Joseph Görres
Eine Auswahl aus seinen Schriften
Joseph Görres

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Über den Fall Teutschlands und die Bedingungen seiner Wiedergeburt

Es ist kein milder, liebevoller, schonender Geist, der vom Anbeginn her durch die Erdengeschichte unsichtbar geht; eine mutige, unbezwingbare Kraft, eine finster verschlossene, erbarmungslose Macht mit festem Willen ohne Wanken führt sie dem ernsten Ziel entgegen. Was hat das furchtbar erhabene Wesen nicht schon zertreten von allem, was da war auf der Erde? Hat es etwa sorgsam an einem Menschenwerk den schreitenden Fuß vorbeigeführt, daß es nicht verderbe vieler Jahre mühsam Werk? ... Wohl erheitert sich von Zeit zu Zeit das Dunkel, und die Spiele wagen sich hervor, und die Geschichte scheint zum Scherze zu werden, wie das Leben, es ist, als ob der ernste Geist auf einem andern Planeten wandelte; dann aber nahen wieder verhängnisvolle Stunden, und er kommt in Nacht herabgefahren, um sein Werk zu fördern, und Volk vor Volk wird vor Gericht gerufen, daß es ringe mit seinem Schicksal und seine Kraft bewähre in dem Streit. Solche Tage sind in unsere Tage gefallen, die Völker haben gestritten, und klar hat es sich ergeben, was jedes wert sei und was es bedeute, wenn nicht vor Gott, doch vor der Welt.

Frankreich war zuerst geladen, eine Revolution hat es durchgerungen ...

Mit den Teutschen hat es früher schon geendet, mit Schimpf hat ihre alte Zeit geschlossen, aber ehrenvoll schon hat ihre neue Zeit begonnen. War's nicht wie böses Zauberwerk in blauen giftigen Dunst hineingemalt, was jener Geist zerstreute, ein Gespötte aller, die etwas ernstlich wollten. Und doch hat die Nation die Schmach gefühlt, daß man ihr entrissen, was sie besser weggeworfen, sie hat ihr Glück noch einmal auf ihr Schwert gesetzt, und schwer war der Streit wie keiner vordem, und ungewöhnlich lange für die eilige Zeit zögerte die Entscheidung, vor dem Schicksal stand die Waage lange in der Schwebe, es lief wie Erbarmen über die kalte Erhabenheit in seinem Angesicht, es schien sich zu besinnen, ob es soviel Mut, Bravheit, gut meinende Ehrlichkeit dem bloßen Waffengeschick hinopfern solle; endlich wurden sie doch zu leicht befunden und ihre Schultern zu schwach, um die Last der Geschichte fortzutragen; nicht was der Enthusiasmus des Augenblicks gegeben, wird aufgerechnet, nur was in die stehende Lebensmasse eingegangen; auch der Teufel verlangt sein Recht in der Historie, mit bloßer Gutmütigkeit läßt sie sich nimmer führen. Hatten alte Trägheit und junge Hoffart und sündhaftes Ungeschick den deutschen den ersten Schimpf bereitet, diesmal erlagen sie um jenen schönen Fehler; Unglück war über sie verhängt, aber neue Schande war von ihnen abgewendet, mit Ehre gingen sie aus dem Streit; jene mag ruhen bei der vergangenen Zeit; diese, die die Gegenwart sich selbst erworben, nimmt die Nation in ihre Zukunft mit. Es konnte das Alte nicht wiederkehren, Teutschland war nicht scheintot, es war keine Gewaltsamkeit, die jene Auflösung herbeigeführt, es hatte alles von selbst dazu sich angeschickt, keine Macht kann neues Leben in die Leiche bringen. Aber die Formen altern, eben weil die Nationen sich verjüngen; die Natur wird grau, das Leben nie, weil es immer das Alter auswirft wie Schlacken; keine Zeit ist lebensärmer denn die andere. Den antiken, spezifischen Charakter, den Alt-Teutschland sich angebildet, hat das neue längst der allgemeinern Bildung der Zeit hingeopfert; aus Trägheit und auch wohl einem Reste alter Liebe hatte es die alte leer gewordene Verfassung beibehalten; man trauert nun, da sie gefallen, wie man um einen werten Toten trauert, aber ohne darum am Leben zu verzweifeln. Nicht ihr aber galt auch eigentlich der letzte Kampf; teutsche Sinnesweise sollte zur herrschenden in der Geschichte werden. Das Gelingen konnte unter den Konjunkturen, unter denen das Unternehmen begonnen wurde, einige Wahrscheinlichkeit für sich haben, der Erfolg hat entschieden, daß die Zeit lange noch nicht reif dafür gewesen. Wohl drängt die Geschichte dem Punkt entgegen, daß die Intelligenz herrschend in ihr werde, aber bis sie würdig unter einem Volke erscheint und den bereiteten Thron einnimmt, herrscht der eiserne Wille von dunkler Naturkraft getrieben über die Welt und ihre Ereignisse. Er bedarf nur tüchtiger Werkzeuge, schnellkräftiger Muskeln, die sich ihm anfügen, und die bringt leicht eine vielfach bewegte Zeit hervor; jene aber bedarf des freien, selbsttätigen Zusammenwirkens vieler Geister, die gleich groß an Kraft sie der lebendigen Weltanschauung unterordnen; die vielfach geprüft im Leben, gereift in der Schule der Geschichte, innere Genialität an eine gediegene Erfahrung gesetzt und sich damit den Beruf gewonnen, für das ganze Geschlecht zu handeln, zu binden und zu lösen mit Gottes Macht auf immerdar. Und wo wären diese helfenden Geister in der Nation gewesen? ...

