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Elftes Kapitel.

Nübel war wieder besetzt. Die Belagerungsarbeiten waren fertig, das große, große Werk war getan.

Was nun?

Man schrieb den 16. April.

»Es wird gestürmt!« Einer sagte es dem andern, leise, wie ein großes Geheimnis, und der andere nickte und tat, als hätte er eine Bemerkung über das Wetter gehört.

Wann würde es sein?

Vielleicht morgen, vielleicht erst in einer Woche, sie wußten es alle nicht. Fürchten taten sie alle aber nur eines: daß die Dänen die Schanzen vor dem Sturm räumen könnten, wie sie das Danewerk geräumt hatten.

In Nübel lagen Elisabether, und die Vorderstube bei Hansens hatte Fritz Mahlke mit ein paar Leuten bezogen. Er war auch in der Zwischenzeit öfter dagewesen und nun fast wie ein alter Bekannter. Aber seit er im Hause war, wichen er und Gesine sich aus. Sie hatte immer etwas bei Peter im Holzstall zu suchen. Der war so ruhig und freundlich, und Gesine fühlte sich so sicher in seiner Nähe. Aber um alles in der Welt hätte sie nicht gewollt, daß es anders wäre, daß kein Krieg wäre und keine Einquartierung in Nübel. Wenn Fritz Mahlke vom Dienst zurückkam, ging er zuerst durch das ganze Haus, bis er Gesine gefunden hatte, aber wenn er sie sah, tat er, als hätte er sich verirrt, und ging eiligst zurück. Es lag Gewitterschwüle auf allen Menschen; etwas Befreiendes, Erlösendes mußte kommen, sie fühlten es alle und sehnten sich danach.

Der Sonntag neigte sich seinem Ende zu, der 17. April.

Es waren weiche, warme Tage jetzt, in denen die Erde still dem Blühen und Treiben entgegenschlummerte. In Nübel lagen die Soldaten vor ihren Quartieren im Stroh oder sie saßen auf den Bänken vor den Häusern, rauchten, spielten Karten oder erzählten sich was. Morgen war der Sturm, jetzt wußten sie es alle, und die dröhnenden Kanonenschüsse erinnerten an den Ernst der Zeit.

Inge Hansen führte Frau Larsen vor die Haustür. Als sie an die Stufen kamen, trat Fritz Mahlke, der an die Hauswand gelehnt gestanden hatte, hinzu, nahm die leichte, kleine Gestalt auf den Arm und trug sie zur Bank. Inge kam mit Kissen und Decken, und so betteten sie Frau Larsen, so bequem es ging. Sie war noch schwach, aber sie konnte doch jetzt schon aufstehen und langsam herumgehen, wenn jemand sie führte. Nur ihre Augen waren krank geblieben. Sie schmerzten, und die schwarzen Schatten wurden immer dichter; deshalb trug sie jetzt immer eine Binde. Inge und Gesine sagten ihr, das wäre noch die Schwäche von der Krankheit, und wenn der Krieg zu Ende wäre und Jens wieder da, dann würde er sie nach Flensburg oder Hamburg zu einem Augenarzt bringen, und alles wäre bald wieder gut. Sie nickte dann und lächelte und glaubte es, aber Inge und Gesine glaubten es im Grunde selbst nicht. Der preußische Militärarzt, der öfter bei Frau Larsen gewesen war, hatte die Augen einmal untersucht und ein sehr bedenkliches Gesicht dazu gemacht. Auch Hanne Knudsen, die weise Frau im Dorfe, war gekommen und hatte sich die Augen angesehen. Sie wußte immer in allen Fällen Rat und konnte gleich sagen, woher es kam und was man tun müßte.

»Das ist bloß vom Zug,« sagte sie, »sie hat Zug bekommen, als sie im Fieber lag. Das geht denn in die Augen. Nu man bloß nich weinen; sie darf nich weinen. Da geht alle Kraft mit weg. Nich weinen, bloß nich weinen!«

Hanne Knudsen war immer ein bißchen eilig, aber noch im Fortgehen von der Straße her rief sie es zurück, und es prägte sich Gesine fest ein. Die Mutter durfte nie mehr weinen, dafür mußten sie jetzt alle sorgen.

