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Viertes Kapitel.

Als die Nachricht kam, daß das Danewerk ohne Verteidigung von den Dänen geräumt worden wäre, wollte sie zuerst niemand glauben. Jens Larsen lief den ganzen Tag herum und hielt jeden Menschen, den er traf, mochte es ein Mann oder Weib oder Kind sein, an und sagte: »Das ist unmöglich, das ist ein Irrtum, eine Lüge. Es hat sich jemand einen Scherz gemacht. Wie kann man das denken von unserer ruhmreichen Armee?«

Aber dann wimmelte es plötzlich auf allen Wegen von dänischen Soldaten, wie ein Heuschreckenschwarm brachen sie über das Land herein, müde, abgehetzt, fliehend, um sich hinter die Düppeler Schanzen zurückzuziehen. In allen Häusern war Einquartierung, und die Soldaten erzählten von den unglücklichen Gefechten bei Ober-Selk und Översee, wo die Österreicher ihnen so viel zu schaffen gemacht hatten, von den furchtbaren Strapazen, von der Kälte und den Entbehrungen. Man war plötzlich mitten im Kriegsleben und wußte nicht, was man von alledem denken sollte.

Nun brachten aber die dänischen Zeitungen die Berichte von den Erfolgen der Armee und ihrer Unbesiegbarkeit, und da trug Jens den Kopf wieder höher und las allen, die ihm in den Weg kamen, vor, was sie in Kopenhagen sagten. Die mußten es doch wissen. Nur General de Meza verstand nichts und mußte eigentlich gehängt werden. – – –

Inge Hansen saß in ihrer kleinen Küche und schälte Kartoffeln. Nübel war von Soldaten besetzt, und auch Hansens hatten ihre Vorderstube abgeben müssen und für sich nur die kleine Kammer neben der Küche behalten. Aber jetzt waren die Soldaten ausgerückt, und es war still und friedlich um Inge. Sie hatte einen unruhigen, gespannten Zug im Gesicht; denn es lastete eine große Sorge auf ihr. Ihr einziges Kind, ihr Hannes, war, als die politische Lage der Herzogtümer so ernst wurde, von dänischer Seite wie so viele andere nach Schleswig beordert worden, um dort Fuhren zu leisten. Peters kleiner Wagen und der hübsche Braune, den er sich erst vor kurzem angeschafft hatte, waren zu diesem Zweck requiriert worden. Nun kam die dänische Armee zurück, aber von ihrem Hannes hatte sie noch keine Nachricht. So oft draußen ein Wagen fuhr, lief sie ans Fenster und sah hinaus, aber es war bis jetzt immer vergebens gewesen.

Nun kam wieder ein Wagen. Sie hörte schon von weitem das Quietschen der Räder auf dem Schnee mit ihrem für dies Geräusch jetzt so sehr geschärften Ohr. Diesmal meinte sie bestimmt, er müßte es sein, und sie begnügte sich nicht damit, ans Fenster der Diele zu gehen, sondern öffnete schnell die Haustür und trat hinaus. Es war aber nicht ihr Hannes, der im Schritt die Straße heraufgefahren kam, sondern Jens Larsen.

Sie stutzten beide, als sie sich sahen, und Jens hielt sein Pferd an und rückte an seiner Pelzmütze. Über das Gesicht der Frau flog ein helles Rot und ließ sie für den Augenblick ganz jung erscheinen.

»Ich meinte, es wäre Hannes,« sagte sie.

Dann waren sie wieder still.

»Ist Peter zu Haus?« fragte Jens endlich.

Inge nickte. »Ja, er ist auf dem Hof und macht Holz klein.«

Jens zeigte mit der Peitsche nach der Deichsel und sagte: »Dat oll Ding is tweigangen. Wullt Peter mi dat woll 'n beten tosammen drechseln?«

»Das will er wohl,« meinte Inge, ging um das Haus herum und rief nach Peter.