... Darum hat Gott nicht Sieg gegeben, weil er keine Frucht gebracht hätte für die Geschichte, die fortschreiten will ohne Aufenthalt; gerade das, was zum Sieg gefehlt, hätte zum Frieden auch gemangelt; es war nur allzusehr zu befürchten, daß mit der Gefahr auch die gespannte Begeisterung entwichen wäre, wo denn bald die alte Trägheit und Langeweile sich wieder eingefunden hätte. Und wahrlich, nicht darum war so viel Blut geflossen, so viel Menschenleben und Menschentum zerstört, so viel Gutes gefallen aus den alten Zeiten und so viele junge Kräfte aufgerieben, daß alles zuletzt mit einer gähnenden Pause ende; nicht darum hat dies Volk durch viel heißen Streit sich durchgekämpft und in der Gymnastik jene Gewandtheit und Überlegenheit gewonnen, daß es am Ziele erliege einer augenblicklichen Erhebung, daß alles zunichte werde und nichts Größeres, nur etwa eine bessere Gesinnung an die Stelle trete. So grausam spielt das Geschick nicht mit den Menschen, es sieht ihrem Tun und Treiben ernst und streng und zürnend zu, aber nicht höhnisch wie ein böser Geist, Spott übler Tat zufügend. Was Jahrhunderte allmählich vorbereitet, zerstört nimmer der Augenblick; lang gehegte Sünde versöhnt nicht kurze Reue. Kein gewisseres Resultat bietet uns die Geschichte, als daß in ihrem Verlaufe jede Art von Tüchtigkeit sicher ihren Lohn gefunden, alles Untüchtige, Unnütze sicher seinen Untergang. Es wird nicht nach bloß ethischen Zwecken in der Welt gefragt, zuerst soll Gerechtigkeit werden allem, was sich auf Erden lebendig regt, und damit wird von selbst das ethische Reich gegründet. Der Irrtum wird wie böse Tat gestraft, oft der tugendhafte Irrtum von der sündigen Tat, denn Selbsttäuschung ist Sünde in dem heiligen Geist, sie kann nicht geduldet werden noch geschont, wie der Irrwahn widerspricht sie den Weltgesetzen durch individuelle Frivolität oder Verblendung. Der aber ist Gott lieb, der, Individuum oder Volk, irgend etwas Tüchtiges vollendet hat, denn er wirkt wie Gott, er greift ein in die Harmonie seiner Weltordnung, und sie wirkt wieder auf ihn zurück und hält und trägt ihn und führt ihn weiter ...