Fritz Mahlke stand noch und sprach mit den Frauen, aber sein Blick war auf die Haustür gerichtet. Er meinte, Gesine müßte jetzt auch herauskommen und sich neben die kranke Mutter auf die Bank sehen. Als sie gar nicht kam, ging er schließlich ins Haus. Die Küche war leer, die Kammer daneben auch, und im Holzstall klirrten nur die Kühe mit der Kette und stießen ab und zu einen langgezogenen, melancholischen Ton aus. Er ging nun auf das Feld hinaus und schlug planlos einen schmalen Fußweg ein. Es mußte etwas in ihm zur Ruhe kommen. Morgen war der Sturm! Es war doch ein eigentümliches Gefühl, zu denken, daß man morgen um diese Zeit vielleicht schon mit zerschossener Brust da hinten bei den Schanzen lag, während einem heute noch das ganze schöne Leben gehörte und man gesund und mit einem heißen, unruhigen Herzen durch die Felder schritt.

Er hatte immer den Sturm herbeigewünscht, und bei den Gefechten, die das Regiment schon geliefert hatte, war er einer der Tapfersten gewesen. Aber heute beschlich ihn ein seltsames Gefühl. Es war kein Bangen, nur eine große Wehmut. Er dachte an seine Eltern, an sein Heimatdorf in Schlesien, an manches, was ihm lieb und teuer war, aber er fühlte, daß es das alles nicht war, was ihm das Herz schwer machte und ihn unruhig durch die Felder trieb. Von dem allen hatte er in Gedanken während dieses Feldzuges schon oft Abschied genommen. Jetzt gab es etwas Neues in seinem Leben, etwas, an das er noch gar nicht so recht denken mochte, weil es so zart war.

Er stand jetzt hoch und konnte das Land übersehen, aber er nahm das Bild nicht so recht in sich auf. Es war ja auch immer dasselbe: Hügel und Hecken, niedergebrannte Gehöfte und im Hintergrund das Wasser. Heute flimmerte alles im Sonnenschein, die See war still und tiefblau, und über der Büffelkoppel lag schon ein grüner Schimmer. Fritz Mahlte nahm sein Fernglas vor und sah nach den Schanzen. In Schanze 6 hatte eben eine Bombe von der preußischen Strandbatterie eingeschlagen. Eine kleine Rauchsäule stieg auf. Er sah Leute hin und her laufen. Dann blitzte es dort auf. Sie sandten den Preußen ihre Antwort. So ging es nun schon seit Wochen hin und her, ohne daß es zu einer Entscheidung gekommen wäre.

Morgen würde sie kommen. Mit unzähligen Opfern, mit Strömen von Blut sollte sie erkauft werden.

Er ließ das Fernglas sinken und strich sich über die Augen. Allem, was er vorhin gedacht hatte, zum Trotz überfiel ihn plötzlich ein brennendes Heimweh. Er sah den Vater vor sich, wie er mit seinem kleinen Gespann vom Felde kam und durch das Dorf fuhr. Auf der Chaussee hatte er den Briefträger aufsitzen lassen. Der sprang nun am Schulgebäude ab und ging in das Haus. Dieser und jener fragte im Vorübergehen, ob Fritz nicht geschrieben hätte. Dann nickte der Alte, hielt an und erzählte von dem letzten Brief. Darüber kam er ein bißchen spät nach Haus, so daß die Mutter schon in der Tür stand und nach ihm aussah, denn das Abendbrot war fertig.