Er kam, Jens stieg ab, und die Männer besahen zusammen den Schaden. Inge war in das Haus zurückgegangen, hatte aber die Tür aufgelassen. Als sie nun sah, daß Peter an dem Wagen hantierte und Jens, die Hände in den Taschen dabeistand und zusah, rief sie: »Willst du nicht reinkommen, Jens Larsen? Hier ist es schön warm.«

Jens zögerte einen Augenblick. Er war noch nie in Inges Haus gewesen. Aber schließlich ging er doch. Er mußte sich bücken, um durch die niedrige Tür zu kommen, und er dachte, daß die große Inge wohl auch jedesmal den Kopf neigen mußte, wenn sie ihr Haus betrat. Peter kam wohl so hinein. Die schmale Diele, die nach hinten in die Küche führte, war mit Ziegelsteinen gepflastert, die nach der Mitte zu sehr ausgetreten waren. An der einen Wand stand eine große Holztruhe. Links war eine Tür, die in die kleine Vorderstube führte. Inge saß wieder auf dem niedrigen Holzschemel und schälte Kartoffeln.

»Nun haben die Dänen die Preußen doch nicht am Danewerk zurückgeschlagen,« sagte sie, als Jens eingetreten war und sich auf den Stuhl in der Nähe des Herdes gesetzt hatte.

Hierüber sprach Jens nun nicht gern. Die Tatsachen stimmten so wenig mit dem überein, was die Zeitungen sagten, daß er sich nicht ganz zurecht fand. Er brummte etwas vor sich hin und sah ins Feuer. Aber Inge ließ nicht locker.

»Diesmal wird es doch Ernst mit der Befreiung von Schleswig-Holstein, die Preußen rücken ja schon näher. Es dauert nicht lange, dann sind sie hier.« Nun machte Jens eine wegwerfende Bewegung. »Die Düppeler Schanzen kriegen sie nie, da können sie machen, was sie wollen.«

Was er früher vom Danewerk gesagt hatte, sagte er jetzt von den Düppeler Schanzen; er klammerte sich förmlich an den Satz.

»Abwarten,« sagte Inge ruhig und warf wieder eine geschälte Kartoffel in die Schüssel mit Wasser.

Jens sah eine Weile zu, wie ihr die Arbeit so flink von der Hand ging, und allerlei Erinnerungen kamen ihm.

»Deine Mutter ist nun auch schon lange tot,« meinte er endlich aus seinen Gedanken heraus.

»Ja,« sagte sie, und in der Art, wie sie den Kopf hob und ihn ansah, lag eine ernste Abwehr. Sie hatte seinen Gedankengang erraten und wollte nicht, daß er noch mit anderen Worten auf jene vergangene Zeit zurückkam.

Es lag ein Stolz in ihrer Bewegung, der ihn ärgerte. Inge Hansen war vielleicht der einzige Mensch auf der ganzen Welt, gegen den Jens Larsen eine Schuld hatte, die noch nicht abgetragen war, die er wohl nie abtragen konnte, und deshalb war er ihr gegenüber leicht gereizt.

Er stand wieder auf und reckte sich zu seiner ganzen, stattlichen Höhe, und indem seine Gestalt wuchs und sich dehnte und er so massig und kernig in all der verhaltenen Kraft dastand, schien es, als ob der Raum für ihn zu klein wäre und er sich an allen Ecken stoßen müßte. Und gerade jetzt trat auch Peter in die Küche, klein und gebückt, mit seinem verwitterten, zusammengedrückten Gesicht und den strubbeligen grauen Haaren. Der Gegensatz trat scharf hervor. Jens fühlte das und freute sich darüber. »Na, Peter Speck,« sagte er und schlug den Alten derb auf die Schulter, »is 's nu all wedder in Ordnung?«

Peter nickte. »Bis nach 'n Larsenhof langt dat nu woll.«

Jens griff in die Tasche und holte einen großen Lederbeutel heraus. »Und was bin ich nu' schuldig?« »Das hat nichts zu sagen,« sagte Peter mit freundlichem Gesicht und wendete sich ab.