Es wäre denkbar, daß eine energievolle Nation im Unglück zur Selbstbesinnung gekommen wäre, daß sie ihren Gegner historisch überböte und durch innerliche Kraft ihm den Vorsprung abgewonnen hätte, sie könnte ohne Sorge dem Begünstigten entgegengehen, sie würde bald auch äußerlich den Rang erringen, der ihrer innern Kraft gebührt. Der Erfolg hat bewiesen, daß es um die Teutschen nicht so bestellt gewesen, hätten sie der Macht, die alle Schicksale auf Erden lenkt, die Gewähr gegeben, daß eine höhere Ordnung der Dinge durch sie werden solle als die bestehende; sicher hätte sie ihnen auch den Sieg verliehen. Das Zögern der Entscheidung bewies, daß über die Bürgschaft verhandelt wurde, wenn sie auch zuletzt als unzureichend durchgefallen. Einem Volke, das so unklar, in sich selbst so geteilt, in so vielem kläglicher Seichtigkeit hingegeben, so übel beraten von denen, die seine Repräsentanten sind, mochte man nicht die Schicksale der Zukunft anvertrauen; so lange, bis es die Einheit seiner Kräfte erst gewonnen, muß es dienen dem, der zu befehlen weiß. Ein solcher hat sich gefunden in dieser Zeit, der von sich sagen konnte: Gott hat mir die Macht gegeben, alles zu vollbringen, was ich unternommen; jeder Tag bekräftigt, daß er wahr gesprochen, denn er gebietet über ein vielfältig geübtes Volk und außer ihm über alles, was seine vorherrschende Bildung angenommen. Sollte das Schicksal nicht ehren das Wort dessen, der so vieler Individuen und so vieler Jahrhunderte ununterbrochen Streben im sicheren Willen trägt? ...

Wie sollte aber das teutsche Volk bei seinen fragmentarischen, wirren und unbeständigen Bestrebungen den ordnenden Himmelsmächten Achtung abgewinnen, die nur Taten wollen und leere Worte leicht bis auf den Grund durchschauen? Wie sollte eine Nation, die so lange sich selbst vergessen, nicht auch endlich vom Schicksal vergessen werden? Innere Rechtlichkeit ist unbrauchbar für die Welt, wenn sie nicht durch Kraft und Einheit sich geltend zu machen weiß; so lange triumphiert die bloße Gewalt, bis jene sich zur Macht erhoben. Gegen ohnmächtige Tugendhaftigkeit übt gerade der Teufel in der Geschichte sein strengstes Recht, Bosheit wird von ihm gekräftigt, Stärke liebt der Himmel, matter Tugend aber vermögen alle guten Geister nicht aufzuhelfen ... Das eben verursacht die Verwirrung und verlängert den Kampf, daß kein Individuum und noch weniger eine Nation sich ausschließend und allein dem Guten oder dem Bösen zuwendet. Bei der Menge hat in der Regel beides zu gemeiner Erbärmlichkeit sich durchdrungen, nur mit gelegenheitlicher Exkursion ins eine oder das andere; bei ausgezeichneten Menschen halten sie eben so gewöhnlich in großen Gegensätzen sich getrennt. Darum wird bei hellem Blicke gründlicher Haß wie gründliche Liebe schwer, beide sind besonders von Natur der Jugend zugeteilt, wo bei vieler Lebenswärme wenig Lebensklarheit; aber ohne Fähigkeit zu Haß und Liebe ist keine historische Genialität, im Volke wie im Individuum. Darum hat die kaltblütige Apathie der Teutschen von jeher nur für geringen Beruf zu nationeller Bedeutendheit gezeugt, öfter hat die Hoffart sie der gewonnenen Klarheit zugeschrieben; wie die Klarheit wirklich erst gekommen, ist die Hoffart fortgezogen, und es hat sich erwiesen, daß der Grund vielmehr zum guten Teil in mangelnden Lebenskräften lag. Ganz allein indessen ihn wieder darin suchen, wäre überflüssige Zerknirschung; es ist nichts gewisser, als daß keine Nation mit hellerem Blick die Welt anschaut und mit weniger örtlicher Beschränkung als die teutsche ...

Es gibt kein allgemeineres und mehr evidentes Naturgesetz als jenes: daß alle Dinge in der Welt wechselseitig auf solche Weise sich ausgeglichen haben, daß die Summe aller Gegensätze überall dieselbe ist und aufgehoben in demselben Punkte, so daß auch in menschlichen Dingen die Kugelform zuletzt alle Unebenheit abrundet in der Einheit. Ein halbes Jahr in Nacht getaucht und wieder ein anderes in Licht erleuchtet, erscheint der ferne Pol; immer sind unter der Linie Tag und Nacht sich gleich; in der Mitte aber ist ein immerwährendes Auf- und Niedersteigen aus verkürzten Tagen zu den kurzen Nächten, und wieder aus der Hellung zum Erdunkeln: rechnen wir aber die Summe aller Nächte und wieder die aller Tage in eins zusammen, dann sind an allen Orten beide einander gleich, und die ganze Erde ist überall gleich zwischen Licht und Finsternis geteilt. So sind denn auch bei den Völkern in innerer Anlage und äußeren Schicksalen alle Gegensätze ausgeglichen; was sie diesem entzogen, hat die Natur jenem zugeteilt, jedem Reichtum eine Armut beigesellt, jeder Kraft ihre Gegenwucht, daß alle zuletzt gleich gewogenes Pfund erhalten. Das ist daher die Weisheit, daß jedes erkenne seine Stärke, was ihm gegeben, was versagt, damit es nicht in unnützen Bestrebungen sich verzehre und aufgerieben werden müsse von der Naturordnung, die ihr unwandelbar Gesetz gegen jeden freveln Angriff mit ihrer ganzen Übermacht verteidigen muß.