In Gedanken sah Fritz Mahlke Vater und Mutter in der Küche am Tisch bei der Mahlzeit sitzen. Es war warm und ein klein bißchen dunkel, denn der Fliederstrauch, der vor dem Fenster stand, hatte schon kleine grüne Blätter. Das hatten ihm die Eltern im letzten Brief geschrieben. Natürlich aßen sie Speckklöße, das ganze Haus, roch danach. Als sie fertig waren, zog Vater Mahlke seine Morgenschuhe an und ging ins Dorf, und Mutter wirtschaftete noch ein bißchen in der Küche herum; dann kam die Nachbarin, und sie setzten sich mit ihren Strickstrümpfen auf die Bank vor der Tür. Heute am Sonntag war es allerdings wohl etwas anders. Da saßen Vater und Mutter wohl zusammen in der Stube und hatten seine Briefe vor, – alle, die er während des Feldzuges geschrieben hatte. Mutter wischte sich öfter mal die Augen, und Vater holte bedächtig seine Schreibsachen und schrieb an ihn. »Halt dich brav und bleib gesund!« stand in jedem Brief. Vielleicht bekam er den Brief gar nicht mehr.

Er nahm die Mütze ab und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Jetzt wäre er beinah weich geworden. Kreuzschockschwerenot! Das wollte er aber nicht, das war doch sonst nicht seine Art! Er drehte sich scharf auf dem Absatz um und ging weiter. Ein schmaler Fußweg fühlte an einem Knick entlang. Feine, braune Äste mit dicken, grünen Blätterknospen streckten sich ihm entgegen und streiften seinen Ärmel. Überall das Leben, das Werden, die Zukunft! Er brach einen Zweig und legte ihn in seine Brieftasche, dann fiel ihm ein, daß er heute noch an seine Eltern schreiben wollte, und er schlug den Weg nach Hause ein, querfeldein über eine Wiese. Die Nübelmühle stand klar und still vor ihm mit gigantischen, unbeweglichen Flügeln; sie war jetzt die einzige in der Gegend, nachdem die Düppelmühle gefallen war. Und auf dem schmalen Weg von der Mühle her kam ihm jetzt Gesine Larsen entgegen.

Er blieb stehen, als er sie sah, und wartete auf sie. Sie hatte nur ein Tuch um die Schultern genommen, und ihr blondes, unbedecktes Haar wehte in feinen, kleinen Locken um ihr Gesicht, Sie sah sehr ernst aus, und auch als sie neben ihm stand, veränderte sich der Ausdruck ihres Gesichtes nicht, nur das Rot auf ihren Wangen vertiefte sich etwas.

»Das ist der Larsenhof,« sagte sie und zeigte mit der Hand nach Norden.

Da sah er einen von den niedergebrannten Höfen liegen in all seiner Trostlosigkeit.

»Ich bin noch nicht wieder dagewesen,« fuhr sie fort, »aber hierher muß ich manchmal gehen und hinübersehen.« Es zuckte um ihren Mund, als sie das sagte.

»Das sollten Sie nicht tun,« meinte er, »es macht Sie nur traurig.«

Sie lächelte schmerzlich und schüttelte den Kopf. »Sehen Sie da, – das ist die Hohe Koppel. Da stand Vater jeden Abend und sah ins Land. Das war seine Feierstunde. Ich bin auch oft dort gewesen, mit ihm zusammen oder allein. Es war immer wie eine Andacht. Man kann nicht ganz schlecht sein, wenn man da oben steht, wo es so frisch und frei vom Wasser her weht und wo man bis an den Horizont sehen und die See brausen hören kann. Der Larsenhof lag zu unseren Füßen, und wir hatten das alles so lieb und dachten, es könnte nie anders werden.«

»Der Krieg ist ja bald zu Ende,« sagte er tröstend, »der Hof kann wieder aufgebaut werden –«

»Es wird doch nie wieder so, wie es vorher war,« sagte sie, »wir sind alle andere geworden.«

Er sah sie fragend an, aber sie sprach nicht weiter. Sie gingen über das Feld, dem Hause zu. Er war nicht mehr unruhig; alles in ihm war zum Schweigen gekommen, nun sie an seiner Seite schritt, und es lebte nichts in ihm als seine Liebe. Als sie an der Hoftür standen, blieb er plötzlich stehen, die Hand schon an der Klinke. Verlorene Geräusche aus dem Dorf drangen zu ihnen, ein Kommandoruf, ein Pfiff, das Bellen eines Hundes. Sie achteten nicht darauf.