Aber Jens wollte bezahlen, denn er meinte, es wäre eine Demütigung für Inge, wenn er ihrem Mann Geld für diese kleine Gefälligkeit gab, und es verursachte ihm ein Gefühl von Freude und Genugtuung, sie zu demütigen. Deshalb legte er ein dänisches Zweikronenstück auf den Tisch und sagte: »Ach, dumm Schnack! För nix is nix! Du hast das Geld auch nicht in Säcken auf dem Boden stehen, Peter Hansen! Hier, kauf dein' Frau 'ne bunte Schürze dafür.«

Peter schob seine kurze Pfeife von einem Mundwinkel in den andern, was immer andeutete, daß er etwas sagen wollte. Jens sah aber nicht auf ihn, sondern auf Inge. Sie sah nicht gedemütigt aus, ihr Gesicht war ganz ruhig, aber die klaren Augen sahen ihn mit einem Blick an, der zu sagen schien: »Jens, so warst du früher nicht.«

Es war auf einmal eine Stille in dem kleinen Raum zwischen den drei Menschen, aber plötzlich sprang Inge auf, stellte den Kartoffelkorb auf den Tisch und stürzte hinaus.

»Hannes!« rief sie nur.

Die beiden Männer folgten ihr erstaunt. Sie hatten noch gar nichts gehört. Aber als sie aus der Haustür kamen, stand dort wirklich ein kleines, armseliges Fuhrwerk mit einem halbverhungerten Pferd davor, und im Wagen, zwischen dem Stroh, saß ein blasser, schmaler, hohlwangiger junger Mensch.

»O, Hannes,« schrie Inge noch einmal auf, »o, Hannes, lütt Jung, bist du nu da? Nu steig man aus.«

Hannes Hansen stieg schwerfällig ab und sah müde um sich. Peter hatte inzwischen das Pferd geklopft und besehen.

»Wo hast denn meinen fixen Braunen gelassen?« fragte er endlich.

Da zuckte es in Hannes Hansens Gesicht, und er sagte: »Das ist er ja.«

Nun waren sie alle still, aber Peter trat wieder an das müde, abgeklapperte Pferd heran und streichelte es.

Inge umfaßte Hannes und führte ihn ins Haus. »Komm, Jung,« sagte sie, »nu sollst du was Warmes kriegen.«

Als Hannes Hansen in der Küche am Herd saß, schien es, als löste sich allmählich eine Spannung, die auf seiner Seele gelegen hatte, und er fing an zu erzählen. Drei Wochen lang hatte er kaum ein Dach über dem Kopf gehabt und nichts Ordentliches zu essen bekommen. Auf verschneiten oder gefrorenen Wegen war er stundenlang im Land umhergefahren mit Proviant oder mit Verwundeten, und Kälte, Regen und Wind hatten ihn ungeschützt getroffen.

Inge machte, während er erzählte, eine warme Suppe für ihn zurecht, Peter kniete am Boden, zog ihm die schlechten, nassen Stiefel von den Füßen und gab ihm dafür frische, wollene Strümpfe und warme Schuhe.

»So,« sagte Inge und kam mit ihrem Teller mit warmer Suppe heran, »nu iß man tüchtig, mein Jung, und dann gehst du gleich zu Bett. Nu haben wir dich ja wieder hier, nu wollen wir dich wohl wieder zurecht pflegen.«

Aber der Sohn sah die Mutter mit einem herzzerreißenden Blick an, warf die Arme ungestüm um ihren Leib und drückte den Kopf in ihre Kleider.

»Morgen muß ich ja wieder weiter,« rief er verzweifelt. Inge rührte sich nicht; sie meinte nur, alle müßten das furchtbare Klopfen ihres Herzens hören.

»Weiter?« fragte sie tonlos. »Wohin denn?«

»Nach Alsen. Wir sollen alle rüber nach Alsen.«

Da legte es sich wie eine Last auf die Herzen der vier Menschen; denn sie sahen zum erstenmal dem furchtbaren Ernst des Krieges ins Auge, und sie fühlten, daß er von jedem von ihnen seine Opfer fordern würde. Aber sie jammerten und klagten nicht, sondern nahmen es hin wie etwas Unabwendbares.

Der Junge aß seine Suppe mit der hastigen Gier eines völlig Verschmachteten. Peter legte seine Pfeife auf den Tisch, denn sie war ihm längst ausgegangen; und das geschah sehr selten. Inge hatte anscheinend ihre Arbeit vergessen, sie setzte sich auf den niedrigen Holzschemel, vornübergebeugt, wie niedergedrückt von einer schweren Last, und die gefalteten Hände in ihrem Schoß waren so fest umeinandergeschlossen wie im Krampf.