Darum ist es unter allen Verblendungen die unseligste, wenn ein Volk seine Eigentümlichkeit verläßt, wenn es, mißkennend seine innerste Natur, in fremde Kreise hinübertaumelt und, entsagend individueller Sinnesart, zu erstreben sucht, was nicht seines Berufes ist, und gering dagegen achtet, wozu ihm die Kraft verliehen wurde. Es ist zu glauben, daß diese freiwillige Verirrung unter den Teutschen ihr Ziel gefunden; dagegen tritt jetzt äußerer Zwang zum gleichen Zwecke ein, der früher nicht gewesen. Mögen sie nicht übermütige oder frivole Hoffnung hegen; derjenige, dem sie zur Dienstbarkeit sich freiwillig oder gezwungen hingegeben, haßt Halbheit jeder Art; er wird ihre ganze äußere Willenskraft zu seinen Zwecken in Anspruch nehmen; immer fester und fester wird das System der Bundesstaaten sich zusammenziehen, daß zuletzt jeder Gedanke von Selbstständigkeit als Rebellion geahndet wird. Aber mögen sie zugleich auch von krankhaft-hypochondrischer Furcht sich nicht irren lassen, ihr inneres Leben wird nicht angetastet werden, wenn sie wirklich mit Ernst es behaupten wollen ... Wird teutsche Art und Sitte sich daher nicht selbst verraten, von außen wird sie nicht angefochten werden; was vermögen auch alle aufgedrungenen Formen gegen eine Nation, die ernstlich ihr Wesen verteidigen will? Selbst fremde Dynastien werden ihm nicht wesentlich gefährlich sein, da sie selbst nicht leicht der eindringenden Nationalität sich erwehren und nach wenigen Generationen schon der allgemeinen Masse gleichartig geworden sind, will also die Nation gründlich in innerer Bildung vorwärtsschreiten, noch ist ein weites Feld ihr aufgetan...

Alles Fremdartige, das unangeeignet ins Leben eingedrungen, wird in ihm zum Krankheitsstoff und muß ausgeworfen werden, damit die Gesundheit bestehen könne; alles Eigenartige hingegen, das ihm wirklich angehört, muß geweckt und angefrischt werden ohne Unterlaß; denn welche Kraft nicht frei beweglich spielt, die ist dem Leben abgestorben und wird bald in trägem feisten Fleisch begraben... Was die Teutschen jetzt zu erstreben gesucht, wird ihnen von selbst zufallen, haben sie nur erst innerlich sich dessen wert gemacht; werden sie je zu einer kräftigen, in sich einigen Nation erwachsen sein, die Fesseln, die man ihnen etwa angelegt, werden, wenn sie sich aufrichtet, von selbst zerreißen und in Staub zerfallen, vermögen sie aber auch nicht zu solcher Würdigkeit sich zu erheben, immer wird, was sie sich gepflanzt, auch ihnen Früchte tragen; von Dornen aber lassen nimmer sich Feigen lesen.

 