»Morgen wird gestürmt!« sagte Fritz Mahlke mit tonloser Stimme.

Sie nickte, und er sah, daß sie es schon wußte.

»Wer weiß, ob ich morgen noch –«

Da hob sie in verzweifelter Abwehr die Hände, »Nicht – nicht –!«

Regungslos standen sie beide und sahen sich in die Augen – lange – sie wußten selbst nicht, waren es Minuten oder gingen Ewigkeiten hin. Dann breitete er langsam die Arme aus, und sie ruhte an seinem Herzen; lachend, weinend, in Verzweiflung und Seligkeit. – Es war ein seltsamer Abend. Die Soldaten pfiffen und lachten und waren bei alledem so furchtbar ernst. Einige liefen umher und konnten keine Ruhe finden und gaben sich gegenseitig allerlei Aufträge.

»Du, weißt du, wenn ich – dann ist hier ein Brief, den kannst du dann abschicken, hörst du? Aber nicht vergessen. Und zwei Taler find noch in meiner Hosentasche, die kann Mutter gut brauchen.«

»Ach, Mensch, red doch keinen Unsinn!«

»Na, wieso? Manchmal treffen die Danskes doch auch mal einen, warum soll denn das nicht meinem Vater sein Sohn sein?«

Einer lief durch das Dorf, bis er einen gefunden hatte, der aus seinem Heimatsort war. Den weckte er aus tiefstem Schlaf und gab ihm einen kleinen bunten Bilderrahmen, den er mal unterwegs in einem Dorf gekauft hatte.

»Den nimmst du mit und gibst ihn der Grete und sagst ihr, ich hätte an sie gedacht, immer, bis zuletzt, und es soll ihr gut gehen. Aber sie soll nicht den Bartel heiraten, bei dem wird sie's nicht gut haben, der Kerl sauft.«

Der andere besah sich lachend den Rahmen. »Sie wird ja eine Freude haben über dies Geschenk!« An einer Ecke war schon etwas abgebrochen.

Da wurde er kleinlaut. »Ich hab' doch nichts anderes. Sag ihr, ich hätt' nichts anderes gehabt. Und vergiß nicht das mit dem Bartel, hörst du?«

»Nee doch!«

Der andere wollte wieder schlafen, aber noch hatte er keine Ruhe.

»Hast du mir nichts aufzutragen? Es könnte doch auch sein, daß du –«

»Ach, wo werd ich denn! Warum soll denn gerade ich?«

Nun legte er sich wirklich wieder ins Stroh und schnarchte sofort. Am nächsten Tage schlief er auf den Düppeler Schanzen den ewigen Schlaf.

Viele schliefen an diesem Abend so ruhig, als wäre morgen ein Tag wie alle anderen.

Fritz Mahlke hatte, an seine Eltern geschrieben, einen kurzen, seltsamen Brief; er konnte heute nicht recht schreiben. Gesine nahm den Brief, um ihn zur Post zu geben, für den Fall – – Sie sprachen den Satz nicht aus und sahen sich dabei nicht an. Nun war es schon dunkel. Die Soldaten waren vorn. Frau Larsen lag im Bett und schlief. Es war wohl kein Mensch in Nübel – oder sogar im ganzen Sundewitt, da, wo an diesem Abend Preußen lagen – so ruhig wie sie. Ihr einziges Kind hatte im ganzen Leben noch keinen Abend erlebt wie diesen; aber sie ahnte nichts davon.