Der erste, der wieder sprach, war Peter. Er stand schwerfällig auf und sagte: »Ich will nu man den Braunen in 'n Stall bringen.«

Das brachte auch Jens zur Besinnung, der bis jetzt stumm am Türpfosten gelehnt hatte. Er richtete sich auf und sagte: »Ich muß nun wieder fort. Adjüß.«

Inge stand auf, und es lag wieder die alte Kraft in ihrer Bewegung.

»Adjüß, Jens Larsen,« sagte sie.

Draußen im Schnee stand Peter neben seinem müden Pferd, das er sich vor ein paar Monaten von seinen Ersparnissen gekauft hatte, weil er nun alt wurde und ihm die langen Wege mit seinem Karren schwer fielen. Er machte die Leinen und Sielen los, und dabei streichelte und klopfte er den Braunen und sprach zu ihm, wie man zu einem Kinde spricht.

Auf dem Larsenhof war große Einquartierung. Als Jens sich seinem Hofe näherte, war eben eine Abteilung Soldaten angetreten, um auszuziehen. Die Kommandorufe der Offiziere schallten weit in der klaren Winterluft, und die blanken Beschläge der Uniformen blitzten in der Sonne. Nun marschierten sie ab, gerade als er in das Hoftor einfahren wollte. Er hielt den Wagen an und ließ sie an sich vorüberziehen. Die Offiziere grüßten, und von den Leuten nickte ihm hin und wieder einer zu. Dann war die Einfahrt frei, und er fuhr in den Hof. An den Fenstern und in der Tür des Kuhstalles standen die Mägde und sahen den abziehenden Soldaten nach. Sie kicherten und stoben erschrocken zurück, als sie ihren Herrn sahen. An der strohumwickelten Pumpe waren Soldaten im Arbeitszeug beschäftigt, um Wasser zu holen.

Im Hause war auch alles auf den Kopf gestellt. Jeder Raum war besetzt, in den Stuben lag Stroh für das Nachtquartier, auf allen Sofas waren Betten zurecht gemacht, und in der Küche hausten die Soldaten und schäkerten mit den Mägden, Frau Larsen lief wie aufgescheucht im Hause umher und wußte sich nicht mehr zurecht zu finden. Alle Augenblicke erklärte sie, sie wollte sich um nichts mehr kümmern, Gesine sollte alles machen, und wenn sie Gesine eine halbe Stunde nicht gesehen hatte, dann rief sie verzweifelt nach ihr und sagte, sie dürfte nicht allein unter das rohe Kriegsvolk, sie sollte immer an ihrer Seite bleiben.

Als Jens kam, stürzte sie ihm entgegen. »O, Jens,« rief sie klagend, »was ist es schrecklich mit dem Krieg. Ich hab' doch so bestimmt gedacht, sie kamen nicht hierher. Du hast doch immer gesagt, die Preußen könnten nicht über das Danewerk hinweg, und wir würden gar nichts von dem Kriege merken. Ganz bestimmt hast du's gesagt, ich hab's noch neulich zu Hanne Lüttjen gesagt, wie sie mir wieder Eier abgekauft hat, und nun ist hier schon alles in Unordnung.«

»Was ist denn los?« fragte er.

Sie sah sich um und holte tief Atem. Was sollte sie zuerst sagen? Alles war in Unordnung und aus dem Gleise. »Mein ganzer Leinenschrank ist schon leer,« sagte sie endlich, »und sie legen sich mit den Stiefeln ins Bett, und mit den guten Handtüchern wischen sie ihre Helme und Gewehre ab. In die Wände schlagen sie große Nägel, so daß die Tapeten Löcher kriegen, und mein bester Wassereimer ist weg, den kann kein Mensch mehr finden.«

Vor Jens' Augen stand das Bild einer Frau, die ihren einzigen Jungen hergeben mußte, und die ohne zu klagen ihr Schicksal trug. Er legte seiner Frau die Hand auf die Schulter, so schwer, daß ihre schmächtige Gestalt fast darunter zusammenknickte, und sagte ernst: »Wenn der Krieg keine größeren Opfer von dir fordert, als deinen besten Wassereimer, dann kannst du Gott auf den Knien danken.«