Was not tut vor allen Dingen, ist, daß in der Mitte der Nation eine feste, bestimmte öffentliche Meinung sich bilde, die entschieden und unverkennbar den eigentümlichen Charakter des Stammes ausdrücke. Die öffentliche Meinung ist, damit wir zu dramatischen Verhältnissen auch ein dramatisches Bild entlehnen, der Chor im politischen Schauspiel; wie der alte Chor von der Bühne verschwunden ist, so auch sie, mit Ausnahme von England, aus den Staaten der neueren Zeit. Es hat sich die Intelligenz und die Kraft und der Wille der Gesamtheit in der Regierung gesammelt, das Gesamtgewissen kann nicht wohl übertragen werden, und die Nation selbst übt es nach dem Maße ihres natürlichen Sinnes von Recht und Unrecht insgeheim oder, wo Freiheit ist, öffentlich aus. Außer den allgemeinen Maximen des Rechts gibt es ein besonderes Einverständnis unter verwandten Geistern, das auch ein spezifisches Privatrecht zwischen ihnen begründet, und dies von der Gesamtheit ausgesprochen wird nationelle Meinung. Es gibt kein Mittel, eine solche Meinung, die ohne Selbsttäuschung und Verblendung und Leidenschaft ganz von selbst im Geiste eines Volks sich gebildet hat, zurückzuhalten; es gibt eine Klugheit in der Art, sie auszusprechen, der auch der übelste Wille nichts anhaben mag; wo das Wort versagt, ist die Pantomime schon bedeutend, und selbst das Schweigen ist beredt, wo es von gesammelter Aufmerksamkeit verstanden wird. Aber es gehört große Selbstverständigung dazu und intensive Klarheit in den Wortführern, Freiheit, in der Weise die Welt aufzufassen, durchgängige Konsequenz, die nirgends Blöße gibt, Gewandtheit und vor allem unverdächtige rechtliche Gesinnung, die immer der Bosheit Ehrfurcht abgewinnt und mit geheimer Geisterscheu sie schlägt. In der Nation aber, aus der ein solches Wort gesprochen wird, muß treuer Sinn erfunden werden und stetes Zusammenhalten und Interesse für ihr eigenes Interesse, Besonnenheit und ein unbestechlich gerader Sinn fürs Rechte, der durch keine Sophismen und keine äußerliche Verkehrtheit sich betören läßt. Es sind größtenteils verschwunden in der Klasse, die gemeinhin die öffentlichen Charaktere liefert, alle religiösen Motive; schlaue Pfiffigkeit treibt dafür gewinnvollen Tausch von Recht um Vorteil und Genuß; das Volk kommt in dieser Ordnung nur als Riegelweg in Anschlag, auf dem die gepackten Ballen bequem hin und her gefahren werden: ihm wird andere Sitte und bessere Moral und Lebensart empfohlen und nötigenfalls mit Gewalt gehandhabt. Aber eben dies Tergiversieren vor der Mehrheit, diese Ableugnung der immer geübten Maximen, wo sie kund werden wollen in der Menge, ist gerade die erzwungene Huldigung für Recht und Wahrheit und gibt dem Volke nun die Macht, die Täuschung für Ernst aufnehmend, zu ripostieren durch die Meinung und der Schlechtigkeit Schranken zu setzen durch sich selbst und mit eignen Waffen sie zu schlagen. Ist ein Reiz zum Bösen da und eine Verführung zum Verrat, beiden muß eine Gegenwucht gegeben werden, es muß etwas Preiswürdiges dastehen, das mit der Sünde unwiederbringlich sich verscherzt. Wer vor sich selber kaum errötet, scheut sich, wenn sein ganzes Volk mit klarem Auge auf sein Beginnen sieht; mit tausend geheimen Fäden ist der Mensch seinem Vaterland verknüpft; wo die Achtung seiner Mitbürger auf dem Spiele steht, wagt er nicht leicht frevle Tat; wo auch der bessere Sinn vergangen, weiß doch die Ehre noch zu zügeln. Aber freilich, wenn in einem Volke keine solche Säule steht, die sein ganzes Wesen zusammenhält, wenn keine durchgreifende Kraft in ihm sein ganzes Leben in sich selbst verknüpft und in krauser Verwirrung alles nur lose durcheinandertreibt und mannigfaltig entgegengesetzte Bestrebungen sich wechselseitig durcheinanderheben, dann ist die ganze Macht jener moralischen Gewalt gebrochen, es sind nur Sekten, die sich befehden, und kein gemeinsamer Geist, der Achtung geböte; das schlechteste Tun findet leicht Lobredner in der Menge, der beste Willen bösen oder unverständigen Tadel; es ist die Meinung nicht mehr etwas, das geehrt oder gefürchtet wäre, sie wird nur leerer Schall, ein verworrenes nichtswürdiges Getöse.