Inge saß in der Kammer angekleidet im Dunkeln und rang die Hände. Sie versuchte, ruhig zu sein, konnte es aber nicht. Sie wußte, was nebenan in der Küche geschah, und freute sich darüber. Da saßen Gesine und Fritz Mahlke beisammen auf der Bank am Herd. Sie lag still in seinem Arm mit geschlossenen Augen und sprach nicht und meinte, sie müßte vergehen vor Seligkeit unter seinen Küssen. Dann fiel ihr ein, was morgen für ein Tag war, und sie fuhr empor und klammerte sich an ihn und zitterte am ganzen Körper vor Angst und Verzweiflung. Aber er war jetzt ganz ruhig. Er streichelte ihr Haar und küßte ihre Augen und ihr Gesicht, bis auch sie wieder ruhig wurde. An Thies dachten sie beide mit keinem Gedanken.

Die Zeit ging hin. Manchen schien es, als eilte sie in dieser Nacht mit hörbarem Schwingen und Klingen der Ewigkeit zu, als wäre es keine Nacht wie andere. Fritz Mahlke stand auf. Er nahm keinen Abschied. Er sagte nur, er müßte nach seinen Leuten sehen. Vorn wurde es lebhaft; gedämpfter Lärm drang von dort nach hinten, als wenn viele Menschen durcheinander sprächen und suchten. Es war ein Hin und Her nach draußen, und auf der Straße wurde es laut. Dann kam Fritz Mahlke wieder. Er hatte umgeschnallt und sah marschbereit aus. Er sagte nichts, sondern nahm Gesine nur in seine Arme, als wollte er sie zerdrücken, und küßte sie wie ein Verzweifelter. Ihr war, als müßte sie schreien vor Schmerz – laut, gellend, aber sie konnte ja nicht, weil er sie küßte. Und als er sie losließ und wegstürzte, stand sie da wie betäubt und brachte keinen Ton aus der Kehle. Dann lief sie hinaus auf die Straße.

Es war noch dunkle Nacht.

Zwischen den Reihen der kleinen, niedrigen Häuser zogen Soldaten hin, ununterbrochen, immer mehr, immer neue, im gleichförmigen Schritt. Ab und zu klang ein gedämpfter Kommandoruf durch die Nacht. Gesine saß jetzt auf den Steinstufen und sah auf die Soldaten – oder vielmehr ins Leere. Sie hatte das Gefühl, als müßte es so fortgehen in alle Ewigkeit, daß hier in langer Kette Menschen vorbeizogen, die da hinten aus dem Dunkel kamen und unaufhaltsam vorwärts drängten auf einen tiefen Abgrund zu, der da vorn gähnte. Fritz Mahlke war schon dort, und alle diese würden nachstürzen, – und das alles war unabwendbar wie das Schicksal.

Inge kam und setzte sich zu ihr. Sie legte ihr ein Tuch um die Schultern, zitterte aber selbst vor Kälte und Erregung.

Endlich kamen keine Soldaten mehr, sie hörten nur noch den gleichförmigen Schritt der weitermarschierenden Truppen.

»Komm ins Haus, es ist kalt,« sagte Inge. Sie hockten dann zusammen am Herd, um sich zu erwärmen. Der Morgen graute fahl, gespenstisch.

»Ich hab' ihn so lieb – ich hab' ihn so lieb!« flüsterte Gesine ein paarmal mit zitternden Lippen, schlang die Arme um Inges Hals und preßte den Kopf an ihre Brust. Inge streichelte und küßte sie, und ihre Tränen tropften nieder auf Gesines Haar.

»Warum weinst du, Inge?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weine nicht,« sagte sie. Dann glitt sie nieder auf die Knie, legte den Kopf auf Gesines Schoß und schluchzte verzweifelt.

Es war jetzt vier Uhr morgens, und sie begannen von den Strandbatterien zu schießen, so, wie noch niemals geschossen worden war. Die ganze Luft bestand nur noch aus Dröhnen und Krachen; die Fensterscheiben klirrten, der Erdboden zitterte, vielleicht schwankten auch die Häuser, man wußte es nicht genau, es war ja auch gleich, nichts stand mehr fest, alles schwankte und zitterte und stürzte. Man ging wieder vor die Tür. Im grauen Morgenlicht zogen Wagen und Reiter und Munitionskolonnen vorbei, und alles nahm denselben Weg, den schon Tausende von Menschen genommen hatten, in den Abgrund hinein. Die Sonne stieg aus dem Meere auf und warf ihren ersten Goldschimmer über das Land, als sollte dies ein Tag werden wie alle anderen. Das Dröhnen und Krachen hörte nicht auf, sondern wurde immer stärker, und man dachte doch jeden Augenblick, schlimmer könnte es nicht werden.