Sie sah ihn ganz erschrocken an, und ihr war zumute, als ob alles über ihr zusammenstürzte. Sie hatte so bestimmt geglaubt, daß sie hier nichts von dem Kriege merken würden, aber nun waren sie auf einmal mitten drin in dem Kriegsleben, und Jens schien anzunehmen, daß es noch viel schlimmer kommen könnte. »Du hast doch aber immer gesagt, sie kämen gar nicht hierher,« sagte sie nun vorwurfsvoll und weinerlich.

»Ja, nun sind sie aber gekommen, ich kann's doch auch nicht ändern.« Seine Stimme verriet dabei wachsende Ungeduld.

»Die Deerns sind gar nicht mehr zu gebrauchen, die sind schon rein verrückt,« klagte sie weiter.

Er hatte seinen Pelz abgezogen und war in die kleine Stube getreten, die der Familie jetzt allein geblieben war.

»Laß uns jetzt essen,« sagte er kurz und herrisch, um ihre Klagen abzuschneiden.

Sie ging seufzend in die Küche, und er trat ans Fenster und sah auf den Hof hinaus. Das Jammern seiner Frau brachte ihn ganz aus der Fassung, er mußte sich ordentlich zusammennehmen, um nicht all seinem Zorn und seiner Ungeduld einmal gewaltsam Ausdruck zu geben. Sie hatte ja immer diesen aufs kleine gerichteten Sinn gehabt, aber früher hatte ihn das nicht weiter angefochten; dazu war sie ihm zu gleichgültig. Sie hatten nebeneinander hergelebt, und wenn das Haus in Ordnung war, dann war er zufrieden gewesen. Aber jetzt in den ernsten Zeiten war er anspruchsvoller geworden; jetzt empfand er plötzlich die Leere neben sich und begann, zu fühlen, was ihm in der langen Zeit seiner Ehe eigentlich immer gefehlt hatte.

Am Nachmittag dieses Tages kam Thies. Er war schon eingezogen; sein Regiment lag nicht weit von Sonderburg auf der Insel Alsen. Als Gesine ihn durch das Tor in den Hof einbiegen sah, durchzuckte sie ein so heftiger Schreck, daß sie sich auf den nächsten Stuhl setzen mußte. Sie hatte ihn seit dem Verlobungstage nicht wieder gesehen Und sich so sicher in dem Gedanken gefühlt, daß er jetzt in der Kriegszeit nicht kommen könnte. Nun war er aber auf einmal wieder da, jeder Schritt brachte ihn ihr näher, und gleich würde er vor ihr stehen mit all den Rechten eines Bräutigams und würde sie küssen – küssen wie neulich. Da überfiel sie ein Entsetzen, und sie lief davon, über die Diele, ehe er noch die Haustür erreicht hatte, die Treppe hinauf bis auf den Boden. Dort setzte sie sich ganz hinten in einer Ecke auf eine Kiste.

Sie hörte unten die Haustür gehen und darauf Sprechen auf der Diele. Ihre Mutter rief ein paarmal laut nach ihr, dann vernahm sie den festen Schritt und die Stimme ihres Vaters, der Thies anscheinend gleich mit Beschlag belegte. Die Wohnzimmertür ging – und dann war alles still.

Bis jetzt hatte sie gespannt gehorcht, nun atmete sie erleichtert auf und lehnte sich erschöpft gegen die Wand. Aber was sollte nun werden? Sie konnte doch nicht den ganzen Nachmittag hier sitzen bleiben!

Einmal kam doch der Augenblick, wo sie Thies gegenübertreten mußte. Wenn die Eltern dabei waren, würde er ihr wohl nur einen Kuß geben, so wie früher, als sie noch nicht verlobt waren. Sie dachte weiter. Dann gingen die Eltern aber vielleicht einmal beide hinaus, sie blieb allein mit Thies – vielleicht lange – und dann kam es doch. Ihr wurde siedendheiß, und sie strich sich mit dem Handrücken über die Stirn. Nein, das mochte sie nicht und das wollte sie nicht. Es war wohl das Blut ihres Vaters, das sich plötzlich in ihr regte. Sie stand auf und warf mit entschlossenem Gesicht den Kopf zurück. Mochte nun kommen, was wollte, sie gab Thies seinen Ring zurück und sagte ihm, daß sie nicht seine Frau werden könnte. Sobald sie diesen Entschluß gefaßt hatte, ging sie auch ohne Besinnen hinunter.