Leider kann, was bisher derart in Teutschland laut geworden, größtenteils nicht wohl für etwas anderes als für solch mißtönend Schellengeläute geachtet werden. Und doch hat eine ganz entschiedene Meinung bei allen Vorfällen der letzten Zeit sich im Kerne der Nation gezeigt, sie hat vom Anfang an ihr Verhältnis klar erkannt und zuletzt von allem, was in ihr sich mit sich selbst in Widerspruch gesetzt, sich bestimmt geschieden und losgesagt. Daß diese Stimmung kein beredt Organ gefunden, erklärt die Furcht, die jedes Wort gebunden, die zwiespältige Verworrenheit der äußern Lage und überhaupt der Mangel an Beruf zum öffentlichen Leben und geselliger Wirksamkeit. Die ersten beiden Hemmungen sind größtenteils gewichen für den Verständigen; die andere muß wegfallen, wenn irgend etwas werden soll. Es muß ein neuer Adel in der Nation aufstehen, zu dem sie selbst ernennt und die Ehrenzeichen verteilt. Die Regierung hat ihre Zwecke; wo diese, wie sie immer sollten, mit den Zwecken des Volkes zusammentreffen, da mag auch die allgemeine Achtung sich vereinigen über dem, der ohne Tadel gewandelt ist vor beiden; wo sie sich widersprechen, mag niemand dem Volke wehren, von seiner einzigen Waffe Gebrauch zu machen und löblicher Gesinnung öffentlichen Dank zu zollen und mit Schande Schändlichem zu lohnen. Die geographische Verbreitung der Nation gibt dieser Reaktion besonderes Gewicht, und ihre politische Teilung erleichtert die Äußerung, wenn erst einmal alle miteinander sich verständigt haben, wenn sie zur klaren Einsicht über ihr Interesse gekommen sind, wenn sie durch stillschweigende Übereinkunft ohne allen äußern Apparat zu einer ethischen Eidgenossenschaft sich vereinigt haben und würdige Sprecher die Urteile der Volksgeschworenen in dem Sinne des Grundgesetzes proklamieren. Sieht man freilich dem hohlen, gedunsenen, nichtigen Wesen der Journale zu, die als die Repräsentanten der literarischen Gesinnung der Nation sich ausgeben, mit welcher trägen Apathie ohne alle selbstständige Gegenwirkung diese in Lob und Tadel die frechsten Urteile sich aufdringen läßt, wie sie von diesen gegeneinander blasenden Windschläuchen hin und her getrieben in ratloser Verwirrung umgetrieben wird und selbst hier, wo alles gleichsam Spiel ist und Furcht und Zwang entfernt, nicht zum ruhigen Bestand gelangen mag, dann möchte man verzweifeln, daß sie je im öffentlichen Leben, wo alle schlechten, nichtswürdigen Leidenschaften unvergleichlich heftiger wirken, solche Ruhe und Sicherheit gewinnen wird. Allein eben durch jenes lose, hohle Treiben, das die Teutschen mit allen literarischen Nationen gemein haben, geht eine feste, gediegene Ader, die sie beinahe ausschließlich allein besitzen; die höhere Kritik hat bei ihnen eine feste, gehaltene Würde, eine Allgemeinheit und eine eindringende Schärfe wie nirgendwo erlangt; immer noch ist jenes verworrene Gesums zuletzt vor ihr verstummt, mit jedem Tage wird ihre Macht durchgreifender, immer siegreicher bemeistert jene Kerngestalt das aufgelöste Treiben, und selbst schlechte Institute müssen sich ihm wider Willen öffnen. Die Elemente zu einer gleichen Kritik, die über alle gesellschaftlichen Verhältnisse sich verbreitet, sind allerwärts vorhanden, sie dürfen nur sich zum gemeinsamen Zwecke sammeln; es ist kaum zu fürchten, daß das große, ernste Interesse, das dafür in allen liegt, länger verkannt bleiben sollte. Jeder, der in dieser Zeit nicht bedeutungslos gelebt und ein festes sicheres Urteil sich erworben, das im Laufe der Ereignisse sich bewährt, hat den Beruf zu sprechen in allen Angelegenheiten, die mit dem gemeinen Wesen zusammenhängen. Es ist nicht möglich, daß dem, der mit Mäßigung, aber ohne Scheu diesen Beruf ausübt, ein Leid widerfahre, wenn die ganze Nation und das Recht sich für ihn erklärt. Es kann böser Zwang mit Drohung schrecken, dem allgemeinen Unwillen und der Empörung der Gemüter wird er doch zuletzt nachgeben müssen.

Darum zage keiner, es gilt ein bedeutend Gut; gelänge es der Nation, die bisher lautlos stumm geblieben, solche Sprache zu gewinnen, alles Unglück dieser Zeit wäre nur Vorbereitung zu ihrer Wiedergeburt gewesen.

Im Februar 1810. Orion.


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