Langsam, mühsam marschierten die Truppen durch die Laufgräben auf die Schanzen zu, bis die Ausfallstufen erreicht waren. Dort standen sie Mann bei Mann, um auf den entscheidenden Augenblick zu warten. Noch graute kaum der Morgen, und um zehn Uhr erst sollte der Sturm beginnen. Nun schlich die Zeit dahin, als hätte sie Blei an den Schwingen. Im fahlen, ersten Morgenlicht ragten die Schanzen auf, und der Schritt der auf- und abgehenden Postens klang hell von dort herüber.

Das Schießen der Strandbatterien begann, betäubend, jedes andere Geräusch ertötend.

Die Sonne ging auf, es wurde wärmer. Das bleierne, entsetzliche, abspannende Warten wurde immer unerträglicher.

Fritz Mahlke stand an den Grabenrand gelehnt und schloß die Augen. Er schlief nicht, jeder Nerv war noch angespannt; aber wie im Traum zog alles an ihm vorüber, was er in den letzten Stunden erlebt hatte. Es war ein so großes, unfaßbares Glück. Er möchte leben, mit allen Fasern hängt er jetzt am Leben, und vor ihm liegt der Todesweg; dreihundert Schritt nur bis zu den Schanzen, aber auf jedem Schritt kann ihn eine Dänenkugel treffen.

Um ihn herum schlafen viele, stehend, oder an die Grabenränder gelehnt, aber allmählich wird es lebendiger, es wird gesprochen und gelacht und allerlei Scherz getrieben. Dies entsetzliche Warten muß nach Möglichkeit verkürzt werden.

Die Kanonen verstummen plötzlich, doch es ist noch nicht ganz still. Liegt das Dröhnen noch in der Luft oder tönt es nur im Ohr weiter? Allmählich verklingt es – und die Stille ist fast furchtbarer als der betäubende Lärm. Das Scherzen und Lachen hört auf, ein großer Ernst liegt plötzlich über allen. »Zum Gebet,« geht es die Reihen entlang, und Tausende von Menschen entblößen das Haupt und beten still, während die Geistlichen segnend die Hände ausbreiten.

Noch ist die Zeit nicht da. Die Führer stehen mit den Uhren in der Hand. Jede Minute geht bleischwer hin wie eine Ewigkeit – und in rasender Schnelligkeit drängen sich die Gedanken in dem Hirn der Krieger, als würde noch einmal alles lebendig, was ihnen das Leben bedeutet hat, kleines und großes. Die Eltern und das Vaterhaus und kleine, dumme Geschichten aus der Kinderzeit, Pläne, die noch nicht ausgeführt sind, ein Glück, das noch nicht ausgekostet wurde, und Sünde, die noch nicht gesühnt ist, das alles steigt auf und steht da und lockt oder droht. Vorsätze werden gefaßt, heiße, ernste Vorsätze, und mancher faltet noch einmal die Hände und will beten, aber es fallen ihm keine Worte ein, weil das Herz so übervoll ist. Da stammelt er das kleine Kindergebet, das seine Mutter ihn gelehrt hat, als er noch ein kleiner, kleiner Junge war.

Nun ist die Zeit um! Die Führer springen auf, und ringsum in den Gräben wird es lebendig. Die Musikchöre spielen einen neuen Marsch, aber niemand hört hin. Alles ist vergessen, Glück, Leid, Sünde, es gibt nur noch einen Gedanken und ein Ziel: – und Tausende von jungen, blühenden Leben stürmen mit brausendem Hurraruf den verderbenbringenden Schanzen entgegen.


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