Thies saß mit Jens auf dem Sofa in der Wohnstube und erzählte ihm von dem Kriegsleben in Sonderburg, aber er war nur halb mit seinen Gedanken bei dem, was er sagte. Seine Augen wanderten immer wieder nach der Tür. Gesine mußte doch kommen. Am liebsten hätte er sie im ganzen Hause gesucht, aber Jens ließ ihn nicht los. »Sie wird schon kommen,« meinte er und sprach dann weiter vom Kriege.

Endlich kam sie auch. Sie sah blaß aus, und als Thies sie küßte, fühlte er, daß ihr Gesicht ganz kalt war.

»Was hast du?« fragte er besorgt.

»Nichts,« sagte sie und setzte sich mit einer Handarbeit ans Fenster.

Das war nun eigentlich noch viel qualvoller, und Thies wurde ganz ungeduldig. Er war wahrhaftig nicht hergekommen, um mit Jens auf dem Sofa zu sitzen und ihm vom Kriege zu erzählen. Er hatte sich diese Stunden ganz anders gedacht. Und Gesine sah auch nicht ein einziges Mal zu ihm herüber, bewies ihm mit keinem Blick, daß sie ebenso dachte wie er. Schließlich hielt er es nicht mehr aus, sondern stand auf und trat zu ihr ans Fenster. In diesem Augenblick wurden die Eltern beide abgerufen.

»Gott sei Dank!« sagte er aus tiefstem Herzensgrund, als die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte. Als er sie nun aber umarmen wollte, machte sie sich hastig frei und wich zurück.

»Nicht, Thies, nicht!« rief sie ängstlich abwehrend. »Ich muß dir etwas sagen. Setz dich mal dahin, da drüben, und hör zu.«

Sie sprach so erregt, daß er sie ganz erstaunt und erschrocken ansah, aber er setzte sich nicht, wie sie es gern wollte, sondern blieb stehen, mit vorgebeugtem Oberkörper, wie zum Kampf bereit. »Was hast du?« fragte er. In seiner Stimme lag etwas Drohendes.

»Sei mir nicht böse,« bat sie, »bitte, Thies, sei mir nicht böse. Ich wollte es ja, weil du mich lieb hast und Vater und Mutter sich darüber freuen, aber ich kann nicht.«

»Was?«

»Deine Frau werden. Bitte, Thies –«

Er hörte nicht mehr. »Was, du? Was sagst du?« rief er mit heiserer, bebender Stimme. »Du kannst nicht meine Frau werden? Warum nicht?«

Sie suchte nach einer Antwort. Ja, warum eigentlich nicht? »Ich kann nicht,« sagte sie nur wieder.

»Aber du mußt doch einen Grund haben!« Er packte sie plötzlich. »Du, ist da ein anderer? Sprich, ist da ein anderer?«

Sie sah ihm frei und offen ins Auge und schüttelte den Kopf.

Seine Hände hielten sie noch immer wie mit eisernen Klammern. »Ja, aber warum denn, du? Warum denn?«

»Ich habe dich nicht lieb genug,« sagte sie nun.

Da riß er sie in seine Arme und küßte sie. »Ach lütt Deern, das kommt schon,« rief er auf einmal übermütig. Ich küsse – dich so lange – bis du mich – mehr liebst, als alles – auf der Welt.«

Die Leidenschaft riß ihn wieder fort, und er bedachte nicht, daß er Gesine damit am meisten zurückschreckte. Sie riß sich jetzt mit Gewalt von ihm los.

»Ich will aber nicht,« rief sie heftig, »hör doch, Thies, ich will nicht. Hier, nimm deinen Ring zurück –«

Sie standen sich noch mit flammenden Augen gegenüber, als Jens eintrat.

