufügt, die er selbst erfunden hat. Der ganze Stammbaum Nosdrjows wurde durchgenommen, und viele Mitglieder seiner Familie in aufsteigender Linie kamen dabei zu Schaden.

Während er aber, von seinen Gedanken und von der Schlaflosigkeit geplagt, in seinem harten Sessel saß und Nosdrjow samt seiner gesamten Verwandtschaft aufs eifrigste durchnahm; während vor ihm ein Talglicht brannte, dessen Docht schon längst von einer schwarzen Rußkappe bedeckt war und das jeden Augenblick zu verlöschen drohte; während zu ihm ins Fenster die blinde dunkle Nacht hereinblickte, bereit, in blaue Morgendämmerung überzugehen, und in der Ferne mehrere Hähne krähten; während vielleicht irgendein Unglücklicher von unbekanntem Namen und Rang in einem Friesmantel durch die schlafende Stadt schlich, ein Mensch, der leider nur den einen vom liederlichen russischen Volk ausgetretenen Weg kennt – um diese selbe Zeit spielte sich am anderen Ende der Stadt ein Ereignis ab, dem es beschieden war, die unangenehme Lage unseres Helden noch unangenehmer zu machen. Durch die entlegenen Straßen und Gassen der Stadt rasselte nämlich ein höchst seltsames Fuhrwerk, für welches es recht schwer wäre, einen Namen zu finden. Es glich weder einem Reisewagen, noch einer Kutsche, noch einer Equipage, sondern eher einer dickbackigen Wassermelone, die man auf Räder gesetzt hatte. Die Backen dieser Melone, das heißt die Wagentüren, die noch Spuren einer gelben Bemalung zeigten, schlossen sehr schlecht infolge des schlechten Zustandes der Klinken und der Schlösser, die nur notdürftig mit Stricken zusammengebunden waren. Die Wassermelone war angefüllt mit Kattunkissen in Form von Tabaksbeuteln, von Rollen und auch von gewöhnlichen Kissen; mit Säcken voll Brot, Semmeln, Brezeln und Kringeln aus Hefenteig. Eine Pastete mit Hühnerfüllsel und eine mit Gurkenfüllsel guckten sogar heraus. Auf dem hinteren Trittbrett befand sich eine Person des Lakaienstandes, in einer Joppe aus hausgewebtem buntem Leinen, mit unrasiertem, leicht ergrautem Kinn – eine Person, die man »Bursch« zu nennen pflegt. Der Lärm und das Gerassel der eisernen Beschläge und verrosteten Schrauben weckten am anderen Ende der Stadt einen Nachtwächter, der seine Hellebarde hob und schlaftrunken aus vollem Halse »Wer da?« schrie; als er jedoch merkte, daß niemand kam und nur das Gerassel zu hören war, fing er ein Tier, das auf seinem Kragen saß, ging auf die Laterne zu und richtete es eigenhändig mittels seines Fingernagels hin, worauf er die Hellebarde wieder wegstellte und nach den Satzungen seines Rittertums von neuem einschlief. Den Pferden knickten immer wieder die Vorderbeine ein, weil sie nicht beschlagen waren und das bequeme Stadtpflaster offenbar noch nicht kannten. Die Fuhre machte noch einige Wendungen, bog schließlich an der kleinen St. Nikolaus-Pfarrkirche vorbei in eine dunkle Gasse ein und hielt vor dem Tore des Hauses der Protopopenfrau. Aus dem Wagen sprang ein Mädel in einem Wams und Kopftuch und hieb mit beiden Fäusten so stark gegen das Tor, wie es auch ein Mann nicht besser machen könnte (der Bursche in der bunten Jacke wurde erst später an den Beinen heruntergezogen, denn er schlief wie eine Leiche). Die Hunde fingen zu bellen an, das Tor ging auf und verschlang schließlich nicht ohne Mühe dieses plumpe Erzeugnis eines Wagenbauers. Die Equipage kam in einen engen Hof, der fast ganz von aufgestapeltem Holz, Hühnerställen und allerlei Anbauten eingenommen war; der Equipage entstieg die Gnädige: diese Gnädige war die Gutsbesitzerin und Kollegiensekretärin Korobotschka. Die Alte war bald nach der Abreise unseres Helden in solche Unruhe wegen eines möglichen Betruges geraten, daß sie nach drei schlaflosen Nächten den Entschluß faßte, nach der Stadt zu fahren – obwohl ihre Pferde nicht beschlagen waren –, um dort etwas Sicheres darüber zu erfahren, welche Preise für tote Seelen gezahlt werden und ob sie nicht, Gott behüte, eine große Dummheit begangen und die Seelen viel zu billig verkauft habe. Welche Folgen ihre Ankunft hatte, kann der Leser aus einem Gespräch erfahren, das zwischen zwei gewissen Damen stattfand. Dieses Gespräch . . . es soll aber lieber erst im nächsten Kapitel stattfinden.


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