»Na, was ist denn los?« fragte er erstaunt, denn er sah sofort, daß zwischen ihnen etwas nicht in Ordnung war.

Er bekam keine Antwort. Gesine schlug das Herz bis zum Halse hinauf. Sie hatte ihrem Vater ja heute noch sagen wollen, daß sie Thies nicht heiraten konnte, aber sie hatte sich den Augenblick anders gedacht. Vielleicht oben auf der Hohen Koppel, wenn Thies fort war und ihren Ring schon zurückgenommen hatte. Jetzt aber, da sie mit Thies noch gar nicht im klaren war und sie so unvorbereitet gefragt wurde, fand sie keine Worte. Denn daß ihr Vater sehr böse sein würde, wußte sie im voraus; er hatte diese Verlobung selbst gewünscht. Thies mochte auch nichts sagen. Er war doch nicht sicher, ob Jens auf seine Seite treten würde. Es schien ihm fast natürlicher, daß er seiner Tochter zu Hilfe kam.

Jens sah ärgerlich von einem zum andern. »Na, bekomme ich keine Antwort?« rief er aufgebracht. »Ich will wissen, was los ist.«

Da faßte sich Gesine ein Herz. Gesagt werden mußte es ja doch einmal, also war es vielleicht schon am besten, sie brachte es gleich zur Sprache und suchte Schutz bei ihrem Vater.

»Ich habe Thies gebeten, seinen Ring zurückzunehmen,« sagte sie, »denn ich kann nicht seine Frau werden.«

Jens stand wie versteinert da. »Warum nicht?« fragte er kurz und barsch.

»Weil –« Gesine stockte und suchte nach Worten. »Ich habe ihn nicht lieb genug dazu.«

Nun schwoll auf Jens' Stirn die Zornesader. Er hatte noch nicht gelernt, sich aus seinem eigenen Leben eine Lehre zu ziehen, und er dachte jetzt auch gar nicht an Gesine und ihre Gefühle. Ihn beherrschte nur der Gedanke, daß sie eine wichtige Entscheidung hatte treffen wollen ohne sein Wissen und gegen seinen Willen, etwas rückgängig machen, was er gutgeheißen hatte, und das brachte ihn auf. Inges Frage fiel ihm auch ein. »Hat sie ihn lieb?« Die eigenen Eltern hatten darüber nicht nachgedacht. Aber das mußte ein Mädchen doch selbst wissen, wenn es sich verlobte. Sollte er nun in der Gegend herumgehen und allen erzählen, daß es aus wäre mit der Verlobung, und daß seine Tochter so eine wäre, die sich heute verlobte und dann nach kurzer Zeit sagte, sie wäre anderen Sinnes geworden und möchte nun nicht mehr?

»So etwas überlegt man sich vorher,« rief er. »Meinst du, ich werde zugeben, daß du Thies an der Nase rumführst? Einen Tag verlobst du dich mit ihm, und das nächstemal paßt es dir nicht mehr! Denkst du, du könntest ihm nun einfach seinen Ring zurückgeben, und alles wäre beim alten? Ohne mich vorher zu fragen? Sofort steckst du den Ring wieder an und bittest Thies um Verzeihung für dein dummes Betragen.«

Gesine preßte die Lippen zusammen und rührte sich nicht. Sie hatte den Willen des Vaters bis jetzt immer ohne daran zu deuteln anerkannt und respektiert, heute zum erstenmal lehnte sich in ihr etwas gegen ihn auf, und sie hatte das Gefühl, als ob er jetzt über etwas verfügte, worüber er kein Recht hatte.

»Du hast Thies dein Wort gegeben, und eine Larsen hält ihr Wort,« fuhr er fort. Da ihm beim Sprechen einfiel, daß er das, was er da sagte, selbst nicht getan hatte, machte er ein so grimmiges Gesicht, daß auch Thies Furcht vor ihm bekam.

Jetzt fuhr Gesine aber auf. »Nein, das habe ich nicht getan. Thies hat mich –« Sie stockte, und ihr Gesicht überzog sich mit dunklem Rot. Sie dachte wieder an die Szene auf der Hohen Koppel; ihr mädchenhaftes Empfinden sträubte sich dagegen, zu schildern, wie Thies sie da in die Arme gerissen und geküßt hatte. Jens sah abwechselnd sie und Thies an.

»Was hat Thies?« fragte er langsam.

»Er hat mich gar nicht gefragt, sondern es als selbstverständlich angesehen, daß ich –«

»Nu ja, und du hast dich nicht gesträubt. Aber, zum Kuckuck, das ist doch ausreichend. Eine Verlobung wird doch nicht abgeschlossen wie ein geschäftlicher Handel.«

Gesine sah auf Thies. Er mußte doch jetzt sagen: »Ja, sie hat sich gesträubt, aber ich habe es nicht gelten lassen.«

Aber er sagte es nicht. Er stand immer noch mit verkniffenem Gesicht da und sah vor sich hin.

Jens aber fuhr fort: »Nun verbitte ich mir alle dummen Geschichten. Sofort steckst du deinen Ring wieder an und bittest Thies um Verzeihung, verstanden! Und dann will ich von dieser ganzen verrückten Geschichte nichts mehr hören. Das wäre ja noch schöner – Auftritte, Weiberlaunen!«

Er blieb noch wartend stehen und sah auf Gesines Hände. Sie hatte die Lippen fest zusammengepreßt und schob den Ring zögernd und widerstrebend wieder auf den Finger. Nun ging Jens befriedigt hinaus. Soweit hatte er die Sache in Ordnung gebracht; jetzt mochten die jungen Leute selbst sehen, wie sie sich wieder vertrugen. Im Grunde nahm er die Sache nicht so schwer. Streitigkeiten kamen immer mal zwischen Brautleuten vor. Gesine war ja so jung und unerfahren, natürlich dachte sie gleich, so etwas müßte zum Bruch führen. Aber mit der Zeit würde sie schon klüger werden, man mußte ihr nur gleich einen festen Willen entgegensetzen.

Als die Tür sich hinter Jens geschlossen hatte, wollte Thies sich Gesine nähern und ihr die Versöhnung erleichtern, indem er den Arm um ihre Schultern legte, aber sie wich vor ihm zurück und sah ihn so drohend an, daß er den Mut dazu verlor und unschlüssig auf halbem Wege stehen blieb.

»Rühr mich nicht an!« rief sie.

Bis jetzt hatte sie sich halb unbewußt gegen ihn gesträubt, weil sie seine Liebe nicht erwidern konnte, aber seit dieser Stunde hatte sie auch die Achtung vor ihm verloren.

»Du, du hast dabei gestanden und dem Vater nicht gesagt, daß ich mich gegen dich gesträubt habe,« fuhr sie mit blitzenden Augen fort, »und du willst eine Frau heiraten, die dich nicht freiwillig nimmt, sondern gezwungen. Du hast ja keinen Stolz. Vater kann mich wohl zwingen, deinen Ring zu tragen, aber ehe ich dich heirate –« Sie suchte nach Worten, um den Satz zu vollenden. Eher würde sie wohl ins Wasser gehen, dachte sie, aber das sagte sie nicht. »Ich tu es einfach nicht – nie!« rief sie. Damit ließ sie ihn stehen und ging hinaus.

Thies blieb auf dem Fleck stehen, ohne sich zu rühren, und sah ihr wie erstarrt nach. Endlich lachte er kurz auf und zuckte die Achseln. Über die Sache war er ja nun im klaren: eigentlich hatte er hier ja nichts mehr zu suchen. Aber es überkamen ihn nun doch Schmerz und Zorn, er wußte selbst nicht, was stärker war. Er ballte die Hände zu Fäusten und trat mit dem Fuß auf. So ohnmächtig stand er dem gegenüber, – sie wollte nicht, sie wollte einfach nicht! Und wenn der Vater sie wirklich zwingen sollte, ihn zu heiraten, was war das dann für ein Glück? Gefühle lassen sich nicht zwingen.

»Äh!« Er stieß einen Stuhl, der ihm im Wege stand, wütend mit dem Fuß beiseite, daß er polternd zu Boden fiel, und ging hinaus. In der Küche fand er Frau Larsen. Er sagte ihr, daß er heute nicht länger bleiben könnte, und ging dann fort, ohne Jens und Gesine noch einmal gesehen zu haben